Anzeige: |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |
17. Oktober 2014 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||
|
Wild Child:
|
Vorführungen: |
Frankreich 2003, Buch, Schnitt: Isild Le Besco, Kamera: Jowan Le Besco, mit Kolia Litscher (Romeo), Lila Salet (Launa), Cindy David (Leo), 63 Min.
Das Thema der überforderten Mütter und der in Abwesenheit dieser ihre Kindheit fristenden Nachkömmlinge ist durch Edward Bergers Jack gerade wieder präsent im Kino. Als ich Isild Le Bescos einstündiges Spielfilmdebüt Demi-Tarif erstmals bei der Französischen Filmwoche sah, waren auch einige Filme zum Thema unterwegs, und Demi-Tarif ist vermutlich nicht der »beste« Beitrag zu diesem gesellschaftlichen Phänomen, aber der filmisch interessanteste. Sowohl was die Produktion als auch, was die Rezeption angeht. Reichlich selbstbewusst übernimmt Le Besco nicht nur das Buch, sondern auch den Schnitt des Films (es zeigt sich hier schnell, dass die beiden Bereiche in diesem Fall kaum getrennt werden können), die Kamera übernimmt ihr Bruder Jowan Le Besco, und irgendwo habe ich gelesen, dass auch Kolia Litscher, der »Darsteller« einer der drei kindlichen Protagonisten, ein Halbbruder der Regisseurin sei. Die Dreharbeiten des offenbar auf einen Nachspann verzichtenden Films scheinen wie ein echtes »home movie« vonstatten gegangen zu sein. Drei Kinder im Alter von 6, 7 und 8 Jahren durchleben eine Kindheit wie ein Abenteuerspielplatz. Man sieht sie fast durchgehend in einer altersgerechten Fröhlichkeit, gerade das Element des »Schauspiels« trug wohl zur ausgelassenen Freude bei. Man verkleidet und schminkt sich, darf nachts durch die Straßen tollen, Fernsehen oder sich im Ladendiebstahl üben. Das Leben als »Schauspieler« ist fast noch eine Spur toller als das Leben als Kind.
Es ist relativ offensichtlich, dass viele der Spielszenen improvisiert wurden bzw. sich einfach aus dem Spieldrang der Kinder frei entfalteten. Der Geniestreich ist aber der Voice-Over-Kommentar. Eine weibliche Stimme (vermutlich die Regisseurin?) wird als kollektive Erzählerfigur eingesetzt, als »wir« – wie man es aus William Faulkners A Rose for Emily oder Jeffrey Eugenides The Virgin Suicides kennt. Die im Film komplett abwesende Mutter (die drei verschiedenen Väter tauchen ebenfalls nicht auf) ist nur auf der Tonebene präsent, »wir warteten auf sie« ist hier ein Dauerzustand, die Mutter taucht offenbar irgendwann »zwischen den Szenen« auf, lässt dann vermutlich auch mal Geld da oder wäscht eine Ladung Wäsche, doch im Verlauf des Films sind die Kinder immer stärker auf sich selbst gestellt, der Grad der Verwahrlosung nimmt schleichend zu, während die fröhlichen Kids sich darin üben, zu betteln, zu stehlen, die Zeche zu prellen und – quasi obligatorisch – sich ins Kino zu schummeln. Oder, um auf die spielerische Maskerade zurückzukommen: ein Kommentar wie »Wir haben uns dauernd verkleidet, um vor uns selbst zu entkommen« verändert das Gesehene eigentlich komplett.
Dass die Mutter bei den Spielszenen »unsichtbar« bleibt, muss man erstmal wahrnehmen. Erst durch den Unterschied zwischen Gesehenen und Gehörten wird aus der verantwortungslosen Täterin eine quasi-mythologische Figur, der die Kinder fast alles durchgehen lassen. Man könnte sich den Film auch mit dauerhaft weinenden Kindern vorstellen (der Vergleichsfilm wäre hier die Doku Die Kinder sind tot), aber das ist auch nicht die Geschichte, die Le Besco erzählen (oder drehen) will.
Wer im Französischen nicht supersicher ist, wird bei diesem Film bemerken, dass zwar sämtliche Voice-Over-Kommentare untertitelt sind, von den (nicht wenigen) Dialogen der Kinder aber fast nur die eine Szene, als sie ins Schulbüro beordert werden und eine besorge Pädagogin etwas gegen das »Läuseproblem« unternehmen will. Durch diese, ich sag mal »selektive« Untertitelung wird den beiden filmischen Ebenen der Erzählung eine unterschiedliche Wichtigkeit / Bedeutung zugeordnet, die die Rezeption und Interpretation unangemessen »an die Hand nimmt«. Denn eigentlich sind die spielenden Kinder für das Wirken des Films das Fundament, die Erzählerstimme könnte ohne diese Bilder gar nicht funktionieren. Oder anders ausgedrückt: der Input der drei Kinder ist genauso wichtig wie die clevere Filmemacherin, die aus diesen Fragmenten einer Kindheit einen Film bastelt, der über das Aufgezeichnete weit hinaus geht.
Aber erst durch den Kommentar und durch die (einigermaßen überschaubare) Transferleistung des Zuschauers (die Zuordnung der Stimme sollte eine Leichtigkeit sein, doch der kollektive Erzähler ist als Phänomen längst nicht jedem bekannt) erzielt der Film seine Prägnanz, wo das kindliche Spiel allein vielleicht gar nicht den Status eines »echten Films« erreichen würde. Einigermaßen gewagt ist hierbei übrigens auch der – kindlich natürliche – Umgang mit Nacktheit, was angesichts der für ihre Zeigefreudigkeit bekannten Filmemacherin auch irgendwie eine versteckte Botschaft mit sich bringt.
Vorführungen: |
Frankreich 2007, Buch: Isild Le Besco, Kamera: Jowan Le Besco, mit Kolia Litscher (Nicolas), Julie-Marie Parmentier (Charly), Jeanne Mauborgne (Alte Dame), Abdelkader Belkhodja (alter Herr), Philippe Chevassu (Lehrer), Jean-Max Causse (Autofahrer), Camille Grynko (Le motard), 95 Min.
Kolia Litscher spielt auch im zweiten Film seiner regieführenden Halbschwester eine Hauptrolle. Der zwischenzeitig erstaunlich gewachsene und noch trotziger wirkende Knabe könnte ihr Antoine Doinel werden – auch, wenn einem am Schluss des Films das Freeze-Frame am Strand (vgl.: Les quatre-cents coups) nicht gegönnt wird.
Nicolas ist ein Problemschüler, der offenbar bei seinen Großeltern lebt (auch wenn sie im Abspann »alte Dame« und »alter Herr« heißen, ist diese Annahme einfach naheliegend. Die Eltern glänzen also wieder mit Abwesenheit. Falls ich irgendwann eine Monographie über Isild Le Besco schreiben sollte, werde ich sicherlich nachforschen müssen, ob die Filmemacherin denn wenigstens eine wohlbehütete Kindheit erlebte. (Und ob der komische Fake-Trailer mit der Ratte, den man der Presse vor dem Film zeigte, womöglich tatsächlich zum Film gehört.)
Erneut spielt man mit Masken vor dem Spiegel, die betagten vermeintlichen Erziehungsberechtigten fassen ihren Status zusammen: »The car's like us, totalled, waiting for the junk yard«. Keine gute Voraussetzung für den jungen Mann und seine Zukunftschancen. (»Ein Haus ist keine Windmühle. Du kannst nicht nur zum Essen und Schlafen reinwehen!«)
Die Zukunft ist auch eines der Themen, das er mit seinem Lehrer (den er zuvor gestalkt hat? Oder nur zufällig sah?) in einem Bistro bespricht. Nicolas ist »faul wie die Hölle« und bastelt teilweise drei Fehler pro Wort in seine (vermutlich spärlichen) Schreibleistungen. Aus unerfindlichen Gründen überlässt der Lehrer Nicolas Frank Wedekinds Frühlings Erwachen nebst einer mythischen Ansichtskarte von Belle-Île, und fortan reißt der Knabe von Zuhause aus, versucht sich zum besagten Strand durchzuschlagen und liest nebenbei, wobei Wedekinds »Kindertragödie« auch ganz zu Nicolas' Gemütsfassung zu passen scheint, denn schon 1891 plagten sich die Heranwachsenden unter dem Joch der Hausarbeiten (»Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehen?« --- »Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! – Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!« --- »Verdammte Gleichungen«).
Während Nicolas frühmorgens in irgendeinem gottverlassenen Kaff herumsitzt, wird er von einem etwa gleichaltrigen Mädchen angesprochen, bei der die (wenige) Kleidung nahelegt, dass sie einer nächtlichen Beschäftigung nachging. Sie lädt sich zu ihm ein, und nach einem in seiner Komik charmanten langem Fußmarsch (ihr Stechschritt in Minirock und Fick-Mich-Stiefeln ist eine Oscarnominierung wert) treffen die beiden bei einem Trailer an, wo sie nun einige Tage zusammenleben.
Wie das Einüben von Gesprächssituationen (der böse Mann vom Jugendamt) als Rollenspiel in Demi-Tarif gestaltet sich auch das Zusammenleben von Nicolas und Charly (Julie-Marie Parmentier) wie eine Schauspiel-Übung. Denn nun kann man den Wedekind mit verteilten Rollen durchspielen, was sich zu einem Spiel mit den Bedeutungsebenen auswächst.
Viel amüsanter ist aus meiner Sicht die Beziehungskonstellation zwischen den beiden. Charly kommt meistens frühmorgens nach Hause, schläft sich dann aus, die beiden verbringen ein paar Stunden gemeinsam, ehe sie dann per Motorrad von einem ewig ihren Namen schreienden Kerl abgeholt wird und am nächsten Tag derselbe Zyklus beginnt.
Wer jetzt glaubt, es ginge in diesem Film um Sex, den muss ich stoppen. Neben Wedekind spielen die beiden eher so eine Art »Mann und Frau« auf Kinderniveau. Charly kommandiert gerne herum (»Hol Wasser! Hol Croissants! Wasch die Spüle! Wisch den Tisch!«), behandelt Nicolas wie ein Kleinkind (»Ich muss pinkeln. Musst Du auch pinkeln?«) und hat eigentlich auch immer was zum Meckern (woran Nicolas mit seiner schlurfiger Vergesslichkeit aber mitschuldig ist). Eigentlich eine sehr nervige Person, aber man ahnt halt, wie es dazu kam und fühlt mit ihr mit.
Nach und nach entwickelt sich eine gewisse Nähe zwischen den beiden, die über das sado-masochistische Rollenspiel (wie es auch in einer Wedekind-Passage zitiert wird) hinaus geht. Zum freundschaftlichen Miteinander scheint insbesondere Charly nicht fähig, nette Gesten von Nicolas tut sie zumeist barsch ab, ihr aufkeimendes Vertrauen kann sie fast nur auf über Finanzen ausdrücken, was die Konstellation der beiden wieder fernab führt. Dieser Teil des Films ist am feinsten beobachtet, doch die Dynamik zwischen den beiden kulminiert schließlich in einer drastischen Entwicklung, die das Kernstück des Films fast wieder als kleine Episode abtut.
Vorführungen: |
Frankreich 2010, Buch: Isild Le Besco, Kamera: Thomas Bataille, Nicolas Hidiroglou, Jowan Le Besco, Schnitt: Sylvie Lager, Musik: Alain Chamfort, Léonor Graser, Nils Hiron, Production Design: Laurence Vendroux, mit Valérie Nataf (Magalie Pichon), Ginger Romàn (Barbara Vidal), Noémie Le Carrer (Marie-Stéphane Pichon), Gustaver Kervern (Liebhaber), Ingrid Leduc (Bäckerin), Benjamin Le Souef (Bäcker), Alain Ollivier (Richter), François Toumarkine (Vater Pichon), Christine Pignet (Mutter Pichon), Isild Le Besco (Erzählerin), 68 Min.
Erneut sind es zwei Schwestern und eine dritte Person, die gemeinsam in einer verwahrlosten Wohnung hausen, doch diesmal ist Kolia Litscher nicht dabei und die drei sind bereits volljährig. Die Schwestern Magalie (Valérie Nataf) und Marie-Stéph (Noémie Le Carrer) leben gemeinsam mit Magalies Geliebter Barbare (Ginger Romàn), nur sind die Umgangsformen brachialer als in Demi-Tarif.
Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die Geschichte fiktiv ist, aber von einem realen Vorfall inspiriert wurden, und man ahnt schon recht schnell, dass es sich hierbei um einen Kriminalfall handeln könnte, denn das Tschechowsche Gewehr befindet sich auch in der Wohnung bei diesem Chaos à la absurdes Theater, das sowohl an den einstigen »Skandalfilm« Baise-moi als auch an die Spätwerke von Lukas Moodysson (Ett Hål i mitt hjärta, Container) erinnert. Man isst Ravioli aus der Dose (Konservernahrung ist auch so ein verbindendes Glied im Le-Besco-Œuvre), schaut Pornos und schreit sich oft lauthals mit unflätigen Ausdrücken an (wobei der Dialog durch seine Wiederholungsrhythmen teilweise fast wie ein widerborstiges Gedicht wirkt). Hierbei gibt es mit Magalie eine Art »Herrin«, um dessen Gunst die anderen zwei eifersüchtig kämpfen. Doch Marie-Stéph (ich war mir irgendwie sicher, dass ich die Darstellerin irgendwoher kannte, doch es sind allesamt unbekannte Laien) besorgt sich mit ausgeliehenem Gewehr einen Hund als Liebesersatz.
Um das Publikum gleich mal darauf vorzubereiten, dass dieser Film es überfordern könnte, gibt es außerdem eine Toilettenszene (Le-Besco-Markenzeichen), bei der die eine quasi einer in Lache menstrualem Blutes hockt, um dann auch noch mit einer Spiegelscherbe herumzuspielen. Es wird bös enden …
Ähnlich wie in Demi-Tarif gibt es auch diesmal einen (poetisch anmutenden) wiederkehrenden Voice-Over-Kommentar, der zumeist zu Kameraeinstellungen vom Himmel oder Lichtbrechungen in Pfützen und anderen Gewässern quasi-religiöse Sentenzen und Eingebungen von sich gibt.
Dann kommt es zu einer Zäsur, als man nach der Feststellung »Bier und Fusel sind alle!« auf einen nächtlichen Trip aufbricht und eine Bäckerin, die dusselig genug ist, den seltsamen Gestalten trotz Ladenschluss die Tür zu öffnen. Hier gebierdet man sich wie sonst in der Wohnung – asozial und unhygienisch – und demonstriert reichlich Zerstörungswut, was durch die Feuerwaffe und den Mann der Bäckerin schnell zu heruntergelassenen Hosen und einen eher unbeabsichtigten Schuss führt, der aus den abstrusen Handlungsfragmenten nun eine echte Räubergeschichte macht.
Der (laut Filmtitel) »Kaffeesatz der Gesellschaft« wird in diesem Film neugierig betrachtet. Die zweite Hälfte des Films teilt sich auf in eine zunehmende Verwahrlosung, bei der ich irgendwann das Gefühl hatte, dass die durch den Todesfall apathisch gewordene Magalie vielleicht schon eine Halluzination ihrer Schwester Marie-Stèph ist, so wie einige Vorgänge in Polanskis Repulsion oder Gilliams Tideland. Ganze Szenen lang liegt Magalie da wie eine Leiche, nur ab und zu lässt sie sich zu kleinen Gesten bewegen. Zur selben Zeit emanzipiert sich Barbara etwas vom Trio und beginnt eine Affäre, bei der ich mir nicht sicher wahr, ob sie jetzt bei Tippelbrüdern anschaffen geht (Bezahlung = rosa Zuckerwatte?) oder tatsächlich irgendetwas an einem seltsamen Vollbartfuzzi findet. Na gut, wenn man weiß, aus was für einer Beziehung sie durch diese Grenzüberschreitungen auszubrechen versucht, ist vermutlich fast alles eine Verbesserung.
Dann kommt es zu einer Polizei-Razzia (von den Details mag man sich selbst überraschen lassen) und dem tragischen Teil des Films: Knastalltag und Gerichtsverhandlungen, dazu die Kommentare der Eltern (diesmal erstmals präsent, aber nicht unbedingt eine Verbesserung). Spätestens jetzt merkt man, dass die Voice-Over-Passagen wohl mit der im Knast gefundenen Religiösität Barbaras zusammenhängen, die nun irgendwie zur Hauptfigur des Gerichtsfalls (und damit des Films) wird, die sozusagen in die »Fänge« der seltsamen Schwestern fiel. Okay, Magali hat echt Probleme (sie ist in ihrer Unfähigkeit zu »normaler« Liebe noch krasser als Charly), und Marie-Stèph ist in ihrer infantil-debilen Art wirklich besorgniserregend, aber dass Barbara jetzt ein eigentlich »durchschnittliches« Mädchen ist, dass durch unerwartete sexuelle Hörigkeit quasi unschuldig in das Tötungsdelikt verwickelt wurde, glaube ich ebenso wenig wie die allzu religiösen Auswüchse gegen Ende des Films. Aber dennoch ist auch dieser Film kraftvoller und interessanter als das meiste, was man sonst so im Kino sieht.
Und die drei Filme als »Trilogie« machen wirklich Lust auf mehr Isild Le Besco. Auch, weil ihre Rollen als Schauspielerin sie ebenfalls zu repräsentieren scheinen, abgesehen von der Synchronleistung in der Kinderanimation U habe ich bei ihr eigentlich immer das Gefühl, dass die Regisseure gar nicht eine Figur wollen, die möglichst weit weg ist von der Darstellerin (etwa eine bebrillte Anwältin oder irgendein Personal aus einer Romantic Comedy), sondern sie eigentlich ihre Filme durch den wilden Geist der Darstellerin »veredeln« wollen. Und sie sucht sich ihre Rollen wohl auch ganz gezielt aus, hätte vermutlich längst reich und/oder berühmt sein können (ich habe sie mal irgendwann als »französische Scarlett Johansson« bezeichnet), doch weder will sie das noch will man als Teil ihres Fankreises auf die typische Isild verzichten …
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |