The Forbidden Room
(Guy Maddin & Evan Johnson, Forum)
Kanada 2015, Buch: Guy Maddin, Evan Johnson, Robert Kotyk, John Ashbery, Kim Morgan, Kamera: Stéphanie Anne Weber Biron, Benjamin Kasulke, Schnitt: John Gurdebeke, Musik: Galen Johnson, Guy Maddin, Jason Staczek, Kostüme: Julie Charland, Elodie Mard-Pasqualini, Yso South, Production Design, Title Design: Galen Johnson, Art Direction: Brigitte Henry, Chris Lavis, Maciek Szczerbowski, Colour &: Effects: Evan Johnson, Galen Johnson, Roy Dupuis (Cesare), Clara Furey (Margot), Louis Negin (Marv / Smithy / Mars / Organizer / Mr. Lanyon), Udo Kier (Count Yugh / The Butler / The Dead Father / Guard / Pharmacist), Gregory Hlady (Jarvis / Dr. Deane / A Husband), Noel Burton (Wolf / Pilot / The Captain), Mathieu Amalric (Thadeusz M___ / Ostler), Geraldine Chaplin (The Master Passion / Nursemaid / Aunt Chance), Paul Ahmarani (Dr. Deng / Speedy), Caroline Dhavernas (Gong), Jacques Nolot (Bent / Minister of the Interior), Slimane Dazi (Baron Pappenheim), Maria de Medeiros (The Blind Mother / Clotilde), Charlotte Rampling (The Ostler's Mother), Victor Andrés Trelles Turgeon (Saplingjack 1 / Listening Man / Pancho), Andreas Apergis (Dr. Warren), Sophie Desmarais (Jane Lanyon), Ariane Labed (Alicia Warlock / The Chambermaid), Karine Vanasse (Florence Labadie), Romano Orzari (Squid Thief / Madman / Dr. Moarte-Joc), Alex Bisping (Harlan), Kent McQuaid (Mason), Neil Napier (Man with Stones on His Feet), Kyle Gatehouse (Saplingjack 2 / Man with Upturned Face), André Wilms (Surgeon), Céline Bonnier (Eve), Victoria Diamond, Mistaya Hemingway, Mathilda Ekoe (Woman Skeletons), Sienna Mazzone (Inner Child), Vasco Bailly-Gentaud (The Boy), Éric Robidoux (Xiao), Amira Casar (Mrs. M___), Jean-François Stévenin (The Doctor), Kathia Rock (A Mother), Elina Löwensohn (Sister), 128 Min.
Bildmaterial © Galen Johnson
Der Kanadier Guy Maddin ist jemand, der das Forum immer wieder durch seine Filme veredelt und sich mittlerweile eine feste Anhängerschaft erarbeitet hat. In seinem neuen Film bleibt er nicht nur seinen Lieblingsthemen treu, sondern vertieft seine alptraumhafte Obsession mit der Filmgeschichte noch. Mit einem Co-Regisseur und anderen fleißigen Mitarbeitern hat er diesmal ein narratives Geflecht aus vermeintlichen Stummfilmentdeckungen geschaffen, dass natürlich von vorn bis hinten einfallsreicher Fake ist, aber davon zeugt, dass man sich viel Mühe gegeben hat, typische Themen von der Stummfilmzeit bis etwa zu den 1950ern innovativ zu variieren und miteinender zu vermengen. So beginnt der Film mit Marv, einer Art schmerbäuchigem Hugh Hefner im seidenen Bademantel (Louis Negin), der das Publikum (insbesondere das hygieneresistente US-amerikanische) über die Feinheiten und Geschichte des Seifenbades informiert. Teilweise fast dokumentarisch, dann aber wieder mit Anzüglichkeiten, nacktem Fleisch und Herrenwitzen (»What's the difference between a woman sitting in a bath and a woman sitting in a church?« – »The one in the church has a soul full of hope ...«). Von diesem seltsamen Start geht es zur hochdramatischen Geschichte einer U-Boot-Besetzung, die nicht auftauchen kann, ohne eine nur durch den Druck zurückgehaltene Sprengstoffladung zu entzünden (»depressurized blasting jelly« heißt das im altmodischen Technobabble). Während die Atemluft langsam ausgeht und man sich nur durch die Lufttaschen einiger »flapjacks« (Pfannkuchen) am Leben halten kann, taucht unerklärterweise im U-Boot ein Förster namens Cesare (Roy Dupuis) auf, der eigentlich eine Frau namens Margot (Clara Furey) retten will, die irgendwie in der Gewalt der »roten Wölfe« zu stecken scheint (»in the blackest part of Holstein-Schleswig«). Diese Margot ist aber auch der Star eines zweiten Films, wo sie innerhalb eines Cabaret-Ambientes das Opfer eines Gedächtnisschwundes ist ... undsoweiter. Gut ein Dutzend filmischer Kleinode finden sich in einer verschachtelten Narration wieder, wobei sich der jeweilige Look durch liebevolle aber nicht superteure Farb- und sonstige Bearbeitung manchmal sehr unterscheidet. Hierbei genügen der viragierte »Look« und die Verschleißspuren das angeblich halbzerstörten Filmmaterials zwar nicht dem gestrengen Look eines informierten Puristen (man arbeitet offensichtlich mit Computern und einigen Morphing-Effekten), aber ähnlich wie beim Grindhouse-Double-Feature von Tarantino und Rodriguez verschmelzen hier Form und Inhalt und das Filmerlebnis wird dadurch intensiviert.
Bildmaterial © Galen Johnson
Maddin-Filme haben ja immer auch eine surreale Traumhaftigkeit und laden durch Reizeffekte, Soundtrack und sparsame Dialoge geradezu zum leichten Schlummern ein (insbesondere, wenn man sie wie ich immer in der durch Schlafdefizite gekennzeichneten Berlinale-Zeit sieht), aber in diesem Fall war ich in dem über zwei Stunden langen Film so fasziniert, dass ich sogar meine Pinkelpause ausfallen ließ, weil ich einfach nichts verpassen wollte. Und der Film hatte – vermutlich auch durch sein Autorenkollektiv – so viele tolle Ideen, dass es beispielhaft unterhaltsame Stunden wurden. Einige meiner Favoriten (den Rest dieses langen Absatzes evtl. lieber erst nach dem Film lesen): Die »ordeals«, die Cesare über sich ergehen lassen muss, um den roten Wölfen beizutreten: »finger snipping«, »offal piling« und »bladder slapping«; der wilde Tanz von Margot, amnesiac; der Einsatz von Filmprojektionen innerhalb des Films; der erste Gastauftritt von Geraldine Chaplin, deren Nachname dem Film schon eine Menge Authentizität verleiht; der 1980er-Videoclip-mäßige Einsatz des Songs »Another derríere« von den Sparks; Udo Kier »plagued by bottoms«; die manischen Motorradfahrten; die »woman skeletons«, eine Variante der Bräute Draculas; das suspekte Berufsfeld des »Zugpsychologen«, bei der man tatsächlich seinem »inner child« gegenüber steht; »Urina Uxoris«; die Geräusche einer Knochenoperation; verdammenswerte Verbrechen wie »squid theft« und Versicherungsbetrug; Vulkanträume (»dream the molten dream of justice!«); eine romantische Parkbank; eine Mr. Hyde-Geschichte um eine Janus-Büste; die zahlreichen auf den Filmtitel verweisenden Räume im U-Boot; die lachhaften Miniaturen einige Fluggeräte; the captain's mother; wie Cesare ähnlich wie Dorothy im Wizard of Oz Weggefährten einsammelt (wovon einer für 20 bis 30 Minuten mal eben eine neue Nebenhandlung wiedererzählt); Aswang Banana; der lang hingezogene Klamottentausch zwischen Mathieu Amalric und dem (zwischenzeitig toten) Udo Kier); Der Schnurrbart als Nonplusultra des »identity theft«; Taking Father's Place und eine unglaublich ahnungslose Maria de Medeiros; die Sexualisierung der Höhle der Wölfe: »penetrating the deep pink of the cave«; die Bombardierung einer Insel, die wie ein riesiges Hirn aussieht; und natürlich die Montagesequenz kurz vor Schluss, mit unzähligen Cliffhangers, kollidierenden Zeppelinen, Kussszenen und einer überlangen Hitchcock-Hommage.
Bildmaterial © Galen Johnson
Irgendwann heißt es mal im Film: »No more talking, just breathing« – und das fasst es eigentlich gut zusammen, denn hier »atmet« man wirklich das Medium Film – und es erweist sich dabei als so lebensrettend wie ein »flapjack«.