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23. Februar 2015 | Thomas Vorwerk für satt.org | |||
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Die australische Dokumentarfilmerin Kitty Green hatte etwas Zeit, die Ukraine kennenzulernen und kam auf eine genialische Idee, etwas über das Land auszusagen. Sechs Mädchen bei einem Casting, das nicht so läuft wie typische Castings. Besonders auffällig: sie sind alle mit Make-Up aufgebrezelt und tragen aufwendige Paillettenkleider. In den Probeaufnahmen geht es um eine zentrale Szene mit der Olympia-Gewinnerin Oksana Bajul, die 1994 mit 16 das »Gesicht der Nation« war. Sie bekommt ein paar Blumen und Kuscheltiere in die Hand gedrückt und bedankt sich unter Freudentränen. Auf dem Weg zu dieser Aufnahme werden die Darstellerinnen (vermeintlich) befragt und vorbereitet. Was sie selbst für Wünsche und Träume haben, bei welcher Gelegenheit sie selbst zuletzt geweint haben (um für die schauspielerische Darbietung Tränen evozieren zu können). Der kurze Film zeigt diese Castingaufnahmen kommentarlos und hat beim Zeigen zumindest einen Mädchens, das nicht mehr nur gespielte Freudentränen laufen lässt (zu dumm, dass sie sich für einen ganz anderen Film bemühen, als sie denken), das ungewollte Glück im Unglück, dass die Dreharbeiten am Tag nach dem Flugzeugabschuss stattfanden, wo die Emotionalität im Lande ohnehin bloßgelegt war.
Zugegeben, man benötigt dafür, dass man wirklich begreift, was im Film vorgeht, ein bisschen Hintergrundwissen (ich wüsste ja nicht mal mehr, welche deutschen Athleten vor 20 Jahren bei olympischen Spielen angesagt waren), aber auch losgelöst davon entwickeln die Aufnahmen eine Intensität, die eben vom Konflikt zwischen Schein und Sein, zwischen Schauspiel und persönlichem Seelenzustand entsteht. Wobei es auch unterhaltsame Momente gibt, etwa wenn das eine Mädchen erklärt, dass sie gar kein Filmstar werden will, weil sie keine Lust hätte auf den Klatsch und die Paparazzi.
Und auch, wenn die Vorgehensweise der Regisseurin etwas hinterhältig ist, es geschieht ja für einen guten Zweck: In Dokus wird es ja öfters mal darauf angelegt, Emotionalität zu erzeugen, und so gut wie hier klappt das selten. Und der zweideutige Filmtitel, der auch der einer Castingshow sein könnte, passt ebenfalls.
Argentinien 2014, Intern. Titel: Videogames, Buch: Virginia Roffo, Kamera: Diego Saguí, Schnitt: Sebastián Agulló, Musik: Guazuncho, mit Nina Suaréz (Rocio), Violeta Soto (Melina), Mora Arenillas (Solana), Paloma Urquiza (Valeria), Jorge Suh (Coreano), Fabián Arenillas (Carlos), 18 Min.
Eine Mädchenfreundschaft zerbricht an der Schwelle zur Pubertät. Rocio fällt auf, dass der Betreiber einer Videospielarkade der Freundin immer in den Ausschnitt linst. Und diese dies durchaus ausnutzt. Dann taucht im Zusammenhang mit einem neu aufgestellten Gerät (bei dem man über Fußtasten Tanzbewegungen einbringen muss) ein 17jähriger auf, und auch für den interessiert sich Melina zu sehr. Dass die beiden Mädchen sich erst vor kurzem gegenseitig Freundschaftsbänder gebastelt haben, scheint plötzlich keine Bedeutung mehr zu spielen, ein kleines subtiles Eifersuchtsdrama spielt sich am, bei dem Rocio plötzlich ihre Frustration in Taten ausarten lässt, während Melina vermutlich nicht einmal kapiert, was hier vorgeht.
Bildmaterial © Diego Saguí
Ziemlich großartig, wie hier die Atmosphäre von Liebeskummer aufgebaut wird, wie unklar bleibt, ob die Mädchenfreundschaft zumindest für Rocia etwas mehr bedeuten könnte – und das Ganze eher wie nebenbei vermittelt wird, zwei bis vier Mädels nur vor der Spielhölle abhängen, rauchen und verjagt werden, aber auch der um einiges ältere Betreiber Carlos außerstande ist, klare Zeichen zu geben. Carlos Blick auf den Ausschnitt wird übrigens durch eine Kamerabewegung umgesetzt, die sich erst im Nachhinein als subjektiv offenbart – und übrigens reichlich harmlos bleibt. Aber diese fast unbewusst wahrgenommene Bewegung steht für die immense Subtilität des Films, der spätere Moment, wo das Freundschaftsband zerrissen wird, wirkt verglichen damit viel durchexerzierter, man ahnt quasi, dass es Take 8 oder so gewesen sein muss. Aber selbst noch dieser Moment wirkt, auch wenn er von langer Hand vorbereitet ist, wo man zu Beginn noch gar nicht genau weiß, worum es eigentlich geht.
Niederlande 2014, Dt. Titel: Giovanni und das Wasserballett, Buch: Astrid Bussink, Kamera: Diderik Evers, Dirk-Jan Kerkkamp, Sal Kroonenberg, Schnitt: Femke Klein Obbink, mit Giovanni van der Zon und Kim Twigt, 17 Min.
In diesem Fall war ich mir bis zum Gespräch nach dem Film nicht sicher, ob es sich um einen Dokumentarfilm handelt, so clever war die »Inszenierung«. Schon in der Anfangssequenz, als man Giovanni in leichter Zeitlupe und mit triumphaler Musik erlebt, wirkt der Film gar nicht wie eine Doku, und auch Giovannis Statements im Verlauf des Films könnten auch aus einem Drehbuch stammen. Unterhaltsam genug sind sie allemal.
Der mit seinen zehn Jahren kurz vor der Pubertät stehende Giovanni hat es sich in den Kopf gesetzt, der erste männliche Synchronschwimmer zu werden, der bei den holländischen Meisterschaften teilnimmt. Man könnte jetzt annehmen, dass es im Film um ein Verhalten gegen die Geschlechterrollen und Giovannis nicht norm-konforme sexuelle Entwicklung geht (vgl. Billy Elliott), doch Giovanni ist durchaus sehr an Mädchen interessiert (hin und wieder wird er sogar ermahnt, sich mehr zu konzentrieren statt die Teamkameradinnen unter Wasser zu beobachten), er hat sogar eine Freundin, Kim, die sehr stolz auf ihn und sein Ziel ist. Das Thema des Films ist natürlich vor allem das Synchronschwimmen, das, so erklärt uns Giovanni bereitwillig, ursprünglich mal eine Männerdisziplin war, die dann von den Damen »übernommen« wurde. Das Gleichberechtigungsproblem wird hier mal auf den Kopf gestellt und wie in einem lupenreinen Sportfilm geht es um eine Hürde, die genommen werden muss, ein von einem Gremium verliehenes Diplom, das die Teilnahme ermöglicht.
Doch mindestens genau so spannend ist die Beziehung zwischen Giovanni und Kim, die Gespräche der beiden und die Entwicklung dieses (sehr harmlosen) »Miteinander-Gehens«, bei dem die Regeln nicht wirklich abgesteckt sind, Giovanni ganz entspannt davon erzählt, welche anderen Mädchen er noch toll findet (»Willst du was mit Delphina anfangen?« --- »Jetzt? Nee, erst nach dir?«) und die kleine, aber sehr erwachsen wirkende Überraschung am Schluss.
Schweiz 2014, Dt. Titel: Kacey Mottet Klein, Anfänge eines Schauspielers, Buch: Ursula Meier, Antoin Jaccoud, Kamera: Agnès Godard, Schnitt: Julie Brenta, Musik: John Parish, Catherine Graindorge, mit Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux, Isabelle Huppert, Olivier Gourmet (sie selbst), Ursula Meier (Stimme) und anderen, 14 Min.
Als fleißiger Berlinale-Gänger konnte ich mich an den kleinen Kacey Mottet Klein aus L'enfant d'en haut (Wettbewerb 2012, auch bekannt unter den Titeln Sister und Winterdieb) noch gut erinnern. Dass er auch in Ursula Meiers früherem Film Home (2008) bereits mitspielte, war mir aber nicht bewusst gewesen.
Für eine Reihe von kleinen Lektionen über das Filmemachen, speziell für Kinder (Titel: »Magische Laterne« oder so ähnlich), hatte die Schweizer Regisseurin das alte Material noch mal vorgekramt (größtenteils Outtakes, bei denen man sie immer wieder aus dem Off hört, wie sie Kacey »führt«) und ließ es vom wie einst Jean-Pierre Léaud mit dem Kino aufgewachsenen Kacey kommentieren. Der schon erstaunliche Einblicke in seinen Job formuliert. Den Gesamteindruck des Films noch verstärkt hat der reale Auftritt des Titelhelden, der inzwischen vermutlich so 17 sein muss und inmitten der unzähligen Teammitglieder aus anderen Kurzfilmen in seinem schnieken Anzug ein wenig gelangweilt wirkt (bei seinem letzten Berlinale-Auftritt bekam er wohl sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Fragen).
Nicht nur für Kinder ein interessanter Blick hinter die Kulissen. Und auf jene Magie des Kinos, die im letzten Berlinale-Jahrgang durch Boyhood verdeutlicht wurde.
Deutschland 2015, Buch: Till Novak, Kamera: Ivan Robles Mendoza, Schnitt: Till Novak, Philipp Hahn, Musik: Olaf Taranczewski, Frank Zerban, Animation: Till Novak, Malte Lauinger, mit Roland Schupp (Pianist), Nina Petri (Mutter), Hannah Heine (Tochter), Mirko Thiele (Erzähler), Klaus Zehrfeld (Arzt), 17 Min.
»Papa, wo bist du?« In Dissonance geht es um einen verschwundenen Vater, der innerhalb des Films in zwei Realitätsebenen auftritt, die rein visuell gesehen großartig miteinander verwoben sind. In der einen Ebene arbeitet man mit Computeranimation. Der Pianist und Vater spielt auf einem Instrument, das einem Füllhorn, einem perpetuum mobile oder einer Möbiusschleife gleicht: Die Tasten befinden sich innen auf einer sich unaufhaltsam drehenden Walze, der Klavierspieler verkörpert entsprechend ein anhaltendes Verlangen zu spielen – und sieht dabei aus wie eine Mischung aus Herbert von Karajan und Dustin Hoffman. In den Live-Action-Szenen sieht man die Tochter des Pianisten, die nun allein mit der Mutter (Nina Petri) lebt, während der Vater (Roland Schupp), vermutlich Opfer einer Psychose, immer wieder wie ein heruntergekommener Leiherkastenmann vor der ehemals gemeinsamen Wohnung auftaucht. Man weiß als Zuschauer genauso wenig wie die Tochter, ob man zum Vater halten soll, der sich schon wieder fangen wird, oder ob die Mutter recht hat, die (wenn auch schweren Herzens) Abstand halten will und für die Tochter und die Zukunft da sein will.
Sehr interessant ist bei diesem Film, dass mich weder der Live-Action-Teil mit teilweise etwas platten Dialogen komplett überzeugt hat noch der animierte Teil. Aber da, wo diese beiden Welten aufeinandertreffen, da entwickelt der Film seinen Reiz. Wenn der »reale« Vater an einem Fenster vorbei geht, sieht man darin den animierten und umgekehrt. Eine ganz normale Berliner Straßenecke wirkt plötzlich wie eine in der Auflösung begriffene Scheinwelt und gerade die so bombastische Walze hat eine ganz bescheidene Entsprechung in der anderen Realitätsebene. Als hätte man Inception und Up gemeinsam in einen Mixer gesteckt und das Ergebnis wirkt in 17 Minuten und mit geringem Budget zumindest besser durchdacht (bis auf einige Dialoge) als Christopher Nolans Multi-Millionen-Dollar-Blendwerk. Solange ein Regisseur eine Vision hat und sie auch umsetzen kann, sieht man auch gerne
Ecken und Kanten.
Australien 2014, Animation Director: Chris Breeze, Buch: Del Kathryn Barton, Brendan Fletcher, Lit. Vorlage: Oscar Wilde, Kamera: Ben Shirley, Schnitt: Mark Bennett, Musik: Sarah Blasko, mit den Originalstimmen von Mia Wasikowska (The Nightingale), Geoffrey Rush (The Oak Tree) Benedict Samuel (The Student) David Wenham (The Red Rose), Sophie Lowe (The Professor's Daughter), Joshua Brennan (The Little Green Lizard), Arella Plater (The White Rose), Kell Plater (The Yellow Rose), Remy Hii (The Flying Snake Baby), 14 Min.
Eine bereits in Buchform vorliegende Adaption des bekannten Märchens von Oscar Wilde, mit Bildern von Del Kathryn Barton, wurde hier noch animiert, und im Normalfall bin ich kein Fan davon graphische Erzählformen 1:1 in Bewegtbilder umzusetzen. Doch zum einen ist die Animation so absichtlich holprig, dass man eigentlich (so ist meine Annahme) das Buch fast so erlebt, als würde man es durchblättern ... und der große Unterschied besteht nicht darin, dass sich die Bilder bewegen, sondern in der Tonebene. Nicht nur die prominenten und gut abgestimmten Stimmen, sondern auch der Soundtrack gibt der Geschichte zusätzliche Impulse.
Ich muss aber zugeben, dass die zugrundeliegenden Illustrationen teilweise schon extrem clever sind. Der Student sieht aus wie ein magersüchtiger androgyner 21jähriger (ich musste immer an den Suede-Sänger Brett Anderson denken), und das Opfer der Nachtigall wirkt hier noch teurer, weil sie mit ziemlich perfekten weiblichen Brüsten versehen ist (der Rest ist typisch Vogel), in den sie dann den Stachel der Rose immer wieder sticht – und spätestens beim leisen Stöhnen wird die Penetrationsallegorie überdeutlich.
Großartige Story, clevere Illustrationen, tolle Tonebene und eine Animation, die immerhin nichts kaputt macht.
USA / Deutschland 2014, Buch: Matt Porterfield, Kamera: Jenny Lou Ziegel, Schnitt: Amanda Larson, mit Hannah Gross (Lilly), Jean-Christoph Folly (Bastien), Angela Schanelec (Angela), Matt Hand, Tina Pfurr, Sharon Smith, Laura Tonke, Bastian Trost, Simon Will, Sebastian Bark (Gob Squad), 30 Min.
Matt Porterfield hat vor zwei Jahren mit I used to be darker einen der stärksten Forumsbeiträge geliefert (sein Putty Hill von 2010 hatte mich nicht so überzeugt), und sein halbstündiger, in Deutschland entstandener Kurzfilm hat nicht nur einen ähnlichen Tonfall, sondern stellt auch Hannah Gross, damals eher eine Nebendarstellerin, ins Zentrum. Abermals geht es um jemand »zugereisten«, Lilly findet Unterschlupf in einer Wohnung, man erfährt ganz minimalistisch etwas über die Zusammenhänge, fast scheint es so, als spiele die Ausstattung eine weitaus größere Rolle als die Figuren und ihre Dialoge. Pockennarbige Wände entwickeln eine seltsame Synergie mit einem Brandmal, das Lilly unter ihrer Brust hat. Filme von Angela Schanelec, die hier eine kleine Rolle spielt, sind verglichen damit voll von Handlung und Action.
Bildmaterial © Iris Janke
Nach einer zunächst kryptisch wirkenden Textabsprache folgt im Zentrum des Films eine lange Einstellung, in der – bei Porterfield obligatorisch – Musik eine große Rolle spielt. Man sieht einen kleinen Gymnastikraum, hinten links steht ein Mann mit einer kleinen Anlage, sieben Personen tanzen zur Musik oder nicht. Zwischendurch geht einer oder eine von ihnen zu einem Mikro das vorne mittig im Bild liegt und sagt etwas wie »we drink too much« oder »we think too much«. Und jeder Zuschauer kann selbst entscheiden, wann er merkt, dass immer nur diejenigen tanzen, die sich zu der im Statement beschriebenen Gruppe dazuzählen. Diese Szene ist gefühlt 10 – 12 Minuten lang und zwar eher ein Happening, bei dem man mitmachen will als hohe Filmkunst – aber man erfährt dabei erstaunlich viel über die Figuren, die mit Ausnahme von Lilly im Film nicht wieder auftauchen. »We once slept with someone only because the person was famous« sagt beispielsweise Laura Tonke – und sie ist danach die einzige, die ziemlich expressiv tanzt. Noch dazu zu Moonlight Shadow von Mike Oldfield. Wie gesagt, da würde man gerne mitmachen, und wenn der ganze Film so abgelaufen wäre, hätte ich mich auch nicht beschwert (zumindest nicht bei 30 Minuten).
Clever ist dabei natürlich auch, wie die einzelnen Statements subtil aufeinander aufbauen: »we don't understand the conflict in the Iraq«, »we have never seen a dead body«, »we don't care what happens with our body when we die«. Movie magic in miniature!
Finnland 2015, Intern. Titel: Reunion, Buch: Iddo Soskolne, Janne Reinikainen, Kamera: Teppo Högman, Schnitt: Jussi Rautaniemi, Musik: Markku Kanerva, Pessi Levanto, mit Selma af Schultén (Anja), Janne Reinikainen (Jorma), Riitta Havukainen), 15 Min.
Wenn man Neil Gaimans Comics mit der liebenswerten Goth Chick namens Death mag, oder Stewart O'Nan zu Halloween spielenden Roman Night Country, dann ist man dieser Reunion vermutlich sofort verfallen. Die angeblich 12jährige Anja (Selma af Schultén) erzählt aus dem Off davon, dass sie in ihrem Heimatort jeden kennt. Die haben alle witzige Namen (Finnen halt) und teilen das Schicksal, dass sie sterben werden. Ein seltsamer Tonfall, der hier eingeschlagen wird. Dann erzählt Anja von ihrem Bruder, der morgen an einem Herzinfarkt sterben wird, und sie freut sich schon darauf. Offenbar kann sie irgendwie in die Zukunft sehen. Alles sehr rätselhaft.
Dann steigt sie ins Auto zu einer Frau, die man zunächst für ihre Mutter hält. Doch irgendwas stimmt nicht. Ehe man aber als Zuschauer sicher ist, was hier gerade abläuft, gibt es einen drastischen Autounfall, und man erfährt Anjas Berufung: »I escort the dead to the afterlife«.
Bildmaterial © Jon Grönvall
Soweit alles ziemlich ähnlich wie bei Gaiman, und auch der optimistische tröstende Tonfall des Mädchens entspricht dem der Comicfigur. Ein deutlicher Unterschied ist aber, dass sie das erst seit 30 Jahren macht (in ihrem unveränderten Kinderzimmer hängt u.a. ein Plakat von E.T. – The Extra-Terrestrial) und sie vor allem auf das Wiedersehen mit ihrem Bruder wartet.
Dieser wollte damals schon mal Selbstmord begehen (ich lasse hier mit Absicht einige Zusammenhänge aus), hat es sich dann aber anders überlegt: »Jorma realized death is the easy way out. An escape, not a punishment.«
Der ganze Film hat ein trauriges Thema und einen dazu passenden Tonfall, bringt aber dennoch Humor und Lebensfreude mit sich. Besonders clever: als der Film eigentlich schon vorbei ist, funktioniert der Nachspann – quasi als Visualisierung der im Tod wiedervereinigten Geschwister – wie anderswo die Outtakes, die Pannen bei den Dreharbeiten. Die Gravitas wird zur leichtfüßigen Ballerina. Doch die Abspannszenen sind allesamt Effectshots, die vermutlich einen nicht geringen Teil des Budgets verschlungen haben. Denn der Abspann ist sozusagen das »Afterlife« des Films, ein echtes Happy-End. Sehr nett umgesetzt!
Griechenland / USA 2014, Buch: Tomas Vengris, Emma Doxiadi, Kamera: Anthony Konce, Schnitt: Tomas Vengris, Stephen Saluisbury, mit Emma Doxiadi (Squirrel), Stephen Nathaniel Jean (Cat), Andrius Morrison (Mann), 7 Min.
Eine Mädchenstimme erzählt von ihrem »boyfriend«, dessen Ansichten und Vorlieben, aber auch von ihrem Freundeskreis. Der besondere Kniff bei dem Film ist, dass Ton- und Bildebene einerseits weit auseinanderklaffen (man sieht beispielsweise eine Katze, die an einem toten Kaninchen »knabbert«), sich aber gleichzeitig auch narrativ unterstützen, denn erst dadurch, dass man die zwei Erzählebenen zusammenbringt, entsteht die eigentliche, ganz sicher nicht Kplus-taugliche Geschichte.
Bildmaterial © Anthony Konce
Mindestens genau so traurig wie das junge Mädchen, das da in knappen Hotpants fremde Männer anspricht, ist aber ihr Dialog (und die Darstellerin ist hier auch Ko-Autorin, was dem ganzen etwas Semidokumentarisches verleiht, zu dem auch die Bilder passen). »He likes to hear me moan, he likes all sorts of weird things.« Manchmal klingt diese Stimme etwas naiv, aber eben nicht immer. Der eine Satz, den ich sehr vielsagend fand, war »He said he didn't mind waitin« – und man weiß, da wird ein »but« folgen, das diese Aussage ... um es euphemistisch zu sagen ... »relativieren« wird. Die ca. zwei bis drei Sekunden, bis dieses »but« folgt, waren für mich niederschmetternd und schlimmer als der deutliche Hinweis auf Prostitution oder der Killerinstinct der Katze. Denn man hängt an ihren Lippen und hofft, dass irgendetwas anderes kommt als das, was man erwartet ...
Die erst im Nachspann erwähnte Benennung des Mädchens als »Squirrel« und einer anderen Figur als »Cat« legen nahe, dass das vielleicht auch gar kein Kaninchen, sondern ein Eichhörnchen war, was dem ganzen eine etwas platte Symbolik aufdrückt, aber ich habe mich entschieden, das zu übersehen.
Frankreich 2014, Buch: Ben Adler, Acim Vasic, Kamera: Julien Roux, Angelos Angelides, mit Conner Chapman (Sohn), Stuart McQuarrie (Vater), Ben Batt (Ross), Tom Morton (Mark), 14 Min.
In diesem französischen Film, der in Frankreich spielt, aber fast nur unter Engländern, geht es um David, der mit seinem Vater zu einem Fußball-Länderspiel nach Paris fährt. David wäre lieber in einem Bus mit anderen Fans gefahren, weil er u.a. nicht auf die klassische Musik im Auto des Vaters und dessen Tendenz, ihm nebenbei etwas beizubringen (Mathe, Geschichte), steht. Dann kommt es zu einer Reifenpanne und beiden wird von einem auf der selben Raststätte befindlichen Fan-Bus angeboten, mitzukommen. Aber der ziemlich stocksteife Vater will nicht einfach das Auto zurücklassen. Davids Reaktion: »So it's the car over me?«.
Bildmaterial © Fluxus Films
Der gemeinsame Verbleib mit den Englandfans, die eher als sein Vater ein Vorbild für David abgeben, wird zu leichten, zunehmend eskalierenden Konfliktsituationen. In der Gruppe gängelt man einige »Feinde«, also Franzosen, will sogar eine Flagge verbrennen. Und während David sich in den Bus schleicht und sein vielleicht erstes Dosenbier wegzischt, bleibt dem Vater die Zivilcourage und sein Vorbildverhalten im Halse stecken ...
Bemerkenswert an dem Film ist, wie ich an der eigenen Person miterleben konnte, wie die zunächst harmlosen Späße der Engländer mich noch erheiterten, ich David Zugehörigkeitswunsch nachvollziehen konnte, dann das Ganze aber langsam ins Rutschen gerät. Wenn sein Vater schließlich mutig einschreitet und zu seinen vermeintlich hipperen Landsleuten sagt »Patriotic? You don't even know the meaning of the word!«, dann ist man ähnlich wie später David etwas zerrissen, denn einerseits ist das Verhaltend er Jungs längst nicht mehr witzig, andererseits muss man befürchten, dass Davids Vater jetzt tatsächlich mit einem etymologischen Kurzvortrag kommen könnte, was in diesem Kontext dann doch irgendwie sehr peinlich werden würde. Der Film verdeutlicht sehr schön und unterschwellig, dass man selbst mit den besten Absichten in der Erziehung auf die Nase fliegt, wenn das Alter von Eigenständigkeit und Rebellion erreicht ist. Und durch das offene Ende ist Coach nicht so borniert, wissen zu wollen, was in dieser Situation der »richtige« Weg ist.
Demnächst in Cinemania 128:
Der letzte Berlinale-Rutsch, mit Flocken / Flocking (Beata Gårdeler, Generation 14plus), Gukje Shijang / Ode to my Father (JK Youn, Panorama), The Naked Spur / Nackte Gewalt (Anthony Mann, Retrospektive), Petting Zoo (Micah Magee, Panorama) und Ten no Chasuke / Chasuke's Journey (Sabu, Wettbewerb).
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