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6. Februar 2017 |
Friederike Kapp (Red Dog: True Blue) & Thomas Vorwerk (restliche Kritiken) für satt.org | ||||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet. |
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Vorführungen:
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Kanada 2016, Buch, Schnitt: Ashley McKenzie, Kamera: Scott Moore, Musik: Youth Haunts, Sound Design: Andreas Mendritzki, mit Bhreagh MacNeil (Vanessa), Andrew Gillis (Blaise), Mark Woodland (Mark), Donald Campbell, Barry Wall, Katie Appleton, Jessie MacLean, 78 Min.
Die 19jährige Vanessa (Bhreagh MacNeil) und ihr wenige Jahre älterer Freund Blaise (Andrew Gillis) haben abgesehen von einem heruntergekommenen Wohnwagen, der irgendwo in einem Wäldchen steht, keine feste Wohnung, und für ihren Lebensunterhalt bieten sie höchstens mal Rasenmäherdienste an - wobei sie das Benzin aus parkenden Autos klauen und der Mäher schon früh im Film seinen Geist aufgibt.
Was dem Leben des jungen Paares einen gewissen Rhythmus gibt - und, so traurig wie das klingt, fast ein Ziel - ist die Teilnahme am staatlich unterstützten Methodonprogramm. Manchmal steht ein Dutzend junger Leute vor der Apotheke, um die tägliche Dosis abzuholen. Dafür muss man regelmäßige Befragungen über sich ergehen lassen (»What's your mood on scale from 0 to 10?«, »Any suicidal tendencies?«), sollte sich nicht mit dem Apotheker anlegen, und soweit ich das verstanden habe, muss man für den Drogenersatz sogar bezahlen (jedenfalls hat Blaise wohl 150 Dollar Schulden, und kann den Standpunkt seines Programms auch nicht verändern, ehe er diese Schulden beglichen hat).
Mit fragmentarischen Bildern, vielen Close-Ups und Unschärfen sowie einem auffälligem Tondesign (das atonale Glockenspiel ist besonders einprägsam) wird der ganz normale Alltag des Paares geschildert. Schüchterne Intimität zwischen fahlen Körpern, Streitgespräche mit unwilligen Rasenbesitzern und einem Mechaniker, der kein Interesse daran hat, den abgehalfterten Mäher unter seinem üblichen Satz zu reparieren (Blaise dazu: »Do I even look like I have 60 Dollar?«). Der Film bringt das Gefühl der Ausgelaugtheit sehr gut rüber. Wenn man in Nahaufnahme den Versuch sieht, eine weit von ihrer Ausgangsfarbe entfernte Socke zu waschen, ist das die depressivste Einstellung des noch jungen Filmjahrs. Nur ist der Film noch gar nicht zu Ende ...
© Steve Wadden
Nachdem zunächst Blaise wie die Hauptfigur des Films agiert, befasst man sich immer mehr mit Vanessa. Sie schaut sich heimlich auf Facebook Babyfotos an, man ahnt, dass hier eine größere Geschichte verborgen ist - und dann versucht sie, die Kurve zu kriegen, einen Job zu bekommen und zu behalten. Stumpfsinnige und teilweise dreckige Jobs, aber Vanessa scheint durchzuhalten. Nur Blaise wird für sie zu einer Bedrohung, er könnte der Ertrinkende sein, der sie wieder herunterzieht. Oder, wie eine Sozialarbeiterin es so herzlos wie zutreffend zusammenfasst »You have to know it's not your responsibility to keep him alive!«
Die Konfliktsituation im letzten Drittel des Films wirkt noch fragmentarischer wie der Einstieg, aber intuitiv versteht man schon, was hier passiert. Das eindringliche Bild dafür ist eine Momentaufnahme aus Vanessas neuem Job. Wenn sie nicht gerade mit einer Softeismaschine kämpft, dreht sie eine vermutlich deutlich billigere Version (evtl. sind es auch schadhafte Exemplare) der schwarzweißen Oreo-Kekse durch einen Fleischwolf, und man hat dabei das Gefühl, dass diese Kekse für ihre Beziehung stehen.
Der Titel Werewolf ist übrigens rein metaphorisch zu verstehen, visuell ist ein umgekehrtes Kreuz, das beim Titelschriftzug das L ersetzt, als Tattoo bei Blaise wiederzufinden. Durch die Droge (oder vielleicht auch durch das Programm?) werden hier Menschen zu etwas anderem.
Vorführungen:
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Australien 2016, Buch: Daniel Taplitz, Kamera: Geoffrey Hall, Schnitt: Jill Bilcock, Rodrigo Balart, Musik: Cezary Skubiszewski, Kostüme: Anna Borghesi, Sound Design: Chris Goodes, Production Design: Sam Hobbs, Maske: Paula Jane Hamilton, mit Phoenix (Blue Dog), Levi Miller (Mick), Bryan Brown (Großvater), Jason Isaacs (Michael Carter), Hanna Mangan Lawrence (Betty Marble), Thomas Cocquerel (Bill Stemple), John Jarratt (Lang Hancock), Justine Clarke (Diane Carter), Zen McGrath (Theo Carter), Winta McGrath (Nicolas Carter), Kee Chan (Jimmy Umbrella), Calen Tassone (Taylor Pete), 89 Min.
Nein, die Kinder sollen keinen Hund bekommen. Trotz seines gegenteiligen Versprechens, an das der Vater (Jason Isaacs) sich nur nach ungeduldiger Ermahnung seiner Ehefrau (Diane Carter) erinnern kann. Denn, wie er seinen beiden Söhnen (Zen McGrath, Winta McGrath) auf dem Weg ins Kino erläutert: Sie kacken überall hin, sie kriegen Flöhe. Sie sterben. Beim Abspann stellen die Söhne fest, dass der Vater feuchte Augen hat. Etwa wegen des ergreifenden Hundeschicksals von »Red Dog«, das da soeben an ihnen vorbeigeflimmert ist?
So beginnt die Rahmenhandlung. Abends erzählt der Vater seinem Ältesten dann die wahre Geschichte hinter dem Leinwandhundeleben.
Ein Junge, irgendwann in den sechziger Jahren. Ein elterlicher Versorgungsengpass macht die Unterbringung des Stadtkinds beim Großvater (Bryan Brown) notwendig, der im »Outback« eine Farm betreibt. Ziemlich eingeschüchtert sucht der elfjährige Mick (Levi Miller) seinen Platz in dieser Erwachsenen- und Männerwelt. Alles ist neu und fremd: das verrückte Pferd, der Koch mit dem Sonnenschirm (Kee Chan) und der sehr spezialisierten Speisekarte, der wortkarge Großvater. Während der Aufräumarbeiten nach einem Wirbelsturm findet Mick einen Welpen, der in blaue Farbe gefallen ist. Er darf den Hund behalten und gibt ihm den Namen »Blue«.
Mick und Blue (Phoenix), mittlerweile gut integriert, erkunden gemeinsam die Farm und das Leben. Micks erste Liebe, eine magische Höhle, die ein Geheimnis birgt, ein verrücktes Pferd, ein Buschfeuer, in dem alle zusammenstehen müssen.
Bis Mick eines Tages die Farm verlassen muss, um in Melbourne zur Schule zu gehen. Was aus dem Jungen geworden ist, erfahren die Zuschauer in der Rahmenhandlung. Die Erlebnisse und Fährnisse von Blue fanden bereits in Red Dog (2011) ihre Fortsetzung. Sehr erfreulich, dass die Saga um den Hund mit dem roten Fell nunmehr zur Trilogie ausgebaut werden soll!
Mit großer Verve temporeich erzählt, gleicht Red Dog: True Blue einem Lobgesang auf eine Kindheit voller Freiräume. Im dramaturgischen Full-View-Modus werden verschiedene Erzähl- und Lebensebenen einschließlich Rahmenhandlung zu einem stimmigen Handlungsbogen aufgebaut. Farbsatte Bilder, großartige Landschaftsaufnahmen, magische Lichtreflexe erzeugen und stillen zugleich einen großen Sehhunger mit opulentem Augenschmaus.
Sinnfällig wiederkehrende musikalische Anleihen aus der Sergei Prokofjews Peter und der Wolf kulminieren in einer direkten Inszenierung dieser prädigitalen Action-Jagd durch Mick. Wo Blue die ihm zugedachte Rolle als Wolf sabotiert, treibt das Drehbuch die Protagonisten durch die Szenerie, dass man vor Überraschung und Lachen vom Stuhl fallen möchte. Der Preis für die witzigste Wolfmaske ever geht an: Red Dog: True Blue.
Vorführungen:
- jeweils als Vorfilm von Ikarie XB1 (Kritik im nächsten Cinemania) |
Dt. Titel: Ölfresser, Intern. Titel: Oilgobblers, CSSR 1988, Buch: Jan Sverák, Kamera: Ladislav Štepán, Schnitt: Jan Sládek, Musik: Vendula Kašpárková, Ausstattung: Barbora Šalamounová, mit Emil Nedbal, Lubomír Beneš, Ivo Kašpar, Jan Rokyta, Jirí Nemec, 22 Min.
Jan Sverák, der später mal den mit dem »Auslands-Oscar« ausgezeichneten Kolya drehte (der schaffte es 1997 in meine Jahres-Top-Ten) setzt hier mit geringen Mitteln, aber einer teilweise tollen Findigkeit einen kurzen Studentenfilm um, der aus dem damals noch recht neuen Genre der »Mockumentary« (Rob Reiners This is Spinal Tap und Woody Allens Zelig sind die frühesten Vertreter, die mir so auf Anhieb einfallen) so ziemlich alles herausholt, was in 22 Minuten zu holen ist.
Ob es sich hier um einen Science-Fiction-Film handelt, ist durchaus ein Diskussionsansatz, denn im Grunde sind die Wissenschaftler, die hier auf eine neue Spezies treffen, eher Bio- und Zoologen. Und es wird auch nicht im Entferntesten angedeutet, dass die possierlichen Wesen, die sich ausgerechnet vom Rohstoff Öl ernähren (vgl. den aktuellen Effekt-Knaller Monster Trucks) aus dem All stammen könnten. Aber sie scheinen eine Art Mutation zu sein, und Godzilla und die X-Men passen ja auch in die SF-Schublade.
Meine Lieblingsszene des Films spielt in der Hütte eines alten Mannes, der über die »Ölfresser« Bescheid zu wissen scheint. Einer der Wissenschaftler entdeckt auf einem eher naiven Gemälde, das eine Landschaft in der Nähe zeugt, eine Art Schmutzfleck und fragt, ob es sich dabei um die gesuchten Kreaturen handelt. Der Greis winkt ab, kramt aber ein anderes Gemälde hervor, wischt den Staub weg, die Interessenten scharen sich um die eine Glühbirne, und er zeigt eine von ihm festgehaltene Szene, in der er die unterirdischen Wesen festgehalten hat. Und man erkennt genauso wenig wie bei dem Geschmiere zuvor.
Ungeachtet dieser Stelle ist der Humor sehr heruntergefahren, der Film konzentriert sich weitaus stärker auf seine feine ökologische Aussage, denn was bei den ersten verhuschten Aufnahmen noch wirkt wie Bigfoot oder eine verwackelte Aufnahme von Nessie, ist in der Tat eine Lebensform, über deren Lebensumstände man im Verlauf des Films einiges erfährt - auch, wenn die Effekte halt nicht auf Hollywood-Niveau sind. Aber gerade der hausgemachte Old-School-Charme des Films ist viel interessanter als lupenreine Special Effects. In einigen Momenten erinnerte mich der Film sogar an Eraserhead - nur in einer etwas fröhlicheren Gangart.
© Kratky Film + FAMU
Die Landschaftsimpressionen gepaart mit einem gewöhnungsbedürftigen Score, wie er damals vielleicht topaktuell war (eine Art Ostblock-Synthie-Volksmusik) täuschen gemeinsam mit den einfallsreich animierten Wesen, die wie eine Mischung aus den Fraggles und E.T. wirken (letzteres eher thematisch), auch darüber hinweg, dass einige der Kameraeinstellungen nicht zur Anzahl der Dokumentaristen (und der implizierten Anzahl von Kameras) passen.
Wenn man drei, vier hübsche Ideen hat, und die zu einer Vollendung bringt, die über das anzunehmende Budget weit hinausläuft, sollte man als Zuschauer nicht so pingelig sein. Ropáci ist ein hübsches kleines Fundstück aus einer vergangenen Zeit - und passt relativ ideal zu Ikarie XB1, auf den er als Vorfilm einstimmt.
Wäre Ropáci ein deutscher Film, könnte man sich den perfekt auf eine vergiftete Welt eingestellten "petroleus mostensis" vielleicht als einen Ableger des Wolpertingers vorstellen, der das Ruhrgebiet unsicher macht. Solang man sich ihm nicht mit Gummistiefeln nähert, ist er eigentlich ganz possierlich ...
Vorführungen:
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Großbritannien 2016, Buch: Michael Winterbottom, Kamera: James Clarke, Schnitt: Marc Richardson, Musik: Wolf Alice, Leah Harvey, Swim Deep, Bloody Knees, mit Leah Harvey (Estelle), James McArdle (Joe), Ellie Rowsell, Joff Oddie, Theo Ellis, Joel Amey (Wolf Alice), Paul Popplewell (Smiley), Jamie Quinn (Gary), Shirley Henderson (Joes Mutter), 121 Min.
Zum Eröffnungsfilm von Generation 14plus soll Regisseur Michael Winterbottom kommen. Soweit die guten Nachrichten. Sein Doku-Hybrid On the Road, der die aufstrebende britische Band Wolf Alice bei einer Tour begleitet, wird außer Konkurrenz gezeigt. Mein erster (nicht ganz ernstzunehmender) Verdacht für den Grund dafür war der Umstand, dass es für Winterbottom seltsam gewesen wäre, wenn er gegen einen Film mit dem Titel Butterfly Kisses hätte antreten sollen. Der Debütfilm des in Blackburn geborenen Regisseurs, der 1995 im »großen« Wettbewerb der Berlinale lief (den habe ich tatsächlich damals während meines ersten längeren Berlin-Aufenthalts gesehen und ich habe mir den Namen des Regisseurs gemerkt, hieß fast genau so, nur in der Einzahl, Butterfly Kiss.
Nach Sichtung des Films habe ich aber eher den Eindruck, dass man den Film auswählte (unzählige kleine Kinkerlitzchen wie bereits erfolgte Premieren, die bei der Zusammenstellung von Filmwettbewerben oft auch eine Rolle spielen, blende ich jetzt mal komplett aus), um dem langjährigen Berlinale-Partner eine (geringfügig kleinere, aber dafür glänzt des Haus der Kulturen der Welt ja in neuem, renovierten Glanz) Schaubühne zu bieten und sich gleichzeitig ein wenig vor ihm zu verneigen.
On the Road wirkt nämlich fast wie eine Kleinstretrospektive, wie ein selbst zusammengestelltes Potpourri aus dem Werk Winterbottoms. Leider in solchem Maße, dass der Film vorwiegend für Winterbottom-Experten von Interesse ist. Und selbst für die auch nur bis zu einem gewissen Maße (für Fans der Band Wolf Alice wird der Film natürlich auch eine tolle Gelegenheit darstellen, die musikalischen Heroen mal etwas intimer kennenzulernen, aber auch diese Kleinstzielgruppe lasse ich hier mal außen vor).
Eine junge schwarze Frau, die lange Zeit so wirkt, als sei sie die einzige Schwarze in Großbritannien (einige Passanten auf der Straße und ein paar Clubbesucher machen ihr den Titel später aber strittig), begleitet als Tourmanager die Band bei einer sogenannten »Ochsentour«, wo man sich also noch sehr engagieren muss, um später vielleicht jene Popularität zu genießen, dass sich die ganz großen Hallen selbst bei hohen Ticketpreisen wie von selbst füllen.
Nach dem sehr hübschen ersten Bild des Films, das mit einer Kadrierung à la The Searchers die Luke eines Tour-LKWs als Tür in die Filmwelt nutzt, habe ich beim Vorspann nicht darauf geachtet (wenn es da überhaupt stand, was ich bezweifle), dass unsere Hauptfigur Estelle bereist eine Darstellerin namens Leah Harvey hat. Das wird einem aber im Film recht schnell bewusst, wenn etwa die vermeintliche Dokumentarkamera der Tourmanagerin ohne erkennbaren Grund bis in eine Duschkabine folgt (auch, wenn man dabei nicht unter die Schulterhöhe abrutscht). Wenn Estelle ebenfalls zu Beginn des Films in ihre Schlafkoje im sehr modernen, großen und luxuriösen Tourbus klettert und man den Blick eines »Kollegen« auf ihren Hintern sieht, der ihr kurz darauf einen hilfreich wirkenden Tip über die Liegerichtung beim Schlafen gibt, ahnt man schon die sich zunächst langsam entwickelnde »Spielhandlung« des Films (und ich nehme das jetzt mal vorweg, weil es im Film kein irgendwie gerichtete Spannungsdramaturgie gibt): der Typ (James McArdle als Joe) wird sie irgendwann angraben und vermutlich entsteht daraus eine Tour-Affäre. Es ist möglich, dass für manche Zuschauer die Entwicklung dieser Beziehung so etwas wie Spannung entwickelt - bei mir war da nichts! Wenn Joe und Estelle sich dann in unterschiedlichen Hotelzimmern verlustieren, fühlt sich das so an, als liefere Winterbottom eine Variation seines Films 9 Songs, der ohne Dokugerüst oder rudimentäre Spielhandlung einfach Sexszenen eines jungen Paares mit Konzertmitschnitten alternieren ließ.
Und dieses auf Winterbottom bezogene dejá vù-Gefühl begleitet den gesamten Film und prägt ihn in meinen Augen weitaus stärker als die »Handlung« der Love Story oder die »Dokumentation« der Tour.
Einige Songs von Wolf Alice werden (gemeinsam mit dem Tourthema) über nächtliche Zeitrafferaufnahmen visualisiert, was mich sehr an die damals noch innovativ wirkende Ästhetik von Wonderland erinnerte. Und irgendwann merkt noch der hinterletzte Zuschauer, dass dies kein reiner Dokumentarfilm ist, weil Shirley Henderson als Joes Mutter einen kurzen Auftritt hat - und wenn man die nicht aus den Filmen von Winterbottom kennt, dann vermutlich als Freundin von Bridget Jones oder (ich bin mir hier nicht sicher, inwieweit sich das altersmäßig mit dem Zielpublikum deckt) als »Moaning Myrtle« aus ein paar Teilen der Filmreihe um Harry Potter. Gerade das Genre dieser Doku-Hybride hat Winterbottom ja vor einiger Zeit mit etabliert und mit einer gewissen »Erster!«-Mentalität dauerhaft in sein Repertoire aufgenommen. Schon der Filmtitel On the Road wirkte auf mich wie ein Amalgam aus In this World und The Road to Guantanamo.
Leider bietet Winterbottom außer der Musik (wobei ich die an Tracy Chapman erinnernden Gitarrentracks von Leah Harvey eigentlich ansprechender finde als die immerhin abwechslungsreichen Songs von Wolf Alice), ein paar lauwarmen Gags (beim Fußballspiel am Kieselstrand landet der Ball im eiskalten Wasser: »indie band nightmare«) und ein paar Einblicken in den Touralltag (nebst dem immer wieder gern gesehenen olfaktorischen Sockentest) nichts wirklich neues.
An dieser Stelle sei noch kurz erwähnt, dass Winterbottoms letzte zwei Berlinale-Auftritte auch nicht eben den Hering vom Teller gerissen haben: The Look of Love war eher so »passabel«, und bei The Killer inside me bin ich gar nach etwa einer halben Stunde gegangen. Dies mal habe ich wenigstens durchgehalten (okay, sooo schlimm war es dann auch wieder nicht, nur eben mit wenig Nährwert).
Man fragt sich zwischendurch, inwiefern das Filmprojekt auch einfach Teil einer Marketing-Kampagne sein könnte (der Name der Band wird dadurch vermutlich häufiger in der Presse genannt als bei zwei veröffentlichten Alben). Selbst einige Szenen mit der Band wirken geskriptet oder zumindest mit bestimmter Zielrichtung improvisiert. Sängerin Ellie darf erklären, woher der Bandname stammt, und Estelle, die zu Beginn noch Rimbaud las, sieht man dann auch später mit dem entsprechenden Buch von Angela Carter, was beim Blick auf den Titel der namensgebenden Kurzgeschichte schon fast wie ein Werbefilm wirkt. Selbst, wenn dieser Eindruck etwas geschwächt wird, wenn die auf eine Zugabe versessenen Konzertbesucher (die bei einigen Gegenschüssen übrigens größtenteils aus teenage girls und Brillen-Hipstern zu bestehen scheinen) »we want more« skandieren und die Band, die endlich Feierabend haben will, backstage vor laufender Kamera im gleichen Rhythmus Statements wie »no more songs« oder »we go home« von sich gibt.
Der charmanteste Aspekt des etwas zu langen Films besteht darin, dass es so wirkt, als bestünde der Job der vermeintlichen Tourmanagerin zu 70% darin, herauszubekommen, wo sich die Handtücher für die Band befinden.
Ich muss eingestehen, dass ich zu Zeiten, als ich selbst noch drei bis vier Konzerte im Monat besuchte - oder etwas früher, als ich mal eine vom Roadie beim Abbau ins Publikum gereichte Depeche-Mode-Tracklist hütete wie den heiligen Gral (Szene ist so 1:1 drei- bis viermal im Film zu sehen), der Atmosphäre des Films mehr hätte abgewinnen können. Allerdings habe ich aber auch am Tag zuvor Jim Jarmuschs Stooges-Doku Gimme Danger gesehen, und auch, wenn ich nie einen besonderen Bezug zu Iggy Pop hatte (besitze nur eine Best of), hat mich das deutlich stärker angerockt.
Sehr bald in Cinemania 160 (Außenseiter):
Weitere Vorab-Berlinale-Kritiken zu Emo the Musical (Neil Triffett, Generation 14plus), Ikarie XB1 (Jindrich Polák, Retrospektive), Jassad gharib / Corps étranger (Raja Amari, Forum), My Entire High School Sinking into the Sea (Dash Shaw, Generation 14plus) und Weirdos (Bruce McDonald, Generation 14plus).
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