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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




6. Februar 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org
Berlinale 2017



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet.


Cinemania-Logo 160:
Außenseiter (Berlinale, Teil 2)


Weitere Vorabkritiken zu Berlinale-Filmen, die ihre Weltpremiere bereits hinter sich haben und über die man deshalb schon sprechen darf


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  Weirdos (Bruce McDonald)

Weirdos
(Bruce McDonald, Generation 14plus)

 
Vorführungen:
  • Dienstag, den 14. Februar um 15 Uhr 30 im Zoo-Palast 1
  • Mittwoch, den 15. Februar um 15 Uhr 30 im Filmtheater am Friedrichshain
  • Donnerstag, den 16. Februar um 14 Uhr im CinemaxX 3


Kanada 2016, Buch: Daniel MacIvor, Kamera: Becky Parsons, Schnitt: Duff Smith, Kostüme: Bethana Briffett, Production Design: Matt Likely, Art Direction: Mark Ryan Hall, Ryan Vessey, mit Dylan Authors (Kit), Julia Sarah Stone (Alice), Allan Hawco (Dave), Rhys Bevan-John (Not Andy Warhol), Molly Parker (Laura), Gary Levert (Joe), Francine Deschepper (Val), Matthew Lumley (Officer MacIvor), Mateo Giovannetti (Beans), 85 Min.

In wunderschönen Schwarzweißbildern (fast nicht zu glauben, dass Kamerafrau Becky Parsons hier ihren ersten selbstverantwortlichen Langspielfilm vorlegt) erzählt Weirdos vom Ausflug zweier Teenager im sommerlichen Nova Scotia des Jahres 1976. Während halb Kanada den prunkvollen Marsch zur Feier des US-amerikanischen Bicentennials im Fernsehen betrachtet, erzählen Kit (Dylan Authors) und Alice (Julia Sarah Stone) ihren Eltern jeweils, dass sie beim anderen übernachten werden (zum ersten Mal, was insbesondere Kits Vater aufhorchen lässt) und brechen auf zu einer vermeintlich epochalen Strandparty am Dominion Beach (später wirkt die Party eher so, als hätten 60% der Anwesenden überhaupt erst durch unser Pärchen davon erfahren).

Wenn Kit seinen Koffer packt und sich mit einem Fingerzeig auf die Stirn eines Elton-John-Posters von seinem Zimmer verabschiedet, ahnt man schon, dass er eine größere Reise vorhat. Und auch im Umgang mit seiner ihm treu zu Füßen liegenden Freundin Alice, die befürchtet ihn zu verlieren, bevor man erstmals Sex hatte, spürt man, dass hier etwas nicht so ist, wie es vielleicht nur scheinen soll.

Wenn Alice am Strand die Avancen eines Bekannten deutlich verspürt, während sie Kit kurz vorm Kuss mit einer Hinreisebekanntschaft »erwischt«, sprechen die beiden auch erstmals darüber, das Kit sich eher zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, und unter anderem deshalb von Zuhause abgehauen ist, weil er hörte, wie sein Vater, ein bei den Schülern beliebter Lehrer für social sciences, dessen Kollegen in der Französischabteilung als »fag« bezeichnet hat, weshalb Kit es eher mal mit seiner in Sydney (auch in Nova Scotia, nicht in Australien) lebenden Mutter probieren will.

Der Fokus dem Films verschiebt sich langsam und unmerklich trotz der an beiden Spielorten vorhandenen familiären Anbindung Kits auf Alice, die - wenn schon nicht an ihrer großen Liebe, so doch zumindest an ihrer Freundschaft zu Kit festhalten will. Auch ihr anfängliches Beharren auf den endlich vollzogenen Sex wirkt nicht wie Promiskuität, sondern wie ein halb verzweifelter Versuch, den Jungen, dessen anders gerichtete Sehnsucht sie wohl schon länger spürte, an sich zu binden.

Weirdos (Bruce McDonald, Generation 14plus)

© Holdfast Pictures Inc, Lithium Studios Productions Inc, Shadow Shows Inc. / Becky Parsons

In der ersten Hälfte des Films wirkt der Ausflug noch wie ein großes Abenteuer, mit Trampererfahrungen, die Alice weitergibt, einer überstürzt abgelehnten Mitfahrgelegenheit und einem eigentümlichen Zusammentreffen mit einem Polizisten, der laut Abspann den selben Nachnamen wie der Drehbuchautor hat.

Dann landet man aber bei Kits Mutter (Molly Parker), und damit bei eher »erwachsenen« Problemen (die aber auch etwas kindsköpfig ausfallen können). Während Kit sich erstaunlich gut mit seiner Mutter versteht, ist Alice sehr zurückhaltend, was sich aber als Indiz für ihre Menschenkenntnis herausstellt. Wie die zahlreichen coming-of-age- und Familienprobleme hier zu einem versöhnlich wirkenden, aber letztlich sehr offenem Ende finden, fundamentiert die Qualität des Films, der mit tollen Darstellern und subtilen Dialogen verzaubert.

Ach ja, und dann ist da noch die Sache mit Andy Warhol. bzw. »Not Andy Warhol«, denn Kit (der wohl irgendwie doch seinen Anspruch geltend machen will, hier die Hauptfigur zu sein) führt mitunter Gespräche mit einer der Popart-Ikone ähnelnden Halluzination (Rhys Bevan-John), der mich irgendwie an Neil Patrick Harris in »Count Olaf«-Maske erinnerte - aber natürlich mit der obligatorischen Frisur.

Exemplarisch für die wichtige Rolle dieser eingebildeten Figur hier ein Auszug aus einem frühen Dialog mit Kit:

»Are you Andy Warhol?«
»No, I'm just a guy with a wig!«
»What are you doing here?«
»I'm your spirit animal.«
[...]
»That your girlfriend? She looks kinda butch.«

Die bezaubernde Sarah Julia Stone, der man wegen ihrer geringen Körpergröße nicht anmerkt, dass sie inzwischen bereits 19 ist (bei Jane Levy ist es ähnlich, so kann man noch mit Mitte 20 Teenagerrollen bekommen, wenn einem danach ist), erinnerte mich mit ihrem schüchtern wirkenden Lächeln (sie ist lang genug im Business, um klarzustellen, dass dies zu ihrem Handwerk gehört) an die junge Shirley MacLaine. Und sie demonstriert hier auch die selbe Kombination aus Intelligenz und Verletzlichkeit, die großartig zur Rolle der Alice passt. (Dylan Authors macht seinen Job ebenfalls fehlerlos, aber diesen Typ Jungen habe ich schon in viel zu vielen Teenager-Dramen beobachtet, von Harold and Maude über Submarine bis zu Coconut Hero. Schlacksig, aufgeweckt, sensibel und immer mit einigermaßen kurzen dunklen Haaren. Um aus diesem Gemenge herauszustechen, bedarf es mittlerweile wohl darstellerischer Superkräfte.

Toll an dem Film ist es übrigens auch, wie die Erwachsenen dargestellt werden, die nur in den wenigsten Fällen so wirken, als hätten sie sich durch ihre Lebenserfahrung weiterentwickelt. Sie spielen allesamt eher Rollen, lassen dabei aber durchblicken, dass all die Eigenschaften ihrer Jugend immer noch vorhanden sind. Das ist jetzt nichts komplett Neues, aber wie es hier umgesetzt wird, ist schon ziemlich fulminant. Und dazu passt auch die Einsicht von Kits Mutter, die den Titel des Films für jene erklärt, die sonst nicht begriffen hätten, wie sehr der Film all seine Figuren herzlich in die Arme schließt: »Aw, honey, she's a weirdo, too. We're all weirdos. That's what makes us beautiful!«


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Emo the Musical
(Neil Triffett, Generation 14plus)

 
Vorführungen:
  • Samstag, den 11. Februar um 17 Uhr im Haus der Kulturen der Welt
  • Sonntag, den 12. Februar um 15 Uhr 30 im Filmtheater am Friedrichshain
  • Mittwoch, den 15. Februar um 14 Uhr im CinemaxX 3


Australien 2016, Buch: Neil Triffett, Kamera: Ellery Ryan, Schnitt: Ian Carmichael, Songs: Neil Triffett, Craig Pilkington, Charlotte Nicdao, Kostüme: Andrew Infanti, Production Design: Simon McCutcheon, mit Benson Jack Anthony (Ethan), Jordan Hare (Trinity), Rahart Adams (Bradley), Jon Prasida (Isaac), Lucy Barrett (Roz), Craig Hyde-Smith (Peter), Ben Bennett (Jay), Geraldine Viswanathan (Jamali), Kevin Clayette (Josh), Bridie Carter (Mrs. Doyle), Natasha Herbert (Susan), Dylan Lewis (Doug Skeleton), Adam Zwar (Principal Stephens), Heidi Arena (Sister Cathleen), 94 Min.

2014 lief in der Generation bereits der Kurzfilm Emo (the Musical), den man sich entspannt auf youtube anschauen kann. Mit einem gewissen Publikumserfolg (und einer Juryerwähnung) im Rücken folgt nun die Langfilmversion, die zwar im Großen und Ganzen nah am Original bleibt, aber sowohl im Schauspiel (neue Darsteller) als auch bei den Songs deutlich diffizilere Nuancen zeigt. Vermutlich ist es sogar besser, sich den Kurzfilm erst im Nachhinein anzuschauen, wenn man mit einer gewissen Begeisterung für den Langfilm die »Wurzeln« untersuchen will.

Ethan (Benson Jack Anthony) ist ein eher unauffälliger Schüler, der aber seine pubertäre Grunddepression zum Modestil ausgebaut hat und sich abgesehen von gelegentlichen Selbstmordversuchen (Harold and Maude, anyone?) einen gesunden Sarkasmus kultiviert hat.

An der neuen Schule kommt dann aber die erzchristliche, aber dummerweise superschnucklige Trinity (Jordan Hare) auf ihn zu und verkompliziert sein Leben, denn das Bestreben, sich einen Platz in einer aufstrebenden Schul-Emo-Band zu sichern, geht nicht wirklich Hand in Hand mit einer Liebesgeschichte, bei der seine Angebetete nebenbei versucht ihn zu bekehren (und sogar versucht, ihn mit kanisterweise vorhandenem Weihwasser und einem Planschbecken ohne sein Wissen zu taufen).

Emo the Musical (Neil Triffett, Generation 14plus)

Bildmaterial: Ellery Ryan © Matthewswood Pty Ltd.

Abgesehen von den beiden Themen, die im Filmtitel unübersehbar fundamentiert sind, bedient Emo zielgenau das Highschool-Genre, wenn auch von der etwas düsteren Variante à la Saved!, Mean Girls oder Heathers. Mit ein paar zeitgemäßen Erneuerungen: wenn man das den stärkeren Kids zu übergebende Michgeld nicht Bar dabei hat, kann man auch mit Karte zahlen. Fest zum Genre dazu gehören natürlich Bullying, Coming-of-Age, Fehlentscheidungen der jungen Protagonisten und in diesem Fall ein überdeutlicher Closet-Schwuler, der das Pech hat, zum Spielball der üblichen Intrigen zu werden.

Weniger universell, aber umso einprägsamer ist neben dem von einem Pharmakonzern verordneten Seratonin-Programm (»Help others! Report sad people!«) der christliche Fundamentalismus, der in einem Song gipfelt, der beim Handlungsverlauf eigentlich obligat ist: »Jesus would have been an emo (he felt the pain of all mankind, but emos do that all the time)«.

Gerade für Zuschauer, die selbst noch zur Schule gehen, ist der Film ein schier unerschöpflicher Quell toller Zitate, mit denen man in den Wochen nach dem Kinobesuch angeben kann:

Über modernes Bullying: »Stop bouncing that ball or I kill you and your parents!«

Über natürliche Reifeprozesse: »I love that song« - »I used to love it, too - until people pointed out to me how lame it is.«

Über die christliche Version der Pubertät: »He made me have sinful thoughts« (Trinity über Ethan)

Über fashion choices: »Your 'lonely' t-shirt is just a cry for Jesus!«

Über das erste Mal: »You're safe with me, I wouldn't know how to start ...« - »Watch porn for the acting!«

Über Opfer für die Liebe: »I stop sleeping with your friends if you forgive me!«

Über persönliche Entscheidungen: »Just because Jesus doesn't like it doesn't mean I don't.«

Und - last but not least - mehrfach über den Emo way of life wie bei »He's the toughest emo of the school and draws portraits of his ex-girlfriends in his blood.« oder »I've got a disease.« - »Is it a sexy one or not?« - »What's a sexy one?« - »Something like cholera.«

Inmitten all der turbulenten Handlung schaffen es Ethan und Trinity aber, den Zuschauer emotional anzubinden und man drückt den beiden die Daumen, egal wie absurd ihre Liebe wirkt. Bei den Kostümen ist es recht hübsch anzusehen, wie Ethan und Trinity sich jeweils sehr subtil dem oder der anderen angleichen und in Krisenmomenten wieder abgrenzen. Einfach mal auf Polka-Dots, Querstreifen oder Hellblau achten!

Ein paar Gags sind etwas überzogen und die Mitglieder der Emo-Band lächeln generell zu oft, aber Emo the Musical ist sicher einer der unterhaltsamsten Filme der Berlinale und abgesehen vom Jesus-Song hat es mir eine Zeile aus einem Coming-Out-Lied sehr angetan: »If my love for you should be responsible for global warming, I promise I will take the heat!«

'Nuff said.


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Jassad gharib
(Raja Amari, Forum)

 
Vorführungen:
  • Mittwoch, den 15. Februar um 21 Uhr 30 im Delphi
  • Donnerstag, den 16. Februar um 22 Uhr 30 im Cubix 9
  • Samstag, den 18. Februar um 19 Uhr 30 im Zoo-Palast 2
  • Sonntag, den 19. Februar um 17 Uhr im CineStar 8


Frankreich / Tunesien 2016, Frz. Titel: Corps étranger, Intern. Titel: Foreign Body, Buch: Raja Amari, Kamera: Aur√©lien Devaux, Schnitt: Guerric Catala, Musik: Nicolas Becker, mit Sarra Hannachi (Samia), Hiam Abbass (Leila Berteau), Salim Kechiouche (Imed), Marc Brunet (Jacques), Majd Mastoura, 92 Min.

Mit symbolischen Bildern vom Ertrinken (größtenteils Unterwasserkamera, evtl. ein aktueller Berlinale-Trend) ist man gleich mitten in der Flüchtlingsproblematik, aber dann geht es neben einem untergehenden Turnschuh vor allem um Familienfotos, die auf dem Meeresgrund liegen bleiben. Ein deutliches Bild davon, was man als Flüchtling alles hinter sich lässt (wenn es nicht auch noch gleich das Leben ist).

Am Strand wacht eine junge Frau in halbgetrockneten Klamotten auf, das mit dem Überleben scheint zumindest vorerst geschafft. Eine zunächst die dislocation markierende Kamera sucht im Verlauf des Films durchweg eine manchmal schmerzliche Nähe zu den Figuren.

Die aus Tunesien stammende Samia (Sarra Hannachi) hat immerhin auch einen Kontakt in Frankreich, den sie in einem Café ausfindig macht. Imed (Salim Kechiouche) gibt ihr etwas zu essen, Geld, Tips, wie man als Illegale(r) nicht unnötig auffällt, und bietet ihr Unterschlupf in einer Männer-WG an, doch nicht nur vom Anblick Samias Rückens (eine back story in zweifachem Sinne), der ganz subtil bedrohlichen Atmosphäre und den Gesprächen, die die Männer führen, wenn sie nicht im Raum ist, wissen wir, dass dies nicht der richtige Ort für sie ist. »A girl shouldn't live with some men.«

Jassad gharib / Corps étranger (Raja Amari, Forum)

© Nomadis Films / Mon voisin Productions

Durch den hilfreichen Kellner Jacques lernt Samia die vor kurzem verwitwete wohlhabende Madame Berteau (Hiam Abbass) kennen, die aber trotz ihres eigenen Migrationshintergrunds zunächst davor zurückschreckt, eine Illegale fest anzustellen, um bei ihr zu putzen und die Dokumente ihres Mannes aufzuräumen. Doch Samia und Leila (der Vorname wird erst mit Verspätung rausgerückt) verstehen sich recht gut, die Anwesenheit der jungen Frau hilft auch gegen die plötzliche Einsamkeit und es entwickelt sich etwas, was über eine Arbeitsbeziehung (und sogar eine Freundschaft) hinauszugehen scheint. So absurd es klingen mag, Samia wird ansatzweise zu einer Art Ersatz für den verstorbenen Gatten Jean.

Aber der Film hat noch weitaus mehr zu erzählen. Neben einer gewissen Polizeiparanoia wird Samia nun auch noch Opfer eines anonymen Anrufs, und man weiß lange Zeit nicht, ob dies ihr mysteriöser Bruder ist oder Emid - und wie diese beiden zueinander stehen.

Als wäre dies noch nicht kompliziert genug, nimmt Leila nun auch noch Kontakt auf zum manchmal vor ihrer Wohnung lauernden Emid und eine Dreiecksbeziehung entsteht, bei der ich persönlich nicht ganz verstanden habe, warum die beiden Frauen Emid auch nach einigen unduldbaren Verhaltensmustern doch wieder in die Wohnung lassen. Teilweise wirkt der Film hier so wie eine Erklärung, dass die Frauen, die sich so was gefallen lassen, nicht wirklich unschuldig sind an gewissen Ausfallerscheinungen des Patriarchats (wie gesagt, so richtig warm wurde ich nicht mit dieser Entwicklung).

Aber, um es sehr stark zu vereinfachen, Imed passen Jean alte Hosen einfach besser als Samia...

Als es dann ansatzweise zu einem Dreier kommt, wird vor allem eines klar: Imed ist eher überfordert und kann außer seiner behaarten Brust nicht wirklich viel vorweisen. Als er dann auch noch aggressiv wird, muss er gehen und mit Samias Job in einer Parfümerie scheint sogar ein Happy End möglich.

Da aber die traumatische Vergangenheit Samias zuende erzählt werden muss und auch die Sache mit dem Bruder erklärt werden muss, endet der Film mit einem Aufeinandertreffen Leilas mit Samias Mutter (ich halte absichtlich Details zurück) und einem Schal von Jean, der sich zu den Dingen auf dem Meeresboden gesellt (inklusive der naheliegenden Bedeutung für das ansonsten eher offene Ende).

Alles in allem sehr interessant, aber der Funke sprang bei mir nicht ganz über.


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  My Entire High School ... (Dash Shaw)

My Entire High School Sinking into the Sea
(Dash Shaw, Generation 14plus)

 
Vorführungen:
  • Dienstag, den 14. Februar um 20 Uhr 30 im Haus der Kulturen der Welt
  • Donnerstag, den 16. Februar um 16 Uhr 30 im CinemaxX 3
  • Sonntag, den 19. Februar um 14 Uhr im CinemaxX 3


USA 2016, Buch: Dash Shaw, Schnitt: Lance Edmands, Alex Abrahams, Musik: Rani Sharone, Animation: Jane Samborski, mit den Originalstimmen von Jason Schwartzman (Dash), Lena Dunham (Mary), Reggie Watts (Assaf), Maya Rudolph (Verti), Susan Sarandon (Lunch Lady Lorraine), Alex Karpovsky (Drake), John Cameron Mitchell (Brent Daniels), 77 Min.

Vor der Vorführung wurden wir informiert, dass Dash Shaw ein berühmter »graphic novelist« sei. Von der Bezeichnung bekomme ich die Krätze, der Name war mir komplett unbekannt, obwohl ich mir einbilde, bei meinem alten Hobby noch halbwegs auf dem Laufenden zu sein. Später stellte ich dann immerhin fest, dass ich in einer Anthologie einen kurzen Comic von Dash Shaw besitze. Und er tatsächlich bevorzugt in sich abgeschlossene längere Werke zu veröffentlichen scheint. Trotzdem kann man ihm ja die Würde lassen, ihn Comic-Zeichner zu nennen und nicht so einen Buchmarkt-Marketing-Begriff zu benutzen, der ihn klugscheißerisch und generell suspekt erscheinen lässt.

Aber mit dem eigentlichen Film hat das natürlich so gar nichts zu tun.

Ich will mal mit der Animation beginnen. Ich habe keinen Schimmer, inwiefern Dash Shaw selbst irgendwelche Zeichnungen für den Film angefertigt hat, gehe aber davon aus, dass er mit seinem Background durchaus irgendwie involviert war. Die Animation ist sehr limitiert, von einem Zeichentrickfilm zu sprechen, wäre fast vermessen. Die Figuren sind eher krude skizziert, die Bewegungen sind nicht besonders flüssig, auf ein Übereinstimmen der Synchronisation mit den Mundbewegungen hat man eine eher geringe Priorität gesetzt. Man könnte fast von einem illustrierten Hörspiel sprechen. Dafür hat man aber mit unterschiedlichen Mitteln dafür gesorgt, dass die bunten Hintergründe, vor denen sich die mit schwarzem Edding oder so gezeichneten Figuren befinden, atmosphärisch sehr zum Film beitragen. Im Gegensatz zum klassischen Zeichentrick, der ja die animierten bunten Figuren (auf Cels) vor einer oft ausgefeilteren Landschaft oder so agieren lässt, hat man sich hier dazu entschlossen, die »Bemalung« der Figuren öfters mal gemeinsam mit dem Hintergrund zu gestalten, und für mich sah das dann - abgesehen von den Collagen - oft wie Ölmalerei aus (etwas hingeschludert, aber nichtsdestotrotz) und vor der beispielsweise gleichbleibenden Hautfarbe (in einem Close-Up) spielt sich dann die eigentliche Animation nur in den schwarzen Strichen ab. Aber das hat man natürlich nur bei Gesprächszenen gemacht, wenn die Figuren sich bewegen (und das tun sie doch relativ oft), hat man das aufwendiger gelöst. So oder so trägt aber die Farbsetzung deutlich dazu bei, die Animation wie etwas »Besonderes« erscheinen zu lassen (der Begriff »Kunst« wirkt naheliegend), obwohl man eigentlich zum einen das Animationsgenre im klassischen Sinn mit Füßen tritt und gleichzeitig mit Farbmitteln arbeitet, die so aufgrund der Druckkosten in einem Comic schwer umzusetzen wären.

Somit hat der Film tatsächlich etwas von einem Hybrid zwischen Comic und Animation, wo ich da immer eine genaue Grenze zu ziehen versuche und mich tierisch aufrege, wenn in einer Quizshow gefragt wird, wer »Comicfiguren« wie Micky Maus, Familie Feuerstein oder den rosaroten Panther erfunden hat (natürlich immer mit multiple choice), wenn das offensichtlich alles Animationsfiguren sind, die erst später in einem anderen Medium zweitverwertet wurden. Es scheint so, als sei ein Großteil der Menschheit nicht daran interessiert, diese für mich wichtige Unterscheidung zu treffen. Denn es gibt natürlich auch Comicfiguren wie Superman, Garfield oder Popeye, die andersrum später in Animationsserien ein zweites Zuhause fanden - und für mich ist das eine wichtige Unterscheidung, die man mit ein wenig Fachwissen in den allermeisten Fällen sofort machen kann.

Ob die Figuren aus My Entire High School ... schon vorher in Comics auftauchten, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ist ist doch sehr auffällig, dass die Hauptfigur den Vornamen (und evtl. mehr) mit dem Regisseur teilt. Wer deswegen gleich von autobiographischen Zügen spricht, verhehlt aber, dass der Film einem klar umrissenen Genre entspricht, das hier nur mit der typischen High-School-Story gekreuzt wurde. Wie der Titel deutlich impliziert, handelt es sich um einen Katastrophenfilm.

Und Dash Shaw hat viel Spaß daran, die Regeln des Genres auszuloten, im gleichen Augenblick aber den Film eher mit einer gewissen Traumlogik zu erzählen, denn wenn eine Highschool ins Meer fällt, sind natürlich höchstwahrscheinlich alle Personen, die sich im Gebäude aufhielten, in kürzester Zeit tot, während es hier eher so läuft, als verhalte sich die Highschool wie die Titanic oder Poseidon und die unterschiedlichen Etagen werden nacheinander überschwemmt. Was aber super zum Schulthema passt, denn die höheren Klassen hausieren auch in den höheren Etagen und so kann man die beiden inhärenten Konflikte vortrefflich miteinander kombinieren.

My Entire High School Sinking into the Sea (Dash Shaw, Generation 14plus)

© Tides High PTA, LLC

In beiden Genres gibt es natürlich Liebesgeschichten und solche, in denen es um das blanke Überleben geht. Dash (Jason Schwartzman) und sein faithful sidekick Assaf (Reggie Watts) finden sich relativ schnell im Film weiblichen Gegenstücken gegenüber und Mary (Lena Dunham) und Verti (Maya Rudolph) stehen sowohl für unterschiedliche Highschooltypen als auch für unterschiedliche romantische Anbindung. Es hat halt nicht jeder im selben Alter seinen ersten Freund oder seine erste Freundin, und da dieser Umstand für die allermeisten Schüler von weitaus höherer Bedeutung ist als Zensuren und Versetzungen, bietet man hier clever einen Haufen Identifikationsfiguren für nahezu jeden im Kino.

Dem Kunstanspruch der Animation kommt man auch mit dem Thema Schulzeitung nach (junge Kreative!), während der Trash-Aspekt des Katastrophenfilms auf eine kongeniale Art auch seine Entsprechung im Zeichenstil findet.

Während alles ganz coming-of-age-mäßig anfängt, man aber in den Dialogen hier und da fast philosophische Züge einfließen lässt (»You're factual. And truth is beauty.«), war mein erster Höhepunkt des Films die Szene, wo man bei einem Blick für die Hintergründe dort zwei Klassiker des »eye of the beholder«-Syndroms erhaschen kann. Zum einen die beiden sich symmetrisch gegenüberstehenden Gesichter, die aber auch eine Art Vase zwischen ihnen zeigen könnte. Und dann - na klar! die hübsche junge Frau mit dem Schwanenhals, die aber auch eine alte Vettel sein könnte, bei der das Kinn aus der Kleidung ragt.

Doch ehe sich der Film auf die knospenden Lovestorys oder die üblichen Bullys und Geeks konzentrieren kann, übernimmt schon die Katastrophengeschichte das Ruder, und Susan Sarandons Stimme übernimmt die Rolle, die sonst von Shelley Winters gespielt wird (mit einigen Abstrichen und Variationen), denn als »Lunch Lady Lorraine« zeigt sie die beherzte Praktikalität, die in Extremsituationen wie Highschoolbesuchen und Katastrophen überlebensnotwendig ist.

Neben der obligaten Horrorvision schlechthin (»I'm gonna die a virgin!«) zieht der Film mit viel Sinn fürs Absurde alle Register seiner zwei Genres, und für mich waren gerade die (offenbar gewollten) Logiklöcher das größte Vergnügen. Die gibt es eine erstaunlich langsam brennende Bibliothek, die scheinbar größtenteils aus leeren Regalen zu bestehen scheint (Bücher sind einfach zu leicht entzündlich und zu umständlich zu zeichnen), und an einer anderen Stelle sind die Treppen zum nächsthöheren Stockwerk blockiert ... - vom Schulbus (muss wohl erst später die Klippe heruntergefallen sein).

Solche Momente sorgen für großes Amüsement, aber für Nostalgiker gibt es auch eine Actionsequenz, die ganz im Stil des fast vergessenen Videospiels Street Fighter gehalten ist. Ein echter Bringer ist auch der Streber Benji mit seinen Hasenzähnen und einer schwer zu beschreibenden Art, sich zu bewegen.

Obwohl der Film nur knapp über 70 Min. lang ist (Animation ist teuer!), nimmt man sich auch die Zeit, zwischendurch die zumeist traurigen Backstorys einiger Figuren zu beleuchten - und diese perfide Genreparodie, die ihre Geschichte aber dennoch at face value erzählt, funktioniert erstaunlich gut. Zwischendurch driftet man mal in eine psychedelische Phase (gut für den Kunstanspruch und dafür, einige Minuten preiswert zu füllen), fordert sein Publikum, indem man über Margaret Atwood, Ursula K. LeGuin und Samuel Delaney schwadroniert und holt sich dann die ultimative credibility ab, wenn neben Margo Martindale auch noch John Cameron Mitchell (sorry, wer nicht weiß, wer das ist, dem werde ich es auch nicht erklären!) eine kleine Sprechrolle übernimmt.

My Entire High School war nicht das superwitzige Meisterwerk, das ich mir erhofft hatte, aber für die dauerhaft bestätigte These, dass man nirgends auf der Berlinale so gut unterhalten wird wie in den 14plus-Komödien, ist der Film ein gutes Beispiel.


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Ikarie XB1
(Jindrich Polák, Retrospektive)

 
Vorführungen:
  • Sonntag, den 12. Februar um 19 Uhr im CinemaxX 8
  • Sonntag, den 19. Februar um 14 Uhr 30 im Zeughauskino

- jeweils mit Vorfilm Ropáci



CSSR 1963, Buch: Pavel Jurácek, Jindrich Polák, Lit. Vorlage: Stanislaw Lem, Kamera: Jan Kališ, Schnitt: Josef Dubrichovský, Musik: Zdenek Liška, Kostüme: Dena Rova, Ausstattung: Karel Lukas, Jan Zázvorka, Spezialeffekte: Jan Kališ, Milan Nejedlý, Jirí Hlupý, Pavel Necesal, Karel Cisarovsky, Frantisek Zemlika, mit Zdenek Štepánek (Abajev), František Smolík (Hopkins), Dana Medrická (Kirova), Irena Kacirkov (Brigita), Radovan Lukavský (MacDonald), Otto Lackovi (Michal), Miroslav Machácek (Bernard), Rudolf Deyl (Herold), Jirí Virstala (Svenson), Jozef Adamovic (Lorenc), Jaroslav Mares (Milek), 88 Min.[Hinweis: außer dem 'caron' über dem s bzw. S fand ich die Entsprechung des Häkchens über dem r (z.B. bei Jindrich), dem e (z.B. bei Zdenek) und dem c (z.B. bei Jurácek) nicht, womit die tschechische Schreibweise nicht ganz korrekt ist. Mein Verdacht ist aber leider, dass die auch schon im Pressematerial nicht perfekt war. Entschuldigung an jene, die den feinen Unterschied bemerken. Ich habe es zumindest versucht, wollte aber mit fehlendem Fachwissen nicht auch noch etliche unterschiedliche Versionen miteinander abgleichen. Nur Jan Kališ habe ich beide Male gleich geschrieben, weil das im Lexikon des Science Fiction Films (Hahn/Jansen, 1993) auch so stand. (TV)]

Im Pressematerial weist man darauf hin, dass die Mär geht, Stanley Kubrick habe sich vom Design dieses Films zu Details in 2001: A Space Odyssey inspirieren lassen (die sechseckigen Korridore legen dies durchaus nahe), aber aus meiner Sicht noch faszinierender ist die Frage, ob nicht vielleicht auch Gene Roddenberry den Film mal sah, bevor er sich bei Star Trek in dieser oder jeder Hinsicht entschied.

So oder so, Ikarie XB1 ist jedenfalls ein interessanter Film für all jene, die gerne auf Joghurtbecher und Bügeleisen bei Raumpatrouille Orion achten oder gerne historische Details in der Chronologie des SF-Films miteinander abgleichen.

Der Film ist aber nicht nur in der Ausstattung von Interesse, auch die Handlung ist trotz einer manchmal holprig wirkenden Dramaturgie äußerst fortschrittlich. Man orientierte sich ja immerhin an einer Romanvorlage von Stanislaw Lew (Solaris), und dem waren schon einige kernige Ideen eingefallen, wie man eine eigentlich klassische space opera nutzen kann, um über die eingeschränkte Fanbasis auch "normale" Zuschauer bei der Story andocken zu lassen.

Ikarie XB1 (Jindrich Polák, Retrospektive)

© National Film Archive, Czech Republic

Zwischen den mitunter luftig gewandeten und größtenteils auffällig attraktiven 40 Damen und Herren, die an Bord des Raumschiffs auch mal eine Art Opernball zelebrieren gibt es neben hochgefährlichen Missionen, wie sie 1:1 die wöchentliche Roddenberry-Dramaturgie (bis auf das budgetschonende Beamen) vorwegnehmen, auch ein paar zarte Liebesgeschichten, wobei mich vor allem der Konflikt faszinierte, dass einer der Astronauten (oder muss ich jetzt Kosmonauten schreiben?) kurzfristig seine schwangere Frau zurücklassen musste (»Wenn du wiederkommst, hab' ich eine 15jährige Tochter.«), während dann bei einer seiner Kolleginnen festgestellt wird, dass sie ebenfalls guter Hoffnung ist. Wie das während der Filmhandlung neugeborene Kind zum Schluss des Films in einer Parallelmontage mit dem entdeckten »weißen Planeten« nahe Alpha Centauri und dem »schöne neue Welt«-Mythos in einen thematischen Kontext gebracht wird, erinnert einen nachträglich durchaus an den (später entstandenen) Kubrick-Film. Und wenn man an topaktuelle SciFi-Filme wie Passengers oder The Space between us denkt, fällt umso stärker auf, dass man viele der heutigen Themen auch schon vor gut 50 Jahren auf ähnliche Art durchexerziert hat.

Mein Vorwurf bezüglich der »holprigen Dramaturgie« hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Tschechen damals filmsprachliche Besonderheiten hatten, mit denen ich nicht vertraut bin. Ich schildere es mal so, wie ich es erlebt habe: Gerade, weil ich Trekkie bin, entdeckte ich im Film gut drei bis vier Handlungsabschnitte, wie man sie sich gut in einer Serie vorstellen kann. Die bauen zwar aufeinander auf, aber die Handlung bleibt episodisch. Und ich fand, dass man nicht ausreichend Zeit bekam, die zahlreichen Protagonisten kennenzulernen. Auf mich wirkte die (eigentlich tolle) Handlung etwas rasch heruntererzählt, und ich hatte mehrfach den Eindruck, dass der Film als ausgedehnte Miniserie mit drei oder vier Teilen viel besser hätte funktionieren können.

So gibt es etwa hochemotionale Höhepunkte in der Handlung, denen aber nicht der Raum gelassen wird, angemessene Konsequenzen zu entwickeln. Damit meine ich keineswegs das clever umgesetzte Ende, sondern die Verstrahlung einiger Astronauten, die Entdeckung eines uralten Raumschiffs (da gibt es eine gute Handvoll Star-Trek-Episoden, die diese Handlung variieren) oder den lebensbedrohenden Wettlauf mit der Zeit, der dann aber eher wie nebenbei abgehandelt wird. An vielen Stellen hatte man den Eindruck, dass hier eine zeitliche Begrenzung (die natürlich auch im Budget begründet ist) verhinderte, dass der Film noch weitaus epochaler ausgefallen wäre.

Aber dennoch gibt es tolle Momente, an denen man sich delektieren kann. Allein für den eigentümlichen Zigarettenersatz, das tolle Design mit den Wandauslassungen, das nicht sofort als solches zu erkennende Logo des Schiffes, die ornamental immer hübschen zwölf Sternzeichen an der Wand (vgl. Battleship Galactica) oder die multinationale Besetzung liebe ich diesen Film.

Ein besonders tolles Detail gibt es in einer zunächst mysteriös wirkenden Prolog-Handlung, zu der der Film dann später den narrativen Faden spinnt. Ein panischer Mann rennt durch Korridore, eine Lautsprecherstimme versucht, auf ihn einzuwirken. Dabei werden die Vorspanntitel eingeblendet (ja, dieser Film hatte auch einen Choreographen!) und an einer Stelle sieht man eigentlich nur die seltsame Korridorwand mit untertassengroßen Noppen und einer Vierteilung der Leinwand durch irgendwelche Stangen oder so. Und wenn dann die nächsten Mitglieder der Filmcrew oben rechts und unten links eingeblendet werden, dann ist das eine (ungleich charmantere, weil im Szenenbild integrierte) Vorwegnahme des Abspanns vom Tatort (ab 1970). Es wirkt so, als hätten wirklich fast alle bei diesem Film Ideen stibitzt.


Bald in Cinemania 161 (Startschuss):
Berlinale-Kritiken zu Back for Good (Mia Spengler, Perspektive Deutsches Kino), Django (Etienne Comar, Wettbewerb), Estiu 1993 / Summer 1993 (Carla Simón, Generation Kplus) und Newton (Amit V Masurkar, Forum).