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Berlinale 2018, Teil 5: Green Grass
Die fest eingeplante Rezension zu Hong Sang-soos Grass entfällt, weil ich meine Notizen nicht wiederfand. Mir fiel aber kein mich ansprechender Ersatztitel für dieses Cinemania ein. Man stelle sich einfach vor, dass das grüne Gras unsichtbar sei. Das fördert die Fantasie.
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Green Fog
(Guy Maddin, Evan Johnson & Galen Johnson, Forum)
USA 2017, Schnitt: Evan & Galen Johnson, Musik: Jacob Garchik, mit (aus anderen Filmen zusammengeschnitten): Chuck Norris, Rock Hudson, Karl Malden, Michael Douglas, Martin Landau, Jeff Bridges, Glenn Close, Meg Ryan, Robert Ryan, Sidney Poitier, Vincent Price, Mark Harmon, Matthew Modine u.v.a., 62 Min.
Interessant, dass dieser Film bei den lieben Kritikerkollegen vor allem einen Diskurs zwischen Filmwissenschaft und Fremdwörterlexikon zum Vorschein bringt, während kaum jemand sich dafür interessieren scheint, dass das aus ca. 100 Filmen und Fernsehserien mit Schauplatz San Francisco (so ziemlich alles außer What's up, Doc, den ich vermisste) zusammengeschnittene Quasi-Remake von Vertigo (je genauer man den Hitchcock-Film kennt, umso deutlicher erkennt man die einzelnen Passagen wieder) die Clips unterschiedlich deutlich bearbeitete. Abgesehen vom titelgebenden grünen Nebel, der irgendwo zwischen außerirdischer Bedrohung und der hitchcockschen Jenseits-Patina wabert, gibt es etwa die immer näher deutlichere Vergrößerung der einen Vertigo-Einstellung (Scotties Hand ergreift eine Leitersprosse) und die auf Leinwände und Monitoren eingesetzten Fremdmaterialien, die über die reine Old-School-Montage insbesondere eine veraltete Überwachungstechnologie suggerieren, die nicht zu den unmittelbaren Themen des Hitchcockfilms gehört, aber hier ein selbstreflexives Spiel eröffnet, bei dem etwa der junge Michael Douglas aus The Streets of San Francisco seine blanke Kehrseite aus Basic Instinct kommentiert (»You're looking good, Mike!«). Und das Filmemachen selbst zum wichtigen Thema wird (Rock Hudson und sein Ablenkungsmanöver).
Auf dem akademischen Remake-Level funktioniert der Film, als postmodernes Kuleschow-Experiment, als augenzwinkernde Hommage an die Filmwissenschaft, wobei selbst die größten Schmierenkomödianten durch den Schnitt aufgewertet werden (besonders hübsch: die gefühlt zehnminütige Chuck-Norris-Passage, weil jener angesichts seiner bevorzugten Rache-Plots offenbart häufig in seiner Karriere Grund hatte, Trauer durch seine Mimik auszudrücken) - und nicht zuletzt auch als humorvolle Anti-Narration.
Ich habe mir den Film sogar zweimal angeschaut, und abgesehen davon, dass mich die Pixel-Vision beim zweiten Mal mehr störte (könnte aber auch einfach daran liegen, dass der Projektionist im Arsenal sich mehr Mühe gibt, dem Material gerecht zu werden), funktionierte The Green Fog immer noch bestens. Langeweile kommt bei dem einstündigen Kabinettstückchen keine auf, und wenn man schon ungefähr weiß, was einen erwartet, kann man sich kaum zügeln, oft schon im Voraus zu lachen (etwa bei dem hochdramatischen langen Absturz, der dann mit dem Antiklimax einer dilletantisch fabrizierten Puppe endet).
Wenn Karl Malden Clownsmasken anstarrt oder ein mir nicht bekannter Darsteller offenbar bevorzugt eine bestimmte Gesichtsgrimasse für seine Wut-Mimik benutzt (den Originalton hat man gerade in der ersten Hälfte des Films herausgeschnitten, aber die Handlung ist auch so durch deutliches Over-Acting immer erkennbar), so wirkt diese Bearbeitung von schnell heruntergekurbelten Produktionen plötzlich scheinbar tiefgründig. Selbst, wenn Rock Hudson sich eine Kopie eines Überwachungsvideos machen lässt, das eine kitschig verschmuste Boygroup zeigt. Oder man recht unmotiviert diverse Schnipsel aus Verfolgungsjagden hintereinandersetzt.
Interessant ist auch, dass nicht nur die beiden Stellen aus Mel Brooks' High Anxiety überdeutlich von Vertigo inspiriert scheinen. Ohne Golden Gate Bridge, harte Kerle, geheimnisvolle Damen, eine Straßenführung, bei der Anfahren am Berg zur Mindestanforderung wird - und eine ganze Reihe von Gemälden mit Frauenportraits und Kirchentürmen scheint San Francisco nicht denkbar.
Und wenn der Held dann seine Höhenangst überwunden hat und durch die psychotraumatische Tür schreitet, steht da eine Nonne aus Sister Act (oder Sister Act 2, ich kenne mich da nicht so aus) und fragt mit einer fatalen Unbekümmertheit »Going up or down?« (die Einstellung ist nicht lang genug, um den Verdacht zu bestärken, dass sie wohl in einem Fahrstuhl steht).
Recht interessant finde ich, dass der flapsige Zusammenschnitt auch ohne Wiedererkennen der Quellfilme tadellos funktioniert. Ich wollte mir den Film beinahe noch ein drittes Mal anschauen, muss aber zugeben, dass meine Hauptmotivation inzwischen vor allem daraus bestand, zu überprüfen, ob ich richtig mit meiner Annahme lag, ob das Material, das laut Abspann aus Star Trek IV (der mit der Walrettung) kam, tatsächlich nur in der einen Luftaufnahme bestand. Und streng genommen, hätte ich dann erst noch mal die Abenteuer von Spock und Kirk checken müssen. Und die (teilweise wiedererwachte) Neugier auf die Quellfilme ist auch ein schöner Nebeneffekt des Films. Eine Szene, die mich ein wenig verzauberte, zeigte etwa einen Kerl vom Typen Privatdetektiv, der in einem Museum zwei (nie gleichzeitig im Bild befindliche) junge Mädchen sieht, die jeweils vor einem Gemälde stehen, das sie betrachten. Von hinten sehen die beiden sich aufgrund Haartracht und Schuluniform extrem ähnlich, und der neugierig gewordene Kerl sieht sie sich deshalb auch genauer an. Mein bei obskuren Schwarzweiß-Filmen besser informierter Freund Christian knobelte heraus, dass es sich wohl um den Nicholas-Ray-Film Born to be Bad gehandelt haben könnte, der hier auf eine Clip-Miniatur verkürzt beispielhaft verdeutlicht, wie man eine Filmsituation auf die Hauptmerkmale von Vertigo verkürzen kann: Ein Mann untersucht zwei ähnliche Frauen und Gemälde spielen auch eine Rolle. Man muss nicht extra erwähnen, dass der Ray-Film natürlich acht Jahre vor Vertigo entstand...
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Whatever happens next
(Julian Pörksen, Perspektive Deutsches Kino)
Deutschland 2018, Buch: Julian Pörksen, Kamera: Carol Burandt von Kameke, Schnitt: Carlotta Kittel, Musik: Mahan Mobashery, Kostüme: Rebekka Stange, mit Sebastian Rudolph (Paul Zeise), Lilith Stangenberg (Nele), Peter René Lüdicke (Ulrich Klinger), Christine Hoppe (Luise Zeise), Eike Weinreich (Ben), Michel Diercks (Sebastian), David Simon (Kassierer), Fitim Jashari (Kellner), Chiaki Ikuta (Japaner), Eva Löbau, Maren Gilzer, 97 Min.
Die Kritikerzunft kann man in Bezug auf die Sektion »Perspektive Deutsches Kino« grob in drei Gruppen aufteilen. Es gibt jene, die brav alle Perspektive-Filme durchschauen (oft auch als Screener), um sich einen Überblick über die Nachwuchsfilmer zu verschaffen, andere meiden die Perspektive wie der Teufel das Weihwasser, und wieder andere suchen sich nur die vermeintlichen Rosinen raus. Das sind zumeist jene Filmen, von denen man schon im Vorfeld weiß, dass der Kinostart eine gemachte Sache zu sein scheint. Oder jene Filme, die durch prominente Darsteller aus dem Auswahl auffallen.
Innerhalb dieser Gruppen gibt es über die Jahre auch Verschiebungen. Ich weiß, dass ich in den ersten Jahren noch weitaus interessierter an der Perspektive war, dann aber ein paar Mal zu oft daneben gegriffen hatte (bzw. waren es vielleicht auch die Kuratoren) und mir lieber woanders etwas gesucht habe. Letztlich bin ich jetzt an dem Punkt angekommen, wo ich mir Besetzung und Kurzinhalt anschaue und dann noch die Kollegen frage, was sie mir empfehlen und wovor sie mich warnen können. Klappte dieses Jahr vorzüglich.
Whatever happens next war dieses Jahr der einzige Perspektive-Film, den ich mir schon vorab anschaute (da wissen die Kollegen auch nicht mehr als man selbst), weil Lilith Stangenberg meist Rollen in etwas abseitigen Filmen auswählt und auch der Kurzinhalt vielversprechend (oder zumindest unterhaltsam) klang.
Paul Zeise (Sebastian Rudolph) fährt mit seinem Fahrrad eine Landstraße entlang, als er scheinbar ganz spontan das Fahrrad abstellt, einen Zaun übersteigt und in den Weiten der Flur verschwindet.
Der Film verfolgt den weiteren Weg des Aussteigers, der sich von einer Familie mitnehmen lässt oder bei einer Beerdigung für ein wenig Unruhe sorgt, ehe er dann auf die auch etwas durchgedrehte (und deutlich jüngere) Nele (Lilith Stangenberg) trifft, mit der zusammen er schließlich auf eine verlassene Wohnung aufpasst.
© The StoryBay UG / Carol Burandt von Kameke
Zu dieser sehr kurzweiligen und improvisiert wirkenden Haupthandlung gesellt sich noch die parallel ablaufende Story von Pauls Ehefrau Luise (Christine Hoppe), die einen Privatdetektiv beauftragt, ihren Mann zu finden. Die vier Hauptfiguren mäandern immer mal umeinander herum, es gibt kleine Zufallstreffen, die aber nur selten ein rigides Handlungsmuster vorantreiben, sondern zumeist parabelhaft und kontemplatorisch bleiben. Whatever happens next bietet vor allem kleine Momente, die unterschiedliche Zuschauer an unterschiedlichen Stellen ansprechen. Ob man jetzt selbst darüber nachdenkt, wie so ein Ausstieg wäre, oder ob man sich nur an den teilweise etwas absurden Situationen erfreut, der Film bleibt locker-leicht, aber hat auch einen tiefergehenden Kern. Und irgendwie einen klitzekleinen Schuss von der Melancholie Aki Kaurismäkis.
Gerade die spielerische Struktur sprach mich an, der Versuchsaufbau »C trifft B oder vielleicht auch nicht«. Und die scheinbar unwichtigste der Figuren, der etwas gehemmt wirkende Detektiv mit dem unsexy klingenden Namen Ulrich Klinger (Peter René Lüdicke) wurde für mich in nur wenigen Szenen zu so etwas wie der etwas späten deutschen Antwort auf den frühen Philip Seymour Hoffman.
Kein unverzichtbares Meisterwerk, aber schon durch die kompetent auftretende Personalunion von Buch und Regie (Julian Pörksen hatte schon mal den halbkurzen Sometimes we sit and think and sometimes we just sit, der mich schon allein vom Titel her anspricht, im Perspektive-Programm von 2012) und die wirklich guten Darstellerleistungen zumindest im oft viel zu ernsten Festivalgetummel sehenswert.
Aus meiner Sicht braucht die Berlinale mehr so locker-leichte Baiser-Stückchen. Man kann ja einen Warnhinweis dranhängen für jene Festivalbesucher, die mehr auf die politisch bedeutsamen zentnerschweren »besonderen« Filme, die mir manchmal gar nicht so besonders erscheinen, sondern nur besonders dröge.
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Ondes de choc - Journal de ma tête / Shockwaves Diary of my Mind
(Ursula Meier, Panorama)
Schweiz 2018, Intern. Titel: Shockwaves: Diary of my Mind, Buch: Antoine Jaccoud, Ursula Meier, Kamera: Jeanne Lapoirie, Schnitt: Nelly Quettier, mit Fanny Ardant (Esther Fontanel), Kacey Mottet-Klein (Benjamin Feller), Jean-Philippe Écoffey (Richter Mathieu), Stéphanie Blanchoud (Maître Rayet), Carlo Brandt (Franck Butler), Jean-Quentin Châtelain (Pierre Feller), 70 Min.
Vier Schweizer Regisseure verfilmen fürs Schweizer Fernsehen mehr oder weniger berühmte Schweizer Kriminalfälle. Zwei der vier schaffen es ins Panorama-Programm, ich schaue aber nur den von Ursula Meier, weil mir die Regisseurin vertraut ist und die Besetzung nicht nur mit Fanny Ardant aufwarten kann, sondern auch mit dem von Meier entdeckten Kacey Mottet-Klein, dessen Aufwachsen ich nun seit einigen Jahren verfolge.
Der Filmtitel, insbesondere der Serientitel »Shockwaves«, bringt ja schon gewisse Erwartungen mit sich. Doch die durchkreuzt der Film für den uneingeweihten Zuschauer gleich einmal. Der junge Mann (Mottet-Klein), der hier in leicht verwirrtem Zustand bewaffnet eine Polizeiwache betritt, ist gar kein tolpatschiger Terrorist, sondern jemand, der seine Gewalttat bereits hinter sich hat und sich nun stellt.
Zuvor hatte er bei der Post einen Umschlag abgegeben, und um eine kreative Schulaufgabe, ein Tagebuch, das nun ins Zentrum der Ermittlungen gerät, geht es in dem Film. »Eigentlich wollte ich sie nicht töten.« Lapidar beschreibt das Journal von den Tagen, bevor Benjamin seine Eltern erschossen hat. Die Lehrerin (Ardant), die über die Verbindung zum Täter in den Kriminalfall hereingezogen wird, hätte laut Polizei »seinen Hass spüren müssen«, doch sie weigert sich sogar, den Ermittlern das Manuskript vorzulesen. Die Logik der Polizisten, es sei ja an sie adressiert, verpflichtet sie ja keineswegs zu dieser Aktion, von der sich die Beamten irgendwelche Einsichten erhoffen...
© Bande à part Films / Jeanne Japoirie
Sie wird hier und da wie eine Mitverantwortliche behandelt (jedes Buch, das sie ihrem Schüler einst empfahl, entwickelt sich zum Indizienbeweis), doch die eigentliche Geschichte des Films entwickelt sich erst, als der Junge im Knast sitzt und nach Verbüßen wieder frei kommt, die Lehrerin aber als scheinbar einzige noch den Menschen hinter dem »Täter« wahrnimmt.
Die Lehrerin, die ihren Schülern beibrachte, sich auszudrücken, bekommt hier eine neue Bedeutung. Genau wie der auf dem Lehrplan stehende Ödipus. Meier nutzt die filmische Erzählung teilweise auf der Suche nach den Gründen für die Morde, beschränkt sich aber nicht darauf, sondern geht weit darüber hinaus, wenn die Lehrerin später mit Benjamin das Grab der Eltern besucht, sich also weiterhin einer gewissen Verpflichtung stellt, sich dabei aber eine gewisse Distanz ausbittet.
Dass man realen Menschen nicht einfach »in den Kopf schauen« kann, wie man es bei fiktiven Figuren fast schon gewohnt ist, ist die größte Stärke und Schwäche des Films. Benjamins »diary of my mind« gibt mehr Fragen auf als es Antworten liefert, und bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für den Film. Und es kommt jetzt darauf an, ob man sich als Zuschauer auf diese Fragen einlässt oder die »herkömmliche«, im Film mehrfach angerissene Erzählsituation bevorzugt und vermisst. Für mich erwächst gerade aus diesem Konflikt der Reiz des Films, auch, wenn ich gerade im Schlussteil einige Schwächen finde. Aber sowohl für die Regisseurin wie auch für ihren Hauptdarsteller ist der Film eine Weiterentwicklung. Es bleibt nur die Frage, ob man mit dieser Richtung zufrieden ist. Vorerst bin ich es noch, einer Herausforderung beizuwohnen ist auch dann mein Ding, wenn man zumindest teilweise daran scheitert. Wenn ein Regisseur sich einer Herausforderung nicht stellt oder ein Scheitern geschickt verbirgt, gelingt es natürlich viel einfacher, sich beim Publikum anzubiedern. Und »gelungene« Filme abzuliefern. Doch auch, wenn man durch seine Ambitionen immer wieder die Gefahr eingeht, Zuschauer zu vergraulen, ist es doch der deutlich spannendere Weg.
Als Kritiker versucht man sich dann einzureden, dass die Künstler, die man irgendwann rüde abfertigt oder generell verstößt, eben keine Ambitionen haben, sondern diese nur vortäuschen. Aber jemand, der so einen Film wie Journal de ma tête dreht, will sich in meinen Augen bei niemanden anbiedern, sondern offenbart sich.
Hier folgten ursprünglich einige Absätze, die die Situation von Ursula Meier, von Benjamin und von einem Filmkritiker miteinander verglichen. Ich musste nur dabei feststellen, dass mein textliches Scheitern nach meinen eigenen Ansprüchen hier keiner »Offenbarlegung« glichen. Und so belasse ich es beim vagen Denkansatz. Der deutlichste Unterschied zwischen mir und Benjamin besteht darin, dass es für mich quasi die Aufgabe ist, meine »Motive« verständlich zu erklären, wenn ich einen Film massakriere. Da kann ich Benjamin nur beneiden.
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Don't worry, he won't get far on foot
(Gus van Sant, Wettbewerb)
USA 2018, Buch: Gus Van Sant, Lit. Vorlage: John Callahan, Kamera: Christopher Blauvelt, Schnitt: Gus Van Sant, David Marks, Musik: Danny Elfman, Production Design: Jahmin Assa, Kostüme: Danny Glicker, mit Joaquin Phoenix (John Callahan), Jonah Hil (Donnie), Rooney Mara (Annu), Jack Black (Dexter), Tony Greenland (Tim), Beth Ditto (Reba), Udo Kier (Hans), Kim Gordon (Corky), Emilio Rivera (Jesus Alvarado), Carrie Brownstein (Suzanne), Olivia Hamilton (Nurse Lilly), Mark Webber (Mike), Santina Muha (Debbie), Gus Van Sant (Willamette Week Editor), 113 Min., Kinostart: 23. August 2018
Ich bin bekannt dafür, dass mir manchmal Winzigkeiten einen ganzen Film verderben. In diesem Fall ist es so, dass ich mit den Cartoons von John Callahan ziemlich vertraut bin und auch seine teilweise illustrierte Autobiographie vor zwei Jahrzehnten oder so gelesen habe. Dass das Werk eines Künstlers auch Bestandteil eines Biopics wird, ist natürlich Ehrensache, aber mich hat es einfach genervt, dass Callahans Zeitungs-Cartoons hier zu kurzen Animationsfilmen wurden, die zwar seinen speziellen Zeichenstil einfingen, aber keinen Mehrwert hatten.
Es gibt ja Leute, die glauben, in einem Film muss sich immer irgend etwas bewegen. Deswegen werden auch in vielen modernen Dokumentarfilmen Fotos plötzlich zu Animationen, obwohl man dadurch die Integrität des Quellmaterials zerstört. Aber offenbar wird es wohl Zuschauer geben, die immer noch fasziniert sind, wenn man etwas leblosem Leben einhaucht. Unterhaltung ist heutzutage längst viel wichtiger als Authentizität.
Wenn man die Hand des (dargestellten) Künstlers beim Erstellen seines Werkes zeigt, ist das für mich völlig in Ordnung, aber John Callahan hat eben keine Zeichentrickfilme fabriziert, und meines Wissens wurden sie auch nachträglich nicht dazu (wie etwa beim deutschen Cartoonisten Ralph Ruthe, der durch Flashanimationen versucht, mehr Bücher zu verkaufen). Und dann brauche ich auch keine Animationen sehen, in denen die Figuren leicht flattern und die punch-line nach und nach erscheint. Insbesondere, wenn es sogar Teil des im Film porträtierten Schaffungsprozesses ist, dass Callahan die Gags nicht immer einfach zuflogen, sondern er oft lange an Variationen arbeitete, auf der Suche nach dem besonders gelungenen Gag (wobei er aber oft auch diverse Variationen veröffentlichte, Gags über die O.J.-Simpson-Verhandlung oder Madonnas Spitztüten-BHs findet man in seinen Büchern teilweise inflationär oft).
So, dieses (für mich) generelle Problem des Films haben wir jetzt hinter uns, kommen wir zum ansonsten eigentlich durchaus gelungenen Film.
Die Verfilmung stützt sich vor allem auf ein Kapitel der Autobiographie, das zwar einen größeren Zeitraum Callahans Lebens bestimmte, aber im Film schon durch die Dauerpräsenz der sehr prominent besetzten Gruppe von Anonymen Alkoholikern der ganzen Handlung einen gewissen Halt verschafft.
Für Uneingeweihte eine kurze Einführung in die wichtigsten Details im Leben John Callahans (so wie es im Film beschrieben wird): Schon in jungen Jahren (es fällt etwas schwer, Joaquin Phoenix als 23jährigen für voll zu nehmen) ist John dem Alkohol verfallen. Nach einem schweren Autounfall, bei dem Beifahrer John genauso wie der Fahrer (Jack Black) hackebreit waren, sitzt John fortan in einem Rollstuhl, trinkt aber nicht unbedingt weniger. Mithilfe einer Krankentherapistin (Rooney Mara) und des Anführers seiner Gruppe der Anonymen Alkoholiker (Jonah Hill, der zwischendurch reichlich abgenommen hat) kriegt er irgendwann wieder die Kurve, nicht zuletzt auch, weil er inzwischen zu einer kleinen Sensation als Zeitungscartoonist wurde.
© 2018 Amazon Content Services LLC / Scott Patrick Green
Die Geschichte wird auf mehreren Zeitebenen erzählt. Man sieht John (Joaquin Phoenix) auf einer Bühne, wo er vor einer Preisverleihung von seinem Leben erzählt, gleichzeitig sieht man aber auch, wie sich dieses entwickelt (vor dem Unfall), und es gibt Passagen mit der Therapiegruppe (sehr prominent besetzt) bzw. mit seinem nicht sehr fürsorglichen, weil ebenfalls dem Alkohol zusprechenden Pfleger. Diese Art der Adaption ist eigentlich ganz clever, weil man nicht auf den tragischen Momenten ewig verweilt, sondern die Cartoons bereits den humorvollen Blick auf die Entwicklungen mitliefern.
Das Hauptmerkmal der Autobiographie ist, dass man als Leser abstrahieren muss, wie viel der Wahrheit entspricht und wo Callahan etwas übertreibt, weil es so einfach unterhaltsamer ist. Je mehr man sich in seinen Cartoons auskennt, umso mehr autobiographische Elemente findet man, bis hin zu einem Kinderbuch, in dem man die Callahan-Figur ohne Probleme wiedererkennt. Gerade die Momente seines Lebens, die hochnotpeinlich oder schmerzhaft sind, werden in den Cartoons besonders witzig, was eigentlich widersinnig scheint. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit dieser wichtige Kunstgriff dem Kinopublikum offenkundig wird oder man vielleicht den Fehler macht, etwas einfach als übertrieben oder auf Gags zugespitzt wahrzunehmen. Aber man kann dies nicht unbedingt trennen.
Kurz nach Good Will Hunting hat Robin Williams, zufrieden mit der Zusammenarbeit mit Regisseur Van Sant, diesem eine Verfilmung von Callahans Buch nahegelegt. Irgendwie wurde das Projekt immer wieder verschoben, und aus der heutigen Sicht entgeht der Film mit dem meistens sehr ernst auftretenden Joaquin Phoenix in der Hauptrolle irgendwie den schlimmsten Fallstricken. Die Mischung aus erbauender Lebenserfahrung, überdrehtem Humor und authentischem Biopic klappt eigentlich ziemlich gut und wird der Figur Callahan gerecht. Meine Lieblingsszene des Films bringt ganz zum Schluss noch mal alles auf den Punkt. Mit jugendlichen Skatern probiert Callahan im Rollstuhl auf einer selbstgebauten Halfpipe (naja, im Ansatz ist sie zu erkennen) zu brillieren und legt sich dabei erwartungsgemäß aufs Maul. Aber mit seinem ungebrochenen Lebenswillen rappelt er sich wieder auf, man lacht gemeinsam über diesen unangebrachten Daredevil-Stunt, und man kann sich ohne Probleme vorstellen, wie Callahan daraus einen Cartoon machen würde. Und genau so läuft es auch in seiner (reichlich illustrierten) Autobiographie. Dass Van Sant den Mut und die Vision hatte, der Vorlage im Geiste so nahe zu kommen, ist schon ein großer Verdienst, auch, wenn ich befürchte, dass Zuschauer, denen der Zugang zu Callahan fehlt, mit dem Projekt so ihre Probleme haben könnten.
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Unsane
(Steven Soderbergh, Wettbewerb außer Konkurrenz)
USA 2018, Originaltitel: Unsane, Buch: Jonathan Bernstein, James Greer, Kamera: Peter Andrew (d.i. Steven Soderbergh), Schnitt: Mary Ann Bernard (d.i. Steven Soderbergh), Production Design: April Lasky, Set Decoration: Kim Fischer, Kostüme. Susan Lyall, mit Claire Foy (Sawyer Valentini), Joshua Leonard (David Strine), Jay Pharoah (Nate Hoffman), Juno Temple (Violet), Sarah Stiles (Jill), Marc Kudisch (Bank Manager), Amy Irving (Angela Valentini), Colin Woodell (Mark), Myra Lucretia Taylor (Counselor), Lynda Mauze (Dolores), Zach Cherry (Dennis), Polly McKie (Nurse Boles), Raúl Castillo (Jacob), Mike Mihm (Steve), Robert Kelly (Steve's Partner), Matt Damon (Police Officer), 98 Min., Kinostart: 29. März 2018
Wie Steven Soderbergh mir die Berlinale vermieste
Wer auch nur ansatzweise aufmerksam meinem Publikationsrhythmus folgt, wird schon vor Wochen alle Hoffnung aufgegeben haben, dass der am 24. März in Cinemania 181 vollmundig angekündigte fünfte Rutsch von Berlinale-Rezensionen jemals das Licht der Welt erblicken wird (vom außerdem geplanten sechsten Rutsch, von dem kaum jemand etwas ahnte, ganz zu schweigen).
Apropos Schweigen: ich werde selbiges brechen und kurz schildern, wie es dazu kam. Hierbei kann ich keine psychoanalytischen Fachtermini liefern, sondern nur eher vage Gemütszustände, die womöglich der Feld-, Wald- und Wiesendefinition einer mittelkräftigen Depression entsprechen mögen, für mich aber eher den Tatumständen weitaus blumiger ausfallender Symptome gleichen, als da wären »chronische Unlust« und »permanentes Phlegma«.
Vielleicht hätte ich die Warnungen früher wahrnehmen sollen. Schon im Jahre 2017 spielte ich mit dem Gedanken, mal eine Berlinale auszulassen, doch die SciFi-Retrospektive war für mich der finale »Umstimmer« (auch, wenn ich das Angebot dann doch nur eher leidlich auskostete). 2018 sah es schon in den Startlöchern schlimmer aus. Aus unerfindlichen Gründen begannen Berlinale und Pressevorabvorführungen unverhältnismäßig spät, und es gelang mir, nahezu 50% der ersten sieben Pressevorführungen wegen akutem Desinteresse vorzeitig abzubrechen. Von den verbleibenden vieren, die ich zuende gesehen hatte, würde ich auch nur zwei empfehlen (und zwar den neuen Song Sang-soo und den Retrospektive-Beitrag Das Abenteuer der Thea Roland).
Kurz darauf erhielt ich einen arbeitsaufwendigen, aber lukrativen Auftrag, der meine geheimen Pläne, kurzfristig (ohne Angabe von Gründen) von meinem bereits bewilligten Akkreditierungsantrag wieder abzusehen, quasi sabotierten. Denn da ich mir nun sicher war, das etwaige Akkreditierungsentgeld sicher wiederzubekommen, konnte ich ja ohne finanziellen Druck der Veranstaltung beiwohnen.
Aber irgendwie ist es ja doch so: wenn man schon den Zugang zum all-u-can-eat-Büffet hat, ist man ja doch mehr, als gut für einen ist. An den ersten fünf Berlinale-Tagen sah ich dann auch jeweils mindestens einen Film, den ich im Nachhinein nicht gerne verpasst hätte (darunter meine vier Lieblingsfilme der diesjährigen Berlinale) und für Tag 6 und 7 hatte ich dann doch ein ziemlich vollgestopftes Programm.
Am Tag 6 (Dienstag) kam es somit zu fünf Filmen, die ich sichtete. Davon war das John-Callahan-Biopic (Don't worry usw., siehe weiter oben) von Gus Van Sant ein sehr unterhaltsamer Einstieg, während der Panorama-Tearjerker La enfermedad del domingo, die Perspektive-Kurzdoku Draußen und der Forumsbeitrag Premières solitudes eher so den Tag zerdehnten und auch die Wettbewerbs-Wiederholung 7 Days in Entebbe in mir eher die Frage aufsteigen ließ »Warum musste man jetzt diesen Film drehen?«.
Für Tag 7 hatte ich abermals fünf Vorführungen geplant, wovon zwei aber Kurzfilmprogramme waren, bei denen ich wusste, dass ich mindestens den letzten Film ausfallen lassen müsste, um rechtzeitig ins nächste Kino zu kommen. Letztlich fielen dann sogar jeweils die letzten zwei Filme aus, weil man sich viel Zeit ließ, Programm und Gäste vorzustellen, aber Cena d'aragoste, Viel zu klein, Hvalagapet, Peter und der Wolf, Blaue Mäuse gibt es nicht und Paulchen Haselnuß schafften es immerhin alle in meine Top 30. Das sind sechs von zwölf gezeigten Filmen, und da ich je zwei (also zusammen vier) »ausfallen« lassen musste, weil ich mir vom neuen Soderbergh und dem Forums-Beitrag und Sundance-Liebling Madeline's Madeline (abgebrochen) irgendwas versprochen hatte. In beiden Fällen hätte ich lieber auch die letzten beiden Kinder-Kurzfilme sehen sollen. Den Soderbergh habe ich bis zum Ende durchlitten (Kritik folgt gleich), und danach war ich noch zum Forum-Expanded-Beitrag The Rare Event, weil ich der irrigen Annahme war, dass 60 Minuten schnell vorbei sind. Das war aber auch ziemlich gequirlte Scheiße für Hardcore-Intellelle und Kunstlehrer.
To cut a long story short: Am nächsten Morgen stand ich um kurz nach neun in der Dusche (erster Film begann um 10 Uhr) und war kurz davor, das Wasser anzudrehen, entschied mich dann aber dagegen, sah mir noch mal mein Programm der nächsten vier Tage an ... durchsuchte dann das Berlinale-Programm nach völlig anderen, womöglich interessanteren Filmen. Und entschied dann, dem Festivaltrubel eher fernzubleiben, mal wieder auszuschlafen und vielleicht die noch geplanten Cinemanias bis Ende der Berlinale fertigzustellen. Bei Cinemania 182 gelang das dann auch (online am zweiten Berlinale-Samstag), aber von den anderen elf Rezensionen habe ich im Verlauf der nächsten vier Wochen zwar alle Credits, Bilder und Copyrights zusammengesucht, aber überhaupt nur zwei Texte angefangen, was in Sachen procrastination selbst für meine Person außergewöhnlich ist. Wie ein faustgroßer, längst geschmackloser Klumpen Kaugummi drohte mir diese Altlast den Atem abzuschnüren, und auch meine »normalen« »Filme der Woche« habe ich in dieser Zeit deutlich später abgegeben, ehe ich jetzt in der Karwoche versuche, mich durchzubeißen (und mir übrigens dafür extra eine kinofreie Woche verschrieben habe).
Es wäre natürlich unfair, Steven Soderbergh die gesamte Schuld für meine persönlichen Unzulänglichkeiten zuzuschreiben, aber tief in meinem Herzen weiß ich, ohne diesen Berlinale-Dienstag und -Mittwoch wäre mein erstes Quartal 2018 irgendwie weitaus besser verlaufen.
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Nun zum Film, und ich rotze diesmal etwas deutlicher fast alles raus, was mir im Hals steckengeblieben war.
Sawyer Valentini (Claire Foy) ist gerade von Boston nach Pennsylvania umgezogen (wegen Problemen, die sich im weiteren Verlauf des Films zeigen werden), hat aber bereits wieder einen vielversprechenden Posten als Finanzanalystin gesichert. Ihr Chef ist sehr zufrieden mit ihr und würde sie gerne zu einer wichtigen Tagung mitnehmen, wobei ziemlich offensichtlich ist, dass die gemeinsame Hotelunterbringung ein Fall für die #MeToo-Bewegung wäre. Sawyer versucht sich möglichst diplomatisch aus der Situation herauszuwinden (»I think I need a little bit more experience«), der Chef entspricht indes allen schleimigen Klischees von Spacey bis Trump (»I can help you with that...«)
Vielleicht habe ich irgendwelche deutlichen Anzeichen übersehen, aber nach dieser Szene hat man ja eine gewisse Vorstellung, wie sich der Film entwickeln könnte. Aber weder Sawyers Job noch ihr Vorgesetzter spielen im weiteren Verlauf des Films eine Rolle. Stattdessen erfährt man von ihrem etwas gespaltenen Verhältnis zu ihrer Mutter (Amy Irving) und einem Stalker, der sie einst verfolgte, was immer noch zu Angstzuständen führt und bei einem Date mit offensichtlich von beiderlei Seite rein körperlichem Interesse zu einem Panikanfall führt.
Am nächsten Tag begibt sich Sawyer in Therapie, wo sie ihre Situation erklärt und auch recht freimütig bis flapsig ihre suizidalen Tendenzen erwähnt. Als sie etwas später im »Highland Creek Behavioral Center« vorspricht, dieses aber nicht sofort verlassen darf, während sich die Männer in den weißen Anzügen nähern, fällt bereits der gesamte Film für mich zusammen, weil Claire ungeachtet ihrer psychologischen Probleme einen ganz hellen Eindruck machte, sie aber die drohende Gefahr, in die sie aufgrund einer unbedachten Unterschrift gerät, nicht im geringsten realisiert. Eine Hauptfigur, die sich trotz deutlicher Anzeichen sprichwörtlich »dumm wie Brot« in eine solche Gefahr begibt, kann ich irgendwie nicht ernst nehmen. Und damit auch den Film immer weniger.
Gegen ihren Willen steckt sie jetzt »zur Beobachtung« in der korrupten Klapse, und der Film erklärt nebenbei, dass dies eine ausgeklügelte und offenbar durchaus verbreitete Methode ist, aus leeren Betten eine finanzielle Grundsicherung der Klinik zu machen. Das körperliche und mentale Wohlbefinden ist hier keine Priorität.
© Fingerprint Releasing / Bleecker Street
Doch wenn man jetzt annimmt, es könne sich bei Unsane um ein medizinisches Drama handelt, das gesellschaftliche Missstände ankreiden will (ähnlich wie in Soderberghs letztem Berlinale-Beitrag Side Effects), liegt diesmal noch falscher.
Im zur Berlinale vorliegenden Presseheft wurde man noch gebeten, Spoiler zu vermitteln. Dass dies inzwischen nicht mehr gilt, besiegelt für mich schon der deutsche Verleihtitel. Man könnte ja jetzt glauben, dass Sawyer sich nur einbildet, dass einer ihrer Pfleger ausgerechnet ihr Stalker aus Boston sein soll (Unsane), aber wir befinden uns hier nicht in einer modernisierten Fassung von Samuel Fullers Shock Corridor, sondern in einer Art »Kafka als Komödie«, aus der ganz schnell ein vor allem in Figurenzeichnung und logischer Konsistenz des Drehbuchs sehr rückwärtsgewanter Giallo wird (»Ausgeliefert«).
Vermutlich habe ich den Film bis zum Schluss durchlitten, weil ich mir noch irgendeine Pointe erhofft habe, die gegen Ende noch irgendwas rettet, aber der Film wurde wortwörtlich »dumm und dümmer«. Zu Beginn war es noch leidlich unterhaltsam, wenn Juno Temple als »Violet« (wie violent ohne das n, wie sinnig!) gemeingefährlich mit Tampons wirft oder Sawyer mit Mitinsasse Nate (Jay Pharoah) geheime Pläne schmiedet, aber auch, wenn man jetzt mal zu ignorieren versucht, wie absurd es ist, dass Stalker David (Joshua Leonard) quasi wie eine Spinne mit Hypnosefähigkeit in Ruhe ein Netz geknüpft haben soll, in dass Sawyer aus unerfindlichen Gründen hineinlatscht, Unsane hat eines der schwächsten Drehbücher, die man sich für solch einen Film vorstellen kann, und Steven Soderbergh scheint auch nicht das geringste Interesse gehabt zu haben, einige der schwächeren Punkte des Stoffs korrigieren zu wollen.
Stattdessen hat er als sein alter ego, dem Kameramann Peter Andrews etwas mit einem iPhone herumgespielt (laut eigener Aussage eine der »befreiendsten Erfahrungen seiner Karriere«), was sich vor allem dadurch manifestiert, dass Sawyer fast mit der Nase aus der Leinwand zu stoßen scheint und Soderbergh offenbar ein diebisches Vergnügen daran hatte, das iPhone in irgendwelche kleinen Ecken zu bugsieren, aus denen heraus dann gefilmt wird. Leider bin ich der Meinung dass selbst die mittlerweile fast etablierte »Kühlschrank-Kamera« eigentlich nur eine Existenzberechtigung hat, wenn man für Joghurt oder Tiefkühlpizza wirbt.
Hier und da hat Unsane eine so absurde Komik, dass man den Film fast noch als unterhaltsam durchgehen lassen könnte (no touching the patients, masturbating in their hair is okay), aber ich hatte mir sehr früh einen Hass angefressen, den man nicht mehr besänftigen konnte. Dann gibt es auch noch idiotische Einstellungen mit Deckenkamera, bei denen scheinbar die Tür zur Gummizelle, in der sich Sawyer eingesperrt findet, offen steht... und nach einem von langer Hand vorbereitetem Showdown, für das man keine zwanzig Jahre als Filmkritiker vorweisen muss, um sie von weitem kommen zu sehen, folgt dann auch noch ein noch blöderes Finale, das man schon oft in Horrorfilmen sah, bei denen man im Normalfall Tele5 Tele5 sein lässt und sich lieber verabschiedet.
Ich hatte übrigens während des Films den Eindruck, dass die mir unbekannte Claire Foy (Golden Globe für The Crown) nicht unbeteiligt daran war, dass mir der Film so missfiel, aber das lag vermutlich daran, dass ihre Figur halt immer nur so viel Intelligenz besitzen durfte, wie ihr das Drehbuch zugesteht - das stammt von zwei Routineschreibern, die sonst (jeweils gemeinsam!) Filme wie Just my Luck (mit Lindsay Lohan), The Spy next Door (mit Jackie Chan) oder Larry the Cable Guy - Health Inspector verbrechen, zwischenzeitig (bis vor Unsane) aber fast acht Jahre lange kein realisiertes Projekt vorweisen können. In meinem zweiten Film mit Claire Foy, Breathe von Andy Serkis (Rezension folgt zum Kinostart), erschien sie mir ungleich sympathischer und begabter.
Demnächst in Cinemania 183 (Shorties for Shorties):
Die allerletzten Berlinale-Rezensionen, diesmal zu Generation Kplus Kurzfilmen: Cena d'aragoste / Lobster Dinner (Gregorio Franchetti), Hvalagapet / Walschlund (Liss-Anett Steinskog), Lost & Found / Fundgrube (Bradley Slabe, Andrew Goldsmith), Peter und der Wolf (Günter Rätz, 1973), Pinguin (Julia Ocker) und Viel zu klein (Monika Anderson, 1983).