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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




24. Februar 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org
Berlinale 2018



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet.


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Berlinale 2018, Teil 4:
Berlinale Special



◊ ◊ ◊

Unga Astrid /
Becoming Astrid
(Pernille Fischer Christensen, Berlinale Special)

 
Letzte Vorführung:
  • Sonntag, den 25. Februar
    um 10 Uhr im Berlinale-Palast


Schweden / Deutschland / Dänemark 2018, Buch: Kim Fupz Aakeson, Pernille Fischer Christensen, Kamera: Erik Molberg Hansen, Schnitt: Åsa Mossberg, Kasper Leick, Musik: Nicklas Schmidt, Kostüme: Cilla Rörby, Production Design: Linda Janson, mit Alba August (Astrid Ericsson), Marie Bonnevie (Hanna Ericsson), Henrik Rafaelsen (Reinhold Blomberg), Magnus Krepper (Samuel Ericsson), Tryne Dyrholm (Marie), Björn Gustafsson (Sture), Mira Mitchell (Berta), Liv LeMoyne (Saga), Marius Damslev (Lasse 3 Jahre alt), Isaak Lydik Radion (Lasse 2 Jahre alt), Maria Fahl Vikander (Astrid 1987), 123 Min., Kinostart: 6. Dezember 2018

In meiner Kindheit habe ich vergleichsweise wenige Astrid-Lindgren-Bücher gelesen (oder vorgelesen bekommen), und über die Biografie der schwedischen Kinderbuchautorin wusste ich vor dem Film so ziemlich gar nichts. Zumeist kenne ich nur die Verfilmungen von Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, während ich Ferien auf Saltkrokan und Wir Kinder aus Bullerbü schon ziemlich verdrängt habe und Ronja Räubertochter nie sah.

Für Unga Astrid ist das nicht unbedingt von Nachteil, um die Schriftstellerkarriere geht es hier nicht, sondern über die Zeit davor. Der Film beginnt zwar mit einer recht alten Astrid, die zu einem Geburtstag Fanbriefe mit bunten Kinderbildern öffnet und eine MusiCassette mit Sprechbeiträgen einer Schulklasse abspielt. Einer der cleveren Kniffe des Drehbuchs besteht jetzt darin, dass die Kommentare der Kinder jeweils ganz auf die Filmhandlung abgepasst wurden. So wundert sich gleich zu Beginn ein kleiner Junge, warum Astrid sich denn so gut in die Kindheit ihrer Figuren einfühlen könne, wo doch ihre eigene Kindheit so kurz war.

Da war man dann gleich zu Beginn fest eine Spur zu (mit langem u) clever, denn zum einen fragt man sich ja, wieso ein (so glaube ich) Viertklässler sich so gut auskennt in der Geschichte der Autorin - und zum anderen ist diese von den Drehbuchautoren gewählte Formulierung in meinen Augen auch etwas überzogen, denn abgesehen davon, dass die kleine Astrid durchaus mal auf dem Hof der Eltern mithelfen musste, lernt man sie erst mit 16 kennen, und da ist sie zwar schon etwas naseweis, um nicht zu sagen intelligent und talentiert, aber es ist ja jetzt nicht so, dass sie mit 11 missbraucht oder mit 8 in die Kohlenmine geschickt wurde.

Unga Astrid / Becoming Astrid (Pernille Fischer Christensen, Berlinale Special)

© Erik Molberg Hansen

Nachdem man sie bei einem Tanzfest sah, wo eine auffälligere Klassenkameradin gewählt wird, während sie eine Freundin auffordert und schließlich ausgelassen alleine abhottet, bekommt sie ein Praktikum beim örtlichen Zeitungsverleger Blomberg (dem Vater ihrer Freundin Berta). Der hat gerade gehörig Stress mit seiner Noch-Frau, überträgt Astrid aber dennoch verantwortungsvolle Aufgaben, was ihr Selbstbewusstsein stärkt. Und offenbart ihr Einsichten, die man gerade in jener Zeit eher für sich behielt. Etwa, dass seine Ehe den Bach runter ging, weil seine Frau Olivia ein Kind verlor.

Weil Astrid erstmals wie eine Erwachsene behandelt wird, entwickelt sie sich auch in diese Richtung. Sie lässt sich einen modernen Haarschnitt verpassen (»My mother says it's a one-way ticket to hell!«) und reagiert auf eine vielleicht noch harmlos auszulegende Annäherung von Blomberg erst mit einem Kuss und dann mit einer Verführung, auf die der in vielerlei Hinsicht schwache Kerl nach einem ersten Hinweis, dass dies keine gute Idee sei, dann doch recht schnell eingeht.

Natürlich darf ein Erwachsener, der noch dazu eine Tochter im selben Alter hat, nicht so auf die Verliebtheit einer Schutzbefohlenen eingehen, aber im Film wird dieses Problem auch nur am Rande thematisiert. Blomberg bekommt im weiteren Verlauf des Films noch ausreichend Zeit, seinen zumindest teilweise positiven Eindruck vom Anfang gründlich wieder kaputt zu machen - und teilweise merkt der Torfschädel das noch nicht einmal! Was aber der Titelfigur die Möglichkeit gibt, zu reifen.

Den weiteren Verlauf des Film will ich jetzt noch nicht ausplaudern, aber es kommt zu einer ungewollten Schwangerschaft (»You promised me you'd be careful!«), was die Beziehung zwischen Astrid und »Reinhold« auf Dauer schon sehr belastet.

Zwischendurch meldet sich wieder die Schulklasse von der MusiCassette und begleitet mit ihren Textbeiträgen die Handlung. »Dear Astrid, you write a lot about death...« contra »children in your books can overcome everything«.

Wie nebenbei gibt es zwischendurch kleine versteckte Verweise auf spätere Bücher Astrids. Man muss aber schon ziemlich aufpassen, um aufzuhorchen, wenn sie bei einem Sekretärinnenjob Herrn Nielson mit Herrn Karlsson verbindet.

Ich hatte mir vom Film etwas anderes erwartet, nicht zuletzt, weil ich die früheren Arbeiten von der Regisseurin Pernille Fischer Christensen und ihrem liebsten Co-Autor Kim Fupz Aakeson kenne (u.a. En soap, En familie, En du elsker). Auf einen lupenreinen Mainstream-Streifen war ich nicht vorbereitet, doch wie die Geschichte tränenreich und emotional durchgezogen wird, das ist trotz der immer mal wieder durchbrechenden Märchenhaftigkeit durchaus virtuos gemacht. Glücklicherweise heißt der Film nicht »Becoming Lindgren«, weil es ungeachtet eines späteren »Märchenprinzen« nicht um die Umbenennung Astrids geht, sondern um ihre Emanzipation und ihre Entwicklung, bis sie, wie es auf der Cassette heißt, »auf der Seite der Kinder« landet.

Wie der Film die Sache mit Blomquist (ähh, ich meine natürlich Blomberg) behandelt, wirkte zunächst fragwürdig auf mich, doch im Nachhinein bekleidet die junge Astrid hier auch keine »Opferrolle« (auch, wenn der Spruch mit der kurzen Kindheit dies suggeriert), sondern es geht zu Beginn darum, die Geschichte in Gang zu bringen, und erst später kann man das Ganze dann (durchaus mit Astrids Augen) noch mal neu betrachten. Wobei man eine gewisse Ambivalenz aufrecht hält und schließlich die unterschiedlichen Motive von Astrid und Reinhold ausgearbeitet werden. Schon wieder mutig ist dabei, dass auch die vage angerissenen Anfänge der zweiten Liebesgeschichte nach einem ähnlichen Schema verlaufen.


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The Happy Prince
(Rupert Everett, Berlinale Special)

 
Letzte Vorführung:
  • Sonntag, den 25. Februar
    um 9 Uhr 30 im Friedrichstadt-Palast


Deutschland / Belgien / Italien 2017, Buch: Rupert Everett, Kamera: John Conroy, Schnitt: Nicolas Gaster, Musik: Gabriel Jared, Kostüme: Maurizio Millenotti, Gianni Casalnuovo, Production Design: Brian Morris, mit Rupert Everett (Oscar Wilde), Colin Morgan (Alfred Bosie Douglas), Edwin Thomas (Robert Ross), Colin Firth (Reggie Turner), Emily Watson (Constance Holland), Tom Wilkinson (Priester Dunne), Benjamin Voison (Jean), Antonio Spagnulo (Felice), B√©atrice Dalle (Caf√© Manager), 105 Min., Kinostart: 24. Mai 2018

Rupert Everett hat sich schon in seiner Schauspielkarriere mehrfach mit Orson Wilde und seinen Werken beschäftigt (An Ideal Husband, The Importance of Being Earnest). Für sein Regiedebüt hat er nun ein etwas anderes Biopic über Wilde ausgesucht, das sich Mühe gibt vielen Facetten des Skandalautors gerecht zu werden.

Der wichtigste Punkt ist hierbei, dass die Homosexualität Wildes, die in früheren Werken (ich erinnere mich z.B. mit Grausen an die rororo-Bildmonografie) oft als »Problem« behandelt wurde, von Everett liebevoll umarmt wird. »Warts and all«.

Der Film beginnt mit Texttafeln und der Entlassung aus dem Gefängnis. Hierbei steht die frühere Prominenz und die jetzige Armut in starkem Kontrast. Ein früherer weiblicher Fan stellt gleich zu Beginn dem gebrochenen Wilde hinterher und steckt ihm - obwohl erschrocken - etwas Geld zu, ihr Gatte indes droht ihm »If you ever speak to my wife again, I'll kill you!« - wobei relativ einerlei ist, ob er Wilde überhaupt erkannte oder nicht.

Während sich die Geschichte von diesem Punkt aus weiterentwickelt und der zunehmend schwerkranke Wilde sich von einigen seiner früheren Freunde unterstützen lässt, gibt es nebenbei auch immer wieder Flashback zur Gefängniszeit und davor. Eine gewagte Analogie, die den gesamten Film trägt, dreht sich um die Sehnsucht Wildes zu seinen Söhnen, die mit seiner Frau Constance (Emily Watson, kleine, aber wichtige Rolle) verblieben. Das Märchen vom glücklichen Prinzen wird mit Wildes Leben parallelisiert, wobei er sich abwechselnd daran erinnert, wie er es seinen Söhnen vorlas - und dies auch die Beziehung zu zwei Straßenjungen festigt, von denen der ältere (könnte vielleicht sogar knapp volljährig sein) nebenbei auch als Stricher arbeitet. Und Wilde ist einer seiner Klienten.

The Happy Prince (Rupert Everett, Berlinale Special)

© Wilhelm Moser

Die weniger feinen Züge Wildes, seine Arroganz, der Dorian Gray in ihm, werden in The Happy Prince nicht verharmlost. Außerdem legt Everett Wert darauf, in durchaus literarischer Weise viele Querverbindungen zu ziehen. Und Homophobie und Nächstenliebe zu kontrastieren. Die Filmhandlung wirkt teilweise eher wie ein Gedicht, es geht (zumindest vorrangig) weder um die geordnete chronologische Abfolge noch um eine Psychologisierung wie in so vielen Bio-Pics.

Wilde ist einfach so, wie er ist (und Everett geht in der Rolle wirklich auf), und die Menschen reagieren unterschiedlich auf ihn. Dass manche ihn hassen, lässt ihn nicht kalt (zwei entsprechende Szenen traumatisieren ihn geradezu). Dass andere ihn vergöttern, nutzt er durchaus auch aus. Genüsslich spricht er davon, dass er für ein ungeschriebenes Stück bereits von drei verschiedenen Mäzenen bezahlt wurde, aber wenn er dieses seinen Liebhabern berichtet, scheinen diese nicht (oder nicht eingehend) zu realisieren, dass er mit ihnen dasselbe Spiel spielt, sie gegeneinander ausspielt. Beim zentralen Zitat »Bosie loves me in a way that you could never understand« tauscht er etwa einfach den Namen aus, und noch über seinem Grab streiten sie sich darüber, wer ihn jetzt mehr liebte usw.

Grandiose Gesten wie ein »Author! Author!« zu Filmende, um Wilde trotz aller gerade miterlebten Leiden in seinem Werk weiterleben zu lassen, zeugen davon, wie viel Herzblut Everett investiert hat. Dass der Film einige Zuschauer vor den Kopf stoßen wird, gehört eigentlich zum Konzept. Wilde-Fans, die nur seine Gesellschaftskomödien mögen, aber seine Sexualität ablehnen (was inzwischen glücklicherweise nicht mehr die »Norm« ist), sind hier nicht das Zielpublikum. Nur wer, wie hier ein von Tom Wilkinson gespielter Geistlicher, noch die »old prostitute« respektiert, die in den eigenen Körpersäften im Totenbett liegt (übrigens eine hübsche AIDS-Analogie, und schon dadurch nach wie vor modern), kann diesen Film lieben, wie andere es nie verstehen würden.

Gerade dadurch, dass der Film gar nicht versucht, »perfekt« zu sein, gewinnt er in meinen Augen.

Die schönste Schnittkante der Berlinale 2018 stammt übrigens auch aus diesem Film. Zweimal (einmal mit Wiederholungen) werden in diesem Film Menschen angespuckt. Einmal geht es darum um das »Opfer« (Wilde), und entsprechend ist das dann auch inszeniert. Später rotzt mal Felice Bosie an (Sorry, dass ich diese Nebenfiguren niemals vorgestellt habe), und es geht mehr um die Tat, die Sympathien sind aber ganz beim Opfer. Man kann genau sehen, wo der Speichel gleich auftreffen wird, aber die Einstellung bricht kurz zuvor ab. Das zeugt von einem tiefen Respekt - und von filmsprachlicher Finesse!


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  The Bookshop (Isabel Coixet, Berlinale Special)

The Bookshop /
Der Buchladen der Florence Green
(Isabel Coixet,
Berlinale Special)

 
Letzte Vorführung:
  • Sonntag, den 25. Februar
    um 18 Uhr 15 im Berlinale-Palast


Spanien / Großbritannien / Deutschland 2017, Buch: Isabel Coixet, Lit. Vorlage: Penelope Fitzgerald, Kamera: Jean Claude Larrieu, Schnitt: Bernat Aragon&eacuite;s, Musik: Alfonso de Vilallonga, Kostüme: Mercè Paloma, Production Design: Llorenç Miquel, mit Emily Mortimer (Florence Green), Bill Nighy (Edmund Brundish), Patricia Clarkson (Violet Gamart), James Lance (Milo North), Honor Kneafsey (Christine Gipping), Hunter Tremayne (Mr. Keble), Julie Christie (Narrator), Frances Barber (Jessie Welford), Reg Wilson (General Gamart), Nigel O'Neill (Mr. Deben), Lucy Tillett (Mrs. Gipping), Michael Fitzgerald (Mr. Raven), Jorge Suquet (Mr. Thornton), Charlotte Vega (Kattie), Harvey Bennett (Wally), Franchesca McGill (Adult Christine), 113 Min., Kinostart: 10. Mai 2018

Isabel Coixet ist eine Regisseurin mit langer Verbundenheit mit der Berlinale (Ära Kosslick). Vom prämierten My Life without me (2003) über die Anthologie-Doku Invisibles (2007) und Elegy (2008) bis zur Juryteilnahme 2009 lief alle noch recht rund, doch der Wettbewerbs-Eröffnungsfilm 2015, Nadie quiere la noche, war schon ein schwarzer Fleck auf beider Westen. Auch außerhalb des Berlinale-Programms kann man erkennen, dass die Katalanin ihren Zenit inzwischen überschritten hat. Eine lieblose Auftragsarbeit wie Another Me oder der gelungeneren früheren Filmen hinterherhechelnde Learning to Drive sprechen Bände. Dennoch zeigt die Berlinale weiterhin ihre Filme, vermutlich auch bestärkt dadurch, dass The Bookshop nicht nur mit drei wichtigen Goyas ausgezeichnet wurde, sondern auch mit einem Preis der Frankfurter Buchmesse als »beste internationale Literaturverfilmung 2017«. Wie schwach der Goya-Jahrgang war, habe ich jetzt nicht überprüft, die Juroren in Frankfurt können sich immerhin noch damit herausreden, dass eine Bücherenthusiastin, die einen Buchladen eröffnet (auch, wenn das im Film Ende der 1950er geschieht), durchaus ein wichtige positive Botschaft für diesen aussterbenden Geschäftszweig ist.

Die Vorlage der Britin Penelope Fitzgerald stammt aus dem Jahre 1978, und Hauptfigur Florence Green (Emily Mortimer) passt auch ziemlich genau zum Alter der Autorin. In zunächst winzigen, sehr verschwommenen Rückblenden, später in Gesprächen erfährt man, dass Florence, eine halbwegs junge Witwe, sich einst über die gemeinsame Liebe zu Büchern in einer Bibliothek verliebte. Ihr Ansinnen, in dem recht armseligen Küstenort Hardborough einen Buchladen zu eröffnen, hat also auch was mit dem Andenken ihres Mannes zu tun. Eine Herzensangelegenheit.

Nun reicht es nicht, dass die Arbeiterbevölkerung des Ortes wenig an Belletristik und Lyrik interessiert ist. Ausgerechnet für das von ihr anvisierte Grundstück hat eine prominente Vertreterin der oberen Zwanzigtau - äh, sagen wir der oberen Zwanzig bereits andere, hochtrabende Pläne. Und so dreht sich ein Teil des Films darum, dass, wie die Erzählerstimme (Julie Christie) es verkündet, »Florence doesn't belong to the people who think that people are divided in exterminators and the exterminated.«

Florence versucht mühsam, ihr Geschäft zu etablieren, und die perfide Lady Gamart (Patricia Clarkson) versucht, sie mit immer rabiateren Mitteln davon abzubringen. Da sie mehrere Bewohner fest unter ihre Knute hat und ihr Neffe im fernen London sogar Gesetzesentwürfe für sie durchbringt, hat Florence eigentlich von Anfang an keine Chance. Sie und der Zuschauer müssen dies nur erst noch langsam herausbekommen.

The Bookshop (Isabel Coixet, Berlinale Special)

© the producers / Lisbeth Salas

Die unzähligen, oft nur für drei Sätze auftauchenden Nebenfiguren geben einem das Gefühl, dass man mit diesen im Roman vielleicht sogar vertraut wird. Im Film schränkt sich das Personal eher ein. Neben der Lady Gamart und ihrem womöglich etwas dümmlichen Gatten, dem General (mir wurde es im Verlauf des Films nicht ganz klar, wie wenig er von der Boshaftigkeit seiner Frau weiß) gibt es vor allem eine junge Angestellte (Honor Kneafsey), die sich eigentlich gar nicht für Bücher interessiert, einen etwas schleimigen Schwerenöter, der auch Schriftsteller sein soll und einen verschrobenen alten Witwer (Bill Nighy), der über Laufburschen Florences bester Kunde wird.

Wichtige Nebenfiguren sind aber auch einige Bücher. Den alten Brundish (Nighy) erreicht Florence über Ray Bradburys Fahrenheit 451, das ihn vermutlich auch deshalb sehr anspricht, weil er selbst schon Bücher aus nichtigen Gründen verbrannt hat. Aus welchen Gründen Milo North (James Lance) Florence ausgerechnet Nabokovs Lolita schenkt, ist durchaus suspekt. Die literarische Bedeutung des Werkes will ich hier nicht in Frage stellen, aber dass Milo später des kleine Shopgirl Christine genauso unverschämt anbaggert wie jede Frau in seiner Umgebung, wird im Film nicht wirklich problematisiert. Und dass es später zwischen Florence und dem mindestens drei Jahre älteren Brundish auch hörbar knistert, wirkt auf mich, als sollen die prominent gefeatureten Bücher (Philip Larkin, Kingsley Amis laufen allesamt nur so unter ferner liefen) vor allem die vorhandenen Themen des Films (bzw. früher Romans) vertiefen. Was jetzt auch nicht so richtig funktioniert.

Ein Hauptmerkmal das Films ist es, dass es so wirkt, als würden immer wieder vielversprechende Handlungsfäden aufgenommen, dann aber wieder fallen gelassen. Die Freundschaft zwischen Florence und Christine wird ganz nett aufgebaut, Milos Freundin Kattie (Charlotte Vega) wirkt auch mal sehr vielversprechend, als sie sich mit Florence unterhält - aber beide Figuren verschwinden dann für längere Zeit wieder aus dem Film und stattdessen verlagert es sich alles auf Bill Nighy und Patricia Clarkson. Das war schon ein erkennbares Problem der Dramaturgie (oder vermutlich der Adaption). Und letztlich ist das »Erkennen« und Nachvollziehen der pessimistischen Philosophie von Exterminators und Exterminated für Florence (und den Zuschauer) ein sehr schmerzhafter Prozess, der den Film jetzt auch nicht unbedingt mehr »strahlen« lässt. Reichlich daneben ist dann auch der Moment, als sich die Erzählerin offenbart, die Jahrzehnte später selbst einen Buchladen führt, in dem dann an prominenter Stelle die Buchvorlage The Bookshop steht.

Der Film war an keiner Stelle so richtig mies, sondern plätschert so ganz annehmbar vorbei. Aber ich wüsste jetzt auch ums Verrecken keinen Grund, warum ich ihn empfehlen sollte.

Was noch für Regisseurin Isabel Coixet spricht, aber den Film nicht rettet, ist der Umstand, dass sie nach wie vor ihre Darstellerinnen aus früheren Filmen erneut verpflichtet, hier etwa Patricia Clarkson aus Learning to Drive oder Charlotte Vega aus Another Me (ich mag mich irren, aber Julie Christie war doch auch schon mal irgendwo dabei...).


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  Das schweigende Klassenzimmer (Lars Kraume, Berlinale Special)

 
Letzte Vorführung:
  • Sonntag, den 25. Februar
    um 9 Uhr 30 im Haus der Berliner Festspiele


Das schweigende Klassenzimmer
(Lars Kraume,
Berlinale Special)

Deutschland 2017, Buch: Lars Kraume, Lit. Vorlage: Dietrich Garstka, Kamera: Jens Harant, Schnitt: Barbara Gies, Musik. Christoph M. Kaiser, Julian Maas, Kostüme: Esther Walz, Production Design: Olaf Schiefner, mit Leonard Scheicher (Theo Lemke), Tom Gramenz (Kurt Wächter), Lena Klenke (Lena), Isaiah Michalski (Paul), Jonas Dassler (Erik Babinski), Ronald Zehrfeld (Hermann Lemke), Floiran Lukas (Rektor Schwarz), Jördis Triebel (Frau Kessler), Burghard Klaußner (Volksbildungsminister Lange), 111 Min., Kinostart: 1. März 2018

Ähnlich wie Steven Spielbergs The Post wurde Das schweigende Klassenzimmer während der Berlinale größtenteils abgefeiert. Zivilcourage und historische Ereignisse sind in diesen Tagen gerade für die öffentlich-rechtlichen und andere Mainstream-Medien das Nonplusultra. Filme, in denen man gleich auf zwei Weisen etwas lernt (über humanes Verhalten und über die Vergangenheit), die muss man doch lieben, oder?

Filme mit einer gewissen Botschaft weiß auch ich zu begrüßen, gerade wenn die einzige Botschaft vieler Filme aus »Gib mir dein Geld!« zu bestehen scheint. Aber unter der halbwegs eingeschworenen Gemeinde von Filmkritikern, die sich immer wieder ganz vorne in der Mitte der Pressevorführungen trifft (Grüße an meine Adoptiveltern und jene Person, die in den meisten Punkten mein genaues Gegenteil ist) und gerne nach dem Film gemeinsam darüber zetert (aber sich längst nicht immer einer Meinung ist), gibt es einen feststehenden Grundsatz: »Gut gemeint ist nicht gut gemacht!«

Es ist erschreckend, wie oft eine eigentlich vielversprechende Storyidee (nicht immer, aber öfters mal »based on real events«) dazu führt, dass darüber gewisse Grundregeln des Filmemachens vergessen werden.

Das trifft auf Das schweigende Klassenzimmer glücklicherweise nicht zu, aber unter dem Alibi-Mantel »es ist wirklich so passiert!« wird einem mitunter einiges untergejubelt. Und ich gehöre zu den Leuten, die man am Anfang eines Filmes packen kann, und dann lasse ich auch einiges mit mir machen. Aber wenn ich auf eine gewisse Abwehrhaltung gehe (und »based on real events« lässt mich nicht unbedingt in Jubelschreie ausbrechen), wird es für einen Film nicht einfacher.

Bei Das schweigende Klassenzimmer fand ich trotz der Erinnerung an den in meinen Augen verunglückten Der Staat gegen Fritz Bauer den Anfang noch ganz gelungen. Abiturschüler aus der DDR, die sich 1956 (fünf Jahre vor der Mauer) unter dem strengen Auge der Grenzkontrolleure nach Westberlin begeben, nur um im Kino Liane, das Mädchen aus dem Dschungel zu sehen, das hat durchaus noch einen fühlbaren Realismus. Dass ein Pappaufsteller zum Film mir erstaunlich freizügig für die damalige Zeit erschien, habe ich da noch durchgehen lassen.

Das schweigende Klassenzimmer (Lars Kraume, Berlinale Special)

© Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Die beiden Hauptfiguren des Films, die Schüler Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz), stehen im weiteren Verlauf des Films für unterschiedliche Stadien eines jungen politischen Bewusstseins, das sich durch die Wochenschau vor dem Film, die von der Niederschlagung eines ungarischen Aufstand berichtet, nach typischer Filmdramaturgie langsam herausstellt und festigt.

Man lernt die Elternhäuser der beiden Fasterwachsenen kennen, die Klassenkameraden nebst einem obligatorischen Fall von junger Liebe, der später noch zu Problemen führt. Alles ganz hübsch gemacht. Dass eine Schülergruppe sich zum gemeinsamen Westradiohören ins Haus eines stadtbekannten Sonderlings (Michael Gwisdek) begibt, ist mir dann schon wieder etwas dick aufgetragen, nicht zuletzt auch, weil man die (gerüchteweise kolportierte) Homosexualität von »Onkel Edgar« gleich mal wieder dazu benutzt, den Kampf gegen die Unterdrückung gleich auf mehrere Ebenen auszubauen, um zusätzliche Zuschauer anzusprechen. (Auch, wenn das Thema auf etwa vier Dialogsätze und drei Blicke heruntergekürzt wird.) »Onkel Edgar« wird später zu einem der »Ersatzopfer« des Systems, die man wohl braucht, um die Gefahr besser darzustellen.

Und dann haben wir da den Schüler Erik. Erik ist der wohl systemkonformste aus der Klasse, eine Art Martin Prince (der Streber aus den Simpsons) mit dem Augen-Make-Up von Cesare (der Somnambule aus Das Cabinet des Dr. Caligari). Der dann später durchzudrehen droht wie Leonard Lawrence (der Dicke aus Full Metal Jacket). Hier hat Drehbuchautor Kraume einiges dazuerfunden, was weitaus dramatischer ausfällt als die eigentliche Geschichte. Und dieser Teil, die ganze Figur an sich, überzeugt einfach nicht, wirkt wie ein Amalgam aus Drehbuchideen. Hier brauchen wir einen Gegenspieler, eine drohende Gefahr - und wenn wir das so drehen, können wir noch ein zusätzliches Thema in die Geschichte einarbeiten.

Erik-Darsteller Jonas Dassler gewann den bayrischen Filmpreis für diese und eine weitere Rolle, was mich sehr verwunderte. Ich kann nur annehmen, dass die andere Rolle dann schon wirklich bemerkenswert sein muss (oder man hat einfach prämiert, dass er trotz der Widrigkeiten noch das Mögliche aus dieser Figur herauszuholen versucht hat).

Aber das sind nur Nebenschauplätze, im wirklichen Klassenzimmer geht es wirklich rund, wobei Florian Lukas als Rektor noch ganz patent ist, aber Jördis Triebel als burschikose Verhörleiterin (äh, Kreisschulrätin...) und Burghard Klaußner als »Volksbildungsminister« wirken wie die Bösewichte aus einem dystopischen Young-Adult-Reißer.

»Ihr seid jetzt Staatsfeinde, weil ihr frei gedacht habt!«, »Woher kennt eigentlich der Minister deinen Namen, Papa?«, »Homosexuellen geht es sehr sehr schlecht in unseren Gefängnissen«. Während die Musik klingt wie ferne Bombeneinschläge, wird hier alles reichlich aufgebauscht und dramatisiert. Freunde sollen Freunde verraten, Arthur Millers The Crucible trifft Dead Poets Society, nur halt immer noch eine Spur fetter. Und manchmal fast schon unfreiwillig komisch.

Etwa, wenn man sich ob des Begriffs »Gestapo-Methoden« reichlich echauffiert - und quasi als direkte Antwort so reagiert, dass der Handlungsverlauf an den alten Gag aus Crocodile Dundee erinnert: »Das nennst Du Gestapo-Methoden? Ich zeig dir Gestapo-Methoden!«

Das schweigende Klassenzimmer ist kein schlechter Film. Er ist nur bei weitem nicht so gut, wie er in den Medien abgefeiert wird. Wenn es dann am Schluss superdick um »Mutterliebe« und »Vaterstolz« geht und man wie in einem Schulaufsatz Szene für Szene heruntergebetet bekommt, welche wichtigen Themen hier alle abgearbeitet wurden, »Authentizität« ist so ziemlich das letzte Wort, was mir dazu einfallen würde. Alles wirkt so, als wolle man sowohl Lehrern (Deutsch, Geschichte, Politik) als auch den Schülern gefallen. Und wenn diese sehr unterschiedlichen Gruppen sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen, mag das sogar gelingen. Aber mir reicht das leider so gar nicht, mir fehlt hier die Zivilcourage nicht der Handlung, sondern des filmischen Werks, das sich allzu gefügig gewissen (angenommenen) Marktregeln beugt.

Symptomatisch hierfür ist übrigens auch das Kinoplakat (nicht das Festivalplakat oben), das einer heterogen, aber etwa anonym wirkenden Menge von Schülern mit einem durchgehenden roten Balken quasi »den Mund verbietet«. Zwei Dinge stören mich dabei: Dass hier alle Schüler exakt die selbe Körpergröße haben (sonst passt der Balken nicht). Und dass es 28 sind, obwohl die Klasse nur 19 Schüler hatte. Auch das wirkt auf mich, als wäre Das schweigende Klassenzimmer eine Art Hunger Games. Wenigstens wird die zwischen zwei Jungs zerrissene Lena (Lena Klenke) hier nicht auf Katniss- oder Bella-Status aufgeblasen. Und die Jungs sind auch nicht diese superhübschen Posterschönheiten, sondern haben Bodenhaftung und sind als Figuren ausdefiniert. Aber der kaschierte Trend ist schon zu erkennen.

Demnächst in Cinemania 182 (Green Grass):
Weitere Berlinale-Rezensionen, vermutlich zu: Don't worry, he won't get far on foot (Gus Van Sant, Wettbewerb), Ondes de choc - Journal de ma tête / Shockwaves Diary of my Mind (Ursula Meier, Panorama), Pul-lip-deul / Grass (Hong Sangsoo, Forum), The Green Fog (Guy Maddin, Evan Johnson & Galen Johnson, Forum) und Whatever happens next (Julian Pörksen, Perspektive Deutsches Kino).