Thelma
(Joachim Trier)
Norwegen / Frankreich / Dänemark / Schweden 2017, Buch: Eskil Vogt, Joachim Trier, Kamera: Jakob Ihre, Schnitt: Olivier Bugge Coutté, Musik: Ola Fløttum, Sound Design: Gisle Tveito, Kostüme: Ellen Dæhli Ystehede, Szenenbild: Roger Rosenberg, mit Eili Harboe (Thelma), Kaya Wilkins (Anja), Henrik Rafaelsen (Trond), Ellen Dorrit Petersen (Unni), Grethe Eltervåg (Thelma, 6 Jahre), Marte Magnusdotter Solem (Neurologin), Anders Mossling (Dr. Paulsson), Vanessa Borgli (Anjas Mutter), Steinar Klouman Hallert (Kristoffer), Ingrid Giæver (Julie), Oskar Pask (Daniel), Vibeke Lundquist (Großmutter), Ludvig Algeback, Ian Twedmark Toll, Vidar Fransson (Thelmas Bruder), 116 Min., Kinostart: 22. März 2018
In meinen persönlichen Statistiken, den Jahresbestenlisten, landeten die Filme von Joachim Trier zuvor auf den Plätzen 21 (Reprise), 5 (Oslo, 31. August) und 57 (Louder than Bombs). Thelma hat gute Aussichten, in diesem Jahr auf Platz 1 zu bleiben, und man könnte aus dieser »Formkurve« entnehmen, dass es nicht immer die beste Idee ist, der Heimat seinen Rücken zu kehren und sich als Regisseur im englischsprachigen Raum auszuprobieren. Zumindest ich vermisste bei Louder than Bombs etwas den individuellen Stilwillen des Regisseurs, der im neuen Film Thelma wieder besonders aufblühte. Trier hat zwar immer interessante Geschichten zu erzählen, aber wenn die Filmsprache für den Film wichtiger ist als die eigentliche »Sprache«, also die Dialoge, dann fällt das Ergebnis am überwältigendsten aus.
Die zurückhaltende Thelma (Eili Harboe, eine der European Shooting Stars dieses Berlinale-Jahrgangs) stammt aus einem eher dörflichen Umfeld und ist streng christlich erzogen. Als sie trotz gewisser Vorbehalte der Eltern in Oslo ein Studium beginnt, verlässt sie gleichzeitig den Schutzraum, den die Eltern zuvor boten, erfährt aber auch eine neue Freiheit im Umgang mit Gleichaltrigen.
© Koch Films
Das Coming-of-Age-Thema hätte schon einen durchaus befriedigenden Film abgegeben, aber zusammen mit seinem bewährten Co-Autor Eskil Vogt begibt sich Trier hier in überraschende übernatürliche Gefilde. Nach und nach erfährt man mehr über den Hintergrund Thelmas, ihre Kindheit, die Umstände, die neben der Religiösität dazu führten, dass ihre Eltern sich häufig seltsam verhalten. Gerade der Prolog des Films bietet hierzu bereits die deutlichsten Thema, die im Film immer wieder eine große Rolle spielen.
Auf dem Plakat prangt hier eine typische tagline, die den Film auf ein Mash-up zwischen Stephen Kings Carrie und Abdellatif Kechiches La vie d'Adèle - chapitres 1 & 2 reduziert. Was für mich nur in der ersten Hälfte wirklich fasst, denn aus Carrie hat Trier wirklich einiges übernommen. Thelma scheint übernatürliche Kräfte zu haben, die sie selbst noch nicht ganz kontrollieren kann. Die Eltern fallen hierbei nicht ganz so schrecklich wie Margaret White aus, befürchten aber aufgrund ihrer christlichen Überzeugungen, womöglich könnte es sich bei Thelma um etwas ähnliches handeln, was im absurden deutschen Titel der De-Palma-Verfilmung einst »des Satans jüngste Tochter« genannt wurde. Diese Problematik geht auch hier Hand in Hand mit dem sexuellen Erwachen (wenn auch nicht so überdeutlich wie bei King), und das übernatürliche und die christliche Mythologie werden ebenfalls in den metaphorischen Bildern miteinander verwoben. Es gibt beispielsweise eine Entsprechung der »Kreuzigungs-Szene« aus den Carrie-Verfilmungen.
© Koch Films
Dass Thelmas »Sündenfall« sich hier auf eine weibliche Kommilitonin konzentriert, ist zwar wichtig für den Film, aber der Vergleich mit Blau ist eine warme Farbe wirkt reichlich überflächlich. So wie ich relativ häufig Brokeback Mountain als Vergleichsfilm heranziehe, der aber auch längst nicht so spezifisch ausfällt wie der Kechiche-Film.
Die Macht der Bilder wird sehr clever in Thelma eingesetzt, auch wenn man zunächst nicht immer weiß, was die Aussage sein soll. Ziemlich großartig finde ich dabei etwa das ausgefeilte Bilder der scheinbar »auf den Kopf gestellten« Welt in einem Schwimmbad, die Erklärung von Thelmas Vater, was die Hölle ausmacht oder den sexualisierten Traum, wenn die sogar Alkohol ablehnende Thelma mal zu einem Joint überredet wird.
© Koch Films
Jede dieser Szenen ergibt im Rückblick, wenn man die unterschwelligen Themen des Films ergründet hat und sich daran zurückerinnert, noch eine deutlichere Bedeutung. Die auffälligeren Spezialeffekte, die man hier und da auch einsetzt, fallen vergleichsweise oberflächlich aus, tragen aber sehr zur zum langsamen aber stetigen Spannungsaufbau aus.
Was bei
Carrie der Tommy Ross ist, der Vorzeige-Schwiegersohn, der sich seiner Freundin zu Gefallen dazu überreden lässt, mit dem »hässlichen Entlein« auf den Schulball zu gehen, nur um für diese fast selbstlose und durchaus sensible Geste von einem Eimer erschlagen zu werden, dafür gibt es in
Thelma Anja (Kaya Wilkins, die als Okay Kaya eine aufstrebende Musikerin ist), eine Figur, die noch viel fragiler als Tommy wirkt (wie auch Thelma unter seltsamen Anfällen leidet, die soagr beide junge Frauen zu bedrohen scheinen). Anja wird auch viel stärker in die sich faszinierend aufbauende Geschichte involviert. Und spätestens an dieser Stelle wächst
Thelma weit über
Carrie hinaus, wirkt reifer, durchdachter und den Zuschauer stärker fordernd.
© Koch Films
Wo Carrie fest im Horrorgenre verwurzelt ist (was an sich überhaupt nichts schlechtes ist), ist Thelma ein Film, der über das Genre hinausgeht. Die unerklärlichen Kräfte und die märchenhaften Elemente sind hier mehr ein exotisches Gewürz, das genreübergreifende Türen öffnet und den Film für ein größeres Publikum öffnet (ohne sich im geringsten beim Mainstream anzubiedern). Wenn man Carrie als ambivalente Figur zwischen Opfer und Täter erlebt, ist das bei Thelma weitaus feiner nuanciert. Und man leidet als Zuschauer stärker mit der Beziehung mit (weil Carrie & Tommy über den Titel als Königspaar des Schulballs hinaus nie eine wirkliche Chance hatten).
Das Wechselspiel zwischen Kleinkriminalität und Kinderspiel ist sehr faszinierend, nicht zuletzt auch, weil man sieht, wie sich die Kinder ziemlich rasant auch zu Quasikriminellen entwickeln, dabei aber trotz aller Sorge immer Top-Sympathieträger bleiben.
Wirklich bemerkenswert für mich persönlich war übrigens auch, dass man beim Pressescreening reichlich Probleme mit der Vorführung hatte, die mehrfach gestoppt werden musste (zwischenzeitig war man sich fast sicher, dass die Vorführung nicht zuende gebracht werden könnte), und obwohl das natürlich die immersion in den Film nicht unterstützt hat (ich habe zudem noch die erste Minute verpasst, habe es mir aber haarklein erzählen lassen), hat mich der Film emotional so mitgerissen wie nur etwa ein Film alle paar Jahre, so was wie The Sweet Hereafter, Boys don't cry, Dare mo shiranai oder What Richard did. Und schon der Umstand, dass es in keinem dieser Filme um irgendwelche Superkräfte oder vermeintliche böse Mächte geht, sondern eher um tragische Alltagsvorkommnisse, unterstreicht auch meine Genre-Unterscheidung - selbst, wenn ich die jetzt vielleicht nicht superfiligran in Worte fassen konnte.
Highest recommendation!