Andreas Ammer, Sebastian Hess: Unser Oskar.
Andreas Ammer, Sebastian Hess: Unser Oskar. Sprachoper für Oskar Maria Graf. intermedium records, München 2003. 1 CD, 52 Minuten, 18,90 Euro. » amazon |
Die Uraufführung der "Sprachoper für Oskar Maria Graf" fand im Münchner Cuvilliés-Theater statt, an jenem Ort, wo Oskar Maria Graf bei seinem einzigen Deutschland-Besuch nach dem Krieg eine Lesung abhalten sollte und einen Skandal produzierte. Man glaubt es kaum, aber damals verließen tatsächlich die Besucher aus Protest gegen Grafs Kleidung das Theater. Er hatte sich erdreistet, in Lederhose statt im Anzug auf die Bühne zu treten. "Zuvor habe ich die Deutschen verlassen wegen ihrem Hitler, und nachher haben mich die Deutschen verlassen wegen meiner Lederhose. Aber ein Deutscher ohne Hitler ist wie ein Bayer ohne Lederhose."
Und ein Oskar Maria Graf ohne diese Mischung aus Bitterkeit und Komik ist kein Oskar Maria Graf. 1884 als neuntes Kind eines Bäckermeisters in der Gemeinde Berg geboren und als Siebzehnjähriger von seinem Bruder aus dem Dorf geprügelt – er hatte heimlich Bücher gelesen - geriet Graf in die Schwabinger Boheme, wurde Anarchist, revolutionärer Barrikadenkämpfer und erfolgreicher Schriftsteller, "Provinzschriftsteller", wie er auf seine Visitenkarten im New Yorker Exil drucken ließ. Der Bierliebhaber mit dem unbeugsamen Eigensinn ging sogar einmal mit Adolf Hitler essen, ließ diesen aber - "ja, glauben sie denn, ich hör mir ihren Schmarrn stundenlang umsonst an?" – die Rechnung bezahlen.
Wie Michael Tregor Hitler von einem gefallsüchtigen Kind zu einem furchterregend brüllenden Tier werden läßt und Sepp Bierbichler ihm mit launischer Trockenheit in die Parade fährt, bildet nur eine Episode dieses hinreißenden Hörerlebnisses. Apokalyptische Klangskulpturen rahmen das Gespräch; anderswo erklingen beinharte Marschmusik, traurig-schöne Kammermusik und ein Lied, dem die Schreibmaschine den Rhythmus schlägt. Andreas Ammer und Sebastian Hess haben ein Stück geschaffen, das in seiner Mischung aus Leichtigkeit und Ernst, seinem Wechsel von berückenden und erschreckenden Momenten und seiner Verbindung von Biographie und akustischem Experiment außergewöhnlich ist. Ob die geschickt eingesetzten Originalaufnahmen, das wunderbare Cellospiel Hess’, die Übersicht des Regisseurs Ammer, die Flexibilität der "Bachhauser Blasmusik", die sirenenhafte Susanne Buchenberger oder eben den chamäleonhaften Tregor und den von den brummigen bis zu den ekstatischen Tonlagen souverän agierenden Bierbichler, man weiß gar nicht, wen oder was man zuerst loben soll. Vielleicht wäre es am besten, mit dem Gestalter des Beihefts anzufangen. Aber jetzt sind wir leider schon am Ende.
Anthony Burgess: Der lange Weg zur Teetasse. Gelesen von Harry Rowohlt.
Anthony Burgess: Der lange Weg zur Teetasse. Gelesen von Harry Rowohlt, Kein & Aber, Zürich 2003. 3 CD, 186 Minuten, 22,50 Euro. » amazon |
Vor einiger Zeit war in einem Berliner Stadtmagazin ein Cartoon abgebildet, in dem ein junger Mann manuskriptwedelnd das Büro eines Verlegers betritt und dieser begeistert ausruft: "Wie? Ihr neues Buch heißt Übersetzt von Harry Rowohlt’? Her damit!" Genauso könnte es wohl in einem Hörverlag geschehen: "Wie? Ihr neues Buch heißt Gelesen von Harry Rowohlt’? Hier haben Sie einen Blankoscheck!" Lindenstrasse und Pooh’s Corner haben den Mann mit den vielen Haaren ebenso zu einer Kultfigur gemacht wie seine Übersetzungen Flann O’Brien zu einer solchen werden ließen.
Damit Produkte, an denen Rowohlt beteiligt ist, zu einer Art Selbstläufer werden, muß natürlich etwas getan werden. Und so ist auf dem Cover von Anthony Burgess "Der lange Weg zur Teetasse" der Name des Vorlesers fast so groß gedruckt wie der des Autors. Nur "Otto Sander" pflegt man noch größer zu drucken. Dafür blickt Rowohlt direkt vom Booklet. Erst auf der nächsten Seite findet man ein Portrait Burgess’.
Falls das irgendwie anrüchig klingen sollte, sei gleich gesagt: Es hat alles seine Richtigkeit und Berechtigung. Rowohlt ist ein Virtuose. Sein Repertoire an Stimmen scheint unermesslich. Ein Matrose hört sich bei ihm an wie ein die Inkarnation aller Seebären, rauh und akzentschwer, ein englischer Adeliger wie der Inbegriff des Snobs, näselnd und degeneriert und selbst Mäuse und Blumen läßt Rowohlt solcherart zu Wort kommen, daß man denkt: Könnten sie sprechen, auf diese Weise täten sie es. Mit den Klischees wie mit den Feinheiten der Artikulation weiß Rowohlt gleichermaßen glänzend umzugehen. Kleinste Gefühlsregungen stellt er ebenso unangestrengt dar wie minimale, durch Körperbewegungen der sprechenden Person bedingte Unterbrechungen im Satzfluß. Schier unglaublich ist es, wie lässig und zugleich verbindlich er durch Tempovariationen Akzente setzt und dem Text dadurch Dynamik verleiht.
Eine Dynamik, die "Der lange Weg zur Teetasse" von sich aus nicht hergibt, denn die Geschichte ist an Spannungsarmut und Einfallslosigkeit kaum zu überbieten. Es handelt sich dabei um eine Art "Alice im Wunderland" für Menschen, die bei Lewis Carroll vor Aufregung einen Herzinfarkt erleiden würden. Daß Burgess, immerhin der Autor von "Clockwork Orange", zu so einer Harmlosigkeit imstande war, ist kaum zu glauben. Ein kleiner Junge möchte einer langweiligen Schulstunde entfliehen, kraft seines Wunsches verschwindet er durch ein Loch im Pult und findet sich in einer recht absurden Welt wieder, in der viel gesungen wird. Für den Rest der Geschichte setzt er alles daran, nur ja wieder zurück in die Schule und recht bald zu seiner nachmittäglichen Tasse Tee zu gelangen. Aber kein Problem. Harry Rowohlts modulationsfreudige Stimme würde den Hörer selbst dann noch drei Stunden lang bei Laune halten, läse er Lateinisch.
Wolfgang Hilbig: Der Geruch der Bücher. Prosa und Gedichte. Gelesen vom Autor.
Wolfgang Hilbig: Der Geruch der Bücher. Prosa und Gedichte. Gelesen vom Autor, Der Audio Verlag 2003, 1 CD, 78 Minuten, 14,95 Euro. » amazon |
Nein, das ist nicht Tom Waits, der da spricht. Diese Stimmbänder, auf denen es aussehen muß wie auf einem Schlachtfeld, gehören dem Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig. Und es ist auch kein amerikanischer Akzent, mit dem er vorliest, sondern sächsischer Zungenschlag.
Von Friedrich Schiller geht die Sage, daß er beim Vorlesen seines "Don Carlos" die Zuhörer an den Rand der Verzweiflung brachte. Da man glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, suchte man ihn irgend davon abzuhalten, das ganze Stück vorzulesen. Es gelang, und als der Mann aus Weimar fort war, griff man schaudernd zum Manuskript - es konnte doch nicht angehen, daß der große Schiller in der Lage war, etwas derart Abscheuliches zu schreiben, wie man es eben gehört zu haben meinte. Und tatsächlich: "Don Carlos" vermochte doch zu begeistern, allein Schillers schwäbischer Dialekt war den Zuhörern nicht wohl bekommen.
Auch Wolfgang Hilbigs Dialekt hat beim Lesen der Texte auf "Der Geruch der Bücher" seinen Effekt. Doch der ist nicht zum Davonlaufen. Hat man sich erst einmal an die kehligen Vokale und das immer sch’ ausgesprochene ch’ gewöhnt, fällt etwas anderes auf: die eigenwillige Melodieführung im Satz. Alle Sprachen und Dialekte haben ihre je eigene Musikalität. Und da sich diese im Schriftbild nicht fixieren läßt, kann selbst ein buchstabengetreues Ablesen nahezu unverständlich sein. Bei Hilbig steht allerdings zu vermuten, daß die Lesung der hochdeutschen Texte in sächsischem Gesang Methode hat, denn auf diese Weise verschiebt sich der Schwerpunkt der Sätze. Sie werden an Stellen mit Bedeutung aufgeladen, wo man es nicht erwartet, besonders zum Satzende hin entwickelt sich häufig ein kleines Crescendo. Dadurch werden Betonungen gesetzt, die semantisch widersinnig erscheinen. Diese konstante Irritation entwickelt jedoch recht schnell eine Sogkraft, die gespannt hinhorchen läßt und die der Irritation, von der Hilbigs Erzählungen und Gedichte oft handeln, entgegenkommt. Da ist zum Beispiel der "Novemberabend", wo ein Junge nach Einbruch der Dunkelheit in der Küche ausharrt, während die Erwachsenen im Hof eine Schwarzschlachtung vornehmen. Ihre Angst, von den Behörden erwischt zu werden und die Aufregung des Tieres, das Blut und die Erleichterung schließlich, die Heimlichkeit, die sich zur Unheimlichkeit steigert, all das oszilliert im Bericht des Jungen zwischen präziser Darstellung und abgründiger Traumverlorenheit. Und gleich darauf folgt ein Gedicht, in dem es wie kommentierend heißt: "Hermetisch tickt die Zeit/ nicht Tod nicht Leben nichts beginnt -/ wie ein schlafender Rabe röchelt die Uhr/ und ich wache und wandle und träume doch nur".
Gerade als Dichter ist Hilbig mehr Aufmerksamkeit zu wünschen. Und zu wünschen wäre auch, der Verlag gäbe sich in Zukunft mehr Mühe mit dem Beiheft, das aus lieblos zusammengestoppelten nichtssagenden Zitaten und einer Unmenge an Bilder besteht. Das ist eine Irritation zu viel und Wolfgang Hilbig wenig gemäß.
Erich Kästner: Lyrische Hausapotheke. Gelesen von Gert Fröbe.
Erich Kästner: Lyrische Hausapotheke. Gelesen von Gert Fröbe, Kein und Aber, Zürich 2003, 1 CD, 34 Minuten, 17,50 Euro. » amazon |
"Einmalige, historische Amateuraufnahme aus dem Jahr 1988" heißt es auf dem Hörbuch "Gert Fröbe liest aus Doktor Erich Kästners Lyrischer Hausapotheke" anpreisend und entschuldigend zugleich. Tatsächlich gewinnt man anfangs den Eindruck, ein Besucher des "Kursanatoriums Ambach", wo Fröbe wenige Tage vor seinem Tod im August 1988 auftrat, habe die Darbietung manuell in eine Schellackplatte geritzt. Hat man sich allerdings an das verhuschte, volksempfängerhafte der Aufnahme gewöhnt, ist jedes Wort zu verstehen. Sonst bleibt noch das Beiheft, in dem Kästners Gedichte dankenswerterweise abgedruckt sind.
Ja, eigentlich paßt das Klangbild recht gut zum historischen Umfeld der
"Hausapotheke" ,den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als "Der
Streichholzjunge" seine Familie durchbringen muß und Maskenbälle
erstmals von "Jazzkapellen" begleitet werden. Entsprechend schlägt der
Klavierbegleiter Fröbes, Walter Sahm, vergnüglich-schwermütige
Salonmusik der 20er Jahre an.
Fröbes Lesung ist völlig unbefangen und von beeindruckender Vitalität
und Beweglichkeit. Den betrunkenen Schauspieler in "Hamlets Geist"
rülpst er mit einer Inbrunst, die ihresgleichen sucht, das "Hotelsolo
für eine Männerstimme" hingegen, die Klage eines Verlassenen, weiß er
still vor sich hinzujammern. Klug wiegt er einzelne Textpassagen
gegeneinander ab, verschärft über Strophen hinweg das Tempo, um dann
wieder einzelne Verse ruhig atmen zu lassen. Den Sachsen hört man ihm
an keiner Stelle an, einzig mit "Frau Großhennig schreibt an ihren
Sohn" erweist er seiner Heimat, die auch Erich Kästners war, seine
Referenz. Gestochenes Hochdeutsch wäre hier wohl fehl am Platz: "Ach,
Krauses älteste Tochter hat kürzlich ein Kind gekriegt!/ Wer der Vater
ist, weiß kein Mensch. Und sie soll es selber nicht wissen./ Ob denn
das wirklich bloß an der Gymnasialbildung liegt?"