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August 2005 | Tobias Lehmkuhl für satt.org |
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Cocktail-bitter
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Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa: mit dem strohhalm trinkst du meine seele. Gelesen von Ralph Dutli und Katharina Thalbach. Der Hörverlag, München 2003. 1 CD, 64 Minuten, 14,95 Euro.
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"Ich hab Bettler, Diebe, Bucklige geküßt,/ Mit dem ganzen Lager mich vergnügt - nur daß ihrs wißt!/ Meine Lippen mach ich für ein Nein nicht krumm,/ Komm schon, mein Lepröser - sei nicht dumm!/ Bin ich noch jung und nicht im Grab,/ rinnt es wie Wasser von mir ab!/ Nein sag ich niemand, keinem da,/ immer sag ich ja!"
Ist das erotisch? Hat es etwas mit Liebe zu tun? Eher nicht. Dennoch sind es starke Worte einer großen Dichterin. Marina Zwetajewa schrieb sie 1920, und hören kann man dieses unmoralische Angebot jetzt zusammen mit sechzig weiteren Gedichten aus den Kehlen Katharina Thalbachs und Ralph Dutlis, der auch für die Übersetzungen verantwortlich zeichnet.
Zwetajewa war eine der „großen Vier“ der russischen Dichtung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine ungemein produktive und leidenschaftliche Frau. Mit Ossip Mandelstam und Boris Pasternak war sie eng verbunden, pflegte eine glühende Briefaffäre mit Rainer Maria Rilke, unterhielt erotische Beziehungen zu Männern wie zu Frauen, war verheiratet, Mutter und beging 1942 Selbstmord. So exzessiv ihr Leben war, so expressiv dichtete sie.
Anna Achmatowa, der neben Zwetajewa, Mandelstam und Pasternak bedeutendsten Dichterin der russischen Moderne, ist die zweite Hälfte des Hörbuchs „mit dem strohhalm trinkst du meine seele“ gewidmet. Der titelgebende Vers stammt von ihr und geht weiter: „Ihr Geschmack ist, ich weiß, cocktail-bitter.“ Achmatowas Dichtung ist verhaltener und ironischer als Zwetajewas, deswegen aber nicht von geringerer Intensität.
Weniger überzeugend ist der Vortrag Katharina Thalbachs und Ralph Dutlis, wenn auch nicht misslungen. Nur tragen sie die Gedichte allzu sehr als „Liebesgedichte“ vor und zwingen ihnen damit manches Mal eine Lesart auf, die ganz und gar nicht zwingend ist. Sie werden „all das Liebesgerede“ einfach nicht müde, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wollten sie sich damit ins Ohr des Hörers schmeicheln. Sowohl Achmatowas als auch Zwetajewas Lyrik allerdings ist geprägt vom Unbill der Gefühle und vom Widerständlichen der Sprache. Ihre Gedichte sind, wie ihr Leben es häufig war, ein Kampf, ein herzschreiender Versuch der Behauptung gegen das Unaussprechliche. Sprachloses Seufzen und den Gestus stummer Ahnung in die Gedichte hineinzulegen, wird ihnen darum nicht gerecht.
FRANCIS DURBRIDGE: Paul Temple und der Fall Curzon. Regie: Eduard Hermann. Mit René Deltgen, Elisabeth Scherer, Hermann Pfeiffer u.v.a. Der Hörverlag, München 2003. 4 CDs, 294 Minuten, 24,95 Euro. » amazon |
"Paul Temple und der Fall Curzon“ ist ein Hörbuch für ganz spezielle Bedürfnisse. Wen rasende Bilder, Leuchtreklamen oder Schnellstraßen nervös machen, wer an der Informationsflut zu ersticken meint und wem Radio und Zeitschriften zu laut und zu bunt sind, der dürfte an diesem Hörspiel Gefallen finden. Wer den Stress des Alltags abstreifen will oder grippegeschwächt und wenig aufnahmebereit im Bett liegt, hat mit Francis Durbridge Krimi ein gutes Mittel an der Hand, sanft unterhalten zu werden.
Die Produktion von 1951 strahlt, langsam und umständlich wie sie ist, eine geradezu buddhistische Ruhe aus, obwohl sich während fünf Stunden die Leichen nur so türmen, Autos allenthalben explodieren, drive-by-shootings zur Normalität gehören, Bäume fallen, Feuer brennen und auch mal exotisches Gift gereicht wird. Es ist weniger englische Gelassenheit, die keine Aufregung aufkommen lässt, als eine archaische Schnitt- und Dialogtechnik. Hier hatte man noch Zeit, hier wußte man, dass die Leute am Radiolautsprecher bleiben, weil sie keine andere Wahl haben (zumindest keine Fernseher). Doch was heute überaus gemächlich wirkt, löste damals wahrscheinlich regelrechte Adrenalinschübe beim Hörer aus. So kann man sich dieses Hörspiel auch als historisches Dokument zu Gemüte führen. Man wird noch einige andere Wunderlichkeiten entdecken.
Zum Beispiel, was Frauen vor fünfzig Jahren in ihren Handtaschen zu transportieren pflegten (Cognac) oder angeboten bekamen, sobald dem werten Gatten Whiskey eingeschenkt wurde (Likör). Man wird staunen ob der musikalischen Pausenfüller, die heute wie reine Satire wirken, vom damaligen Kölner Tanz- und Unterhaltungsorchester aber kaum so gemeint gewesen sein dürften. Außerdem wird man sich an der völlig unbeschwerten, lebendigen, ja Likör-beschwingten Art erfreuen, mit der die Sprecher sprechen und zusammenspielen. René Deltgen gibt den Detektiv Paul Temple, lässig und souverän. Herausragend agiert Hermann Pfeiffer, der feurig und kraftstrotzend an Gert Fröbe erinnert. Die Handlung ist nicht immer logisch, geschweige denn wahrscheinlich, aber man will ja nicht zuviel verlangen.
MICHAEL LENTZ: Liebeserklärung. Gelesen vom Autor. Der Hörverlag, München 2003. 3 CDs, 212 Minuten, 24,95 Euro.
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Nicht immer sind Schriftsteller die besten Interpreten ihrer Werke. Zwar hat der Autor durch die viel beschriebene Lesereisenpein einige Übung im Vortrag des zu bewerbenden Textes, ein geborener Sprecher aber ist noch nicht vom Himmel gefallen. Das gilt auch für Michael Lentz. Der Bachmann-Preisträger allerdings promovierte sich über die Lautpoesie der Nachkriegszeit und trat selbst mit Klanggedichten an die Öffentlichkeit, wobei sich zeigt, dass die intensive Auseinandersetzung mit Schwitters, Jandl und Co. die vielleicht beste Vorbereitung zur Aufführung der eigenen Produktion ist.
Nach dem preisgekrönten „Muttersterben“ hat Lentz mit „Liebeserklärung“ nun auch sein zweites Prosawerk als Hörbuch aufgesprochen, und einmal mehr lässt sich neben seiner Sprachgewalt seine Sprechkraft bewundern. Die Virtuosität, mit der er zu Werke geht, dürfte selbst manch professionellen Vorleser beschämen. Messerscharf artikuliert Lentz die einzelnen Worte, wohlverbunden fügt sich bei ihm Satz an Satz. Pausen setzt er gezielt aber sparsam, denn das Tempo seines Textes soll rasant sein. Nicht dass in „Liebeserklärung“ viel passiert, ganz im Gegenteil werden Entscheidungen, wird die „Liebeserklärung“ immer wieder umgangen, doch gerade, weil nichts glückhaft sich ergibt, wird der Liebende zum Rasenden.
Lentz Roman kreist um das Fremde, das Unheimliche und Bedrohliche an der Liebe. Und was auf den Liebenden quälend wirkt, bekommt auch der Hörer brutal zu spüren. Schneidig bis eisig gibt Lentz diesen Ausdruck eines emotionalen Ausnahmezustands wieder. Kompromisslos stellt er der Hitze der Erregung die Kälte der Beherrschung entgegen. Liebeskummer ist kaum schwerer zu ertragen.
PHILIP ROTH: Der Menschliche Makel. Bearbeitung: Valerie Stiegele. Regie: Norbert Schaeffer. Mit Jürgen Hentsch, Michael Mendl, Sophie Rois, Peter Dirschauer u.v.a. Der Hörverlag, München 2003. 2 CDs, 145 Minuten, 19,95 Euro. » amazon |
Daraus kann man kein Hörspiel machen! Oder doch? Valerie Stiegele hat sich Philip Roth episches Erzählwerk „Der Menschliche Makel“ vorgenommen und aus dem im letzten Jahr erschienenen 400seitigen Roman ein kaum mehr als zweistündiges Hörspiel komponiert. „Hörspielbearbeitung“ heißt es sachlich auf dem Titel, aber wie viel Arbeit, wie viel Kreativität dahinter steckt, ahnt man, sobald sich das Kopfkino unaufhaltsam in Gang gesetzt hat.
Stiegele und Regisseur Norbert Schaeffer haben ein Kunststück von seltener Geschlossenheit geschaffen: Der Text wurde überaus klug gekürzt und arrangiert, die Stimmen wurden wunderbar stimmig orchestriert und die Geräuschkulissen so dezent wie eindringlich ein- und aufgebaut. Man höre nur, wie das Schließen der Schiebetür eines Van durch die Lautsprecher rauscht – ein Lob der Stereophonie! Oder wie das Klingeln des Telefons Nathans Erzählung zuweilen interpunktiert, die Musik, zu der Faunia ihren zauberischen Tanz aufführt, das Klappern der Teller, das Klackern der Eiswürfel, das Knattern des Rasensprengers!
Von den fast zwei Dutzend Sprechern, die zum Einsatz kommen, und von denen nicht ein einziger unglücklich gewählt ist, seien nur jene erwähnt, die den vier Hauptpersonen ihre Stimme leihen. In einem Punkt, und da liegt auch das Geheimnis ihres Erfolgs, agieren sie vollkommen übereinstimmend: Der Vielschichtigkeit der Charaktere bewusst, engen sie ihre Figuren nicht auf ein Merkmal ein, sondern bringen deren jeweilige Zwiespältigkeit zum Ausdruck.
Am deutlichsten wird das bei Les, der von Peter Dirschauer gesprochen wird. Die von Angst flankierte Kaltblütigkeit, wie Dirschauer sie meisterhaft zur Geltung bringt, macht es unmöglich, ein klares Urteil über den Psychopaten und Kriegsveteranen zu fällen. Die Ambivalenz seiner Person hält den Hörer ständig in Atem. Ein ebensolcher Spagat, zudem weit untergründiger, gelingt Michael Mendl, der den Protagonisten des Romans gibt, den in sich vielfach gebrochenen Coleman Silk. Auch auf dessen Seite mag man sich nicht bedingungslos schlagen. Colemans Geliebte Faunia, die sich als Analphabetin ausgibt, obwohl sie keine ist, wird von Sophie Rois gesprochen. Und dieser Stimme nimmt man alles ab, alles Leid, alle Träume; zart und herb zugleich ist ihr Vortrag zum Niederknien. Schließlich ist da noch der Erzähler Nathan, wie immer bei Philip Roth eine nicht unbedingt vertrauenswürdige Person. Jürgen Hentsch gelingt es, dem, der eigentlich nur Berichterstatter sein will, mit einer zugleich rätselhaften und fremdartigen Tonfärbung, eine eigene, ganz besondere Kontur zu verleihen. Und so behauptet sich das Hörbuch erfolgreich gegen die nur scheinbar übermächtige Vorlage.
WALTER BENJAMIN: Aufklärung für Kinder. Gelesen von Harald Wieser. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 2 CDs, 114 Minuten, 15,90 Euro.
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Leider existieren keine Aufnahmen der etwa dreißig Beiträge, mit denen Walter Benjamin zwischen 1929 und 1932 im Radio „Aufklärung für Kinder“ betrieb. Reizvoll ist die Vorstellung, würde dieser auratische Philosoph mit seinem Stimmkörper vor einen treten, könnte man lauschend beobachten, wie der Medientheoretiker im damals neuen Medium Radio agierte. Dass er laienhafter gesprochen hat als Harald Wieser auf der vorliegenden Auswahl des Hoffmann und Campe Verlags spricht, ist schwer vorstellbar.
Weniger, um dem Hörer das Begreifen zu erleichtern als zur Vermeidung von Versprechern und aus dem angestrengten Bemühen heraus, deutlich zu artikulieren, liest Wieser wie eine Schnecke. Schlimm genug, dass er nach jedem Satz eine Pause macht, bei jedem Komma aber den Speichel zu sortieren, grenzt an Arbeitsverweigerung. Vielleicht stellt sich mancher ein Hörbuch für Kinder so vor. Wahrscheinlich ist aber doch, dass Kinderohren Worten ebenso schnell folgen können wie Erwachsenenohren.
Dennoch kann man dieses Hörbuch nicht rundheraus ablehnen. Dafür ist Walter Benjamin ein zu guter Erzähler und also zu guter Pädagoge, wobei man ihn aber nicht zum idealen Lehrer und nettesten Menschen stilisieren muss, wie Wieser es im Beiheft tut. Benjamin vermag es, den zu behandelnden Gegenstand mit leichter Hand verständlich und plastisch darzustellen. Ob er dem Hörer das Zigeunerleben näher bringt, E.T.A Hoffmanns Geistergestalten erklärt oder von Pompejis Untergang berichtet, sein Erzählgestus ist so unterhaltsam wie verbindlich.
Zwischen zwei der sechs Beiträge herrscht übrigens eine spannende Korrespondenz: Mit Kaspar Hauser und dem Mann mit der eisernen Maske unterrichtet Benjamin über Figuren, deren wahre Identität rätselhaft ist und wohl auf immer im Verborgenen bleiben wird. Hier macht sich die Lust des Philosophen am Spiel bemerkbar, von der Platon spricht, an Fragen, auf die eine Antwort zu finden aussichtslos scheint. Darin überschneidet sich die unersättliche Wissbegierde des Kindes, die prosaische Menschen Naivität nennen, mit der philosophischen Tätigkeit. Indem Benjamin gerade diese Geschichten über fragwürdige Identitäten wählt, weckt er das Kind im Manne und hält es im Kinde wach. So lauscht man ihm, mit der Schnecke im Ohr, gern.
WERNER FRITSCH: Sense und Jenseits. Gelesen von Hans Brenner und Josef Bierbichler. Hörverlag, München 2004, 2 CD, 152 Minuten, 19,95 Euro.
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Man sollte den Bass etwas rausnehmen. Denn in Werner Fritschs Hörmonologen brummen und grummeln Hans Brenner und Josef Bierbichler manchmal derart, dass man am liebsten ein Stockwerk tiefer steigen möchte, um ihnen zu lauschen. Und auch was sie erzählen, ist zuweilen unterirdisch. Der Schrei einer abgestochenen Sau und die Hand des Erzählers in der Heckselmaschine bilden den wenig magenschonenden Auftakt von „Sense". Hans Brenner gibt hier den Lukas Schnurrer, einen Typ zwischen trotteligem Großväterlein und eiskaltem Alt-Nazi. Was ihn zu seinem Lebensbericht, seinen Erzählungen von Ukrainerinnen- und Hundeliebe antreibt, bleibt unklar. Anders in „Jenseits“ wo Josef Bierbichler als Wolfram „Sexmachine“ Kühn eine Knarre am Kopf hat und noch einmal sein Leben an sich vorbeiziehen sieht – obwohl, auch das ist nicht gewiss. Vielleicht hält er sich die Pistole auch selbst an den Schädel oder befindet sich bereits im Jenseits. Wo er dann auf Cora und Marilyn treffen dürfte, die beiden Frauen, oder: die Frau und die Transsexuelle seines Lebens. Ermordet und verstümmelt liegen die beiden Prostituierten, deren Zuhälter er war, in irgendeinem Haus in der Oberpfalz. Hier „ist der Honig, wo Leben hervorruft, übergegangen in Grausamkeit.“ Sex and Crime an der Grenze zur „Tschechei". Seit seinem Roman „Cherubim“ von 1987, aus dem ebenfalls unter der Regie von Norbert Schaeffer ein beeindruckender Hörmonolog wurde, hat Werner Fritsch mit seiner Prosa, die nicht selten Gedicht ist, aus der Gegend um Grafenwöhr und Flossenbürg eine vollwertige, geradezu mythische literarische Landschaft geformt. Der dortige Dialekt ist Grundlage seiner Literatursprache, und in den Hörmonologen bildet er die, wenn auch manchmal schwer verständliche, so doch immer fesselnde Grundmelodie. Hans Brenner und Josef Bierbichler sprechen dieses derbe, aber auch saftig-runde Idiom als hätten sie nie anders gesprochen. Ersterer mal zackig, dann nölig-rechthaberisch, mit Lust andere Stimmen imitierend, schließlich beißend scharf und ätzend-bitter. Bierbichler, als vom Tod bedrohter, befindet sich schon mindestens in einem Zwischenreich, wo er, wenngleich hin und wieder grantelnd und belfernd, fast schwerelos intoniert. Nicht mehr der Krieg dient in seinem Fall als Worthalde für Metaphern und Vergleiche, sondern das Drogen- und Zuhältermilieu. So unterschwellig wie Fremden- und Evangelenhass sich über die Generationen fortschreiben (das Puff heißt „National"), so ziehen sich auch Binnenreim, Assonanzen und rhythmische Pattern durch den Text: „Ich wähl Schönhuber, arschklar, weil er im Krieg war". Offen lässt der ostfronterfahrene Schnurrer Lukas, ob besagte Gestalt nicht einer dieser „verweichlichten Westfrontler“ ist. Was er und „Sexmachine“ Kühn zum Besten geben, ist zweifellos knallhart. Das krasseste, was einem an der Hörfront derzeit begegnen kann.
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