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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



März 2006 Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Hœricht 7
» Otto Sander liest Fontane live.

» Wolfram Fleischhauer: Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Gelesen von Dietmar Mues.

» Candace Bushnell: Sex and the City. Gelesen von Irina von Bentheim.

» Bibiana Beglau, Stefan Jäger: 57’38’’ Ewigkeit. Sprecherin: Bibiana Beglau.

» Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. Frühe Gedichte und Prosa.

» Homer: Ilias. Gelesen von Rolf Boysen.

» Gert Heidenreich: Thomas Gottschalk. Die Biographie. Gelesen vom Autor.

» Anton Tschechow: Flattergeist. Gelesen von Ernst Schröder.


 Hœricht: Hörbücher - vorgestellt von Tobias Lehmkuhl

Teil 7
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Fontane live

Otto Sander liest Fontane live. Vacat, Potsdam 2004, 1 CD, 59 Minuten.
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„Wer hätte im Laufe dieses Sommers vom neuen Eisenbahnprojekt von Charlottenburg über den Grunewald bis Potsdam gehört, ohne nicht sogleich den Vorsatz zu fassen, einen lang versäumten Besuch ehemöglichst nachzuholen und die Havelforsten zwischen Pichelsberg und dem Wannensee auf ihren Schönheitsgehalt zu prüfen?“ Theodor Fontane, dieser große Theaterkritiker, hielt wenig davon, bei der Landschaftsbetrachtung alle ästhetischen Maßstäbe fahren zu lassen. Denn Landschaft bedeutete ihm geformte Natur. Die Sehnsucht nach Unberührtheit und ursprünglicher Wildheit, wie sie besonders im 19. Jahrhundert gepflegt wurde, war ihm fremd. Was Fontane am „Wannensee“, wie überhaupt an vielen Orten der Mark missfiel, war die „Monotonie“ der Landschaft, die allein durch menschlichen Eingriff gebrochen werden könne. So schwärmt er von der Pfaueninsel, dieser königlichen Puppenstube.
Die Menschen, welche die Gegenden bewohnen, die er auf seinen „Wanderungen“ durchstreift, kommen häufig noch schlechter weg als die Landschaften. Dem Stadtmenschen Fontane erscheinen die Märker grob, engstirnig und kleingeistig. Wie seine Theaterkritik ist allerdings auch seine Landschaftskritik und Menschenschilderung – die trotz allem eine gewisse Zuneigung oder Verbundenheit spüren lässt – von Ironie durchtränkt und mit zünftigem Witz gesättigt. Niemand brächte das besser zu Geltung als Otto Sander mit seiner markanten Stimme.
Auf dem Live-Mitschnitt, der bei der Feier zur Wiederveröffentlichung des 1913 erstmals erschienenen Buches „Berlin und die Mark Brandenburg. Ein Fontane-Brevier mit Farbaufnahmen von Rudolf Hacke“ gemacht wurde, liest Sander einige besonders schöne Stücke, eben die über Pfaueninsel und Wannsee, daneben Gedichte, eine Preziose über die Insel Werder und etwas nicht minder Hübsches über das Städtchen Trebbin. Dabei schludert Sander bei all seiner Routine keinen Satz einfach hin; jeder wird mit einer eigenen Betonung versehen.
Was auf einer Studioproduktion vielleicht angestrengt wirken würde, dieses die Aufmerksamkeit jeden Moment neu justierende, kommt auf der Live-Aufnahme mit beeindruckender Lässigkeit und Leichtigkeit daher. Sander befindet sich – ohne dass er es dafür direkt ansprechen müsste – im beständigen Gespräch mit seinem Publikum. Dies dankt es ihm sehr. Selten wird bei Fontane soviel gelacht worden sein.




Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Wolfram Fleischhauer: Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Gelesen von Dietmar Mues, steinbach sprechende bücher, Schwäbisch Hall 2004, 5 CD, 393 Minuten.
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Inzest ist ein prickelndes Thema. Von der griechischen Mythologie bis zur ARD wimmelt es von verbotenen Lieben. Und auch Wolfram Fleischhauers Roman „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ ist nach dem Muster Bruder liebt Schwester gestrickt. Erst wissen es die beiden natürlich nicht, Giuletta, die Balletttänzerin, und Damián, der Tangotänzer. So verlieben sie sich und, klar, tanzen miteinander, dass das Blut, welches bekanntlich dicker als Wasser, nur so brodelt und blubbert.
Eine Hintertür bleibt selbstverständlich offen: Sie sind nur Halbgeschwister. Ihr Vater ist ein böser Ehebrecher und, wen wundert’s noch, Kollaborateur der argentinischen Militärdiktatur. Genug Stoff für einen dicken Roman, der zu Teilen wie der ausgewalzte Geschichtsteil eines Reiseführers wirkt. Politisch korrekt bis zum geht nicht mehr.
Dietmar Mues liest das ganze. In den erzählenden Passagen gelingt es ihm einigermaßen, den Text auf erträgliche Weise zu transportieren. Sobald er sich allerdings mit direkter Rede konfrontiert sieht, stolpert er von einer falschen Betonung zur nächsten. Zuweilen wirken seine Sätze geradezu roboterhaft. Eine schlichte Fehlbesetzung ist er aber deswegen, weil die Hauptfigur 19 Jahre und weiblichen Geschlechts ist. Der Bass eines 40 Jahre älteren Mannes wirkt in diesem Fall grotesk.
Doch vielleicht müssen schlechte Romane ja auch schlecht gelesen werden. Wenigstens kann man der akustischen Version in solchen Fällen nicht mangelnde Konsequenz vorwerfen. Unter diesem Blickwinkel wäre sogar die sprachliche Qualität von „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ positiv zu beurteilen, sie fügt sich wunderbar ins Gesamtbild. Neben grammatikalischen Schnitzern macht sie vor allem durch die großzügige Verwendung ausgeleierter Worthülsen auf sich aufmerksam. Bevor man angesichts von Kleidern aus „Leder-Imitationen“ allerdings anfängt „hemmungslos“ zu weinen, sollte man sich lieber der „völligen“ Stille hingeben und den CD-Player ausschalten.




Sex and the City

Candace Bushnell: Sex and the City. Gelesen von Irina von Bentheim, Der Audio Verlag, 2 CD, 132 Minuten.
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Unter den Schönen und Reichen gilt es als unfein, über Geld zu sprechen. Nicht aber über Schönheit. Ganz im Gegenteil, das Äußere scheint in diesen Kreisen unbedingt kommentiert werden zu müssen. Und gerade eine Klatschkolumnistin richtet ihr Augenmerk gerne auf die Garderobe ihres Gegenübers. Denn ohne ausführliche Beschreibung des Erscheinungsbildes kommt keine Milieuschilderung aus.
Candace Bushnells Studien- bzw. Klatschobjekt ist die Upper Class der Upper West Side, gutbetuchte, gutaussehende New Yorker zwischen dreißig und vierzig. Viel Glück im Spiel, kein Interesse an der Liebe, so könnte man ihr Leben zusammenfassen, könnte man Leben zusammenfassen. In ihrer fast zwanghaft heterosexuellen Welt geht es vor allem um Sex, gar nicht darum, auf welche Weise oder von welcher Güte, sondern einzig um haben oder nicht haben. Attraktiv aber muss der Partner schon sein.
Was für eine Entdeckung dann der Sex mit Menschen, die unschön und darum nicht präsentabel, geschweige denn heiratswürdig sind, wie zwanglos und unverkrampft! Plötzlich macht es derart Spaß, dass man sich glatt verlieben könnte. Nicht zuletzt angesichts solcher Geschichten ließe sich herrlich über die Oberflächlichkeit und Dekadenz dieser Welt des schönen Scheins moralisieren.
Stattdessen fühlt man sich gut unterhalten, zumal Irina von Bentheim, die Synchronstimme von Carrie Bradshaw, dem alter ego Candace Bushnells in der Fernsehserie „Sex and the City“, ihrer Figur durchaus ein wenig Selbstironie verleiht. In einer sympathischen Mischung aus Bissigkeit und Dümmlichkeit gleitet sie sicher durch die mit Vogelgezwitscher und Verkehrslärm pittoresk untermalte Lesung.
Ein sehr verkürzter Begriff davon, was Leben in der Großstadt bedeutet, sehr schematische Gedanken über Männer und Frauen, über Kinder und Karriere, und zu guter Letzt eine doch recht armselige Vorstellung davon, was Liebe bedeutet und was Sex, bestimmen Bushnells Kolumnen. Doch wer auf das so lang ersehnte „Ich liebe Dich“ „Bring mich nicht zum Kotzen“ erwidert, der ist bei der Coolness-Olympiade ganz vorne mit dabei und nicht nur entschuldigt, sondern auch etwas bewundert.




57’38’’ Ewigkeit

Bibiana Beglau, Stefan Jäger: 57’38’’ Ewigkeit. Sprecherin: Bibiana Beglau, Regie: Stefan Jäger. sprechtheater, Zürich 2004, 1 CD, 57 Minuten 38 Sekunden.
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Lebendig begraben. Eine Horrorvorstellung. Man kann nur hoffen, dass so etwas heutzutage nicht mehr vorkommt. Zumindest nicht auf Friedhöfen. Im Gebirge ist allerdings jederzeit damit zu rechnen. Eine Schneelawine tötet nicht unbedingt sofort. Meist begräbt sie einen erst. Das hat auch einen Vorteil: Man könnte noch gerettet werden, bevor man erfriert. Die innere Spannung einer solchen Situation ist enorm, und es ist verwunderlich, dass sich noch niemand daran begeben hat, dieses dramatische Potential auszuschöpfen. Doch auf der Bühne oder im Film gibt es kaum zu lösende Darstellungsprobleme: Immerhin müsste es freien Raum um den Begrabenen geben, damit er vom Zuschauer gesehen werden kann. Das würde natürlich die Illusion des Eingeschlossenseins zerstören. Hier zeigen sich die Vorteile des Hörstücks. Wirklich nah vermag einzig der Hörer dem Begrabenen zu kommen, denn wie dieser, der ängstlich auf Rettung lauscht, ist jener ganz Ohr.
Bibiana Beglau und Stefan Jäger haben nun ein Stück über eine Verschüttete geschrieben, haben recherchiert und Leute interviewt, die dem Tod von der Schneeschippe gesprungen sind. Bibiana Beglau hat sich sogar selbst unter Schnee begraben lassen. Sie erzählen die Geschichte einer Frau, die mit ihrer Seilschaft von einem Lawinen-Abgang überrascht wird. Vom Weiß begraben, ganz allein mit ihrer inneren Stimme, dem Frost und den spärlichen Geräuschen der Schneemassen, hat sie auch noch mit ihren Erinnerungen zu kämpfen. Knapp eine Stunde dauert dieser innere Monolog, dauert das Zittern und Frieren, dauert die Unheimlichkeit des Grabes.
Bibiana Beglau reißt einen mit in die Tiefe. Sie benutzt dazu keine besonders schöne, sondern fast eine Allerweltsstimme, eine, wie die ständige Begleiterin in eines jeden Kopf. Selbst wenn sie die Stimme ihrer Figur ganz lässig klingen lässt, als hätte diese für einen Moment vergessen, dass sie kurz vorm Erfrieren steht, meint man noch die nervösen Augenbewegungen einer Schlafenden, einer unruhig ins Nichts spähenden Person wahrzunehmen. Ihr Selbstgespräch ist erst beherrscht, dann zerfahren, sie beginnt sich zu wiederholen, das Bewusstsein zu verlieren. Und in diesem halbschlafähnlichen Zustand schließlich, als die Widerstände und selbst gesetzten Schranken immer durchlässiger werden, kommt sie sich selbst näher, versteht Dinge der nahen und fernen Vergangenheit, die zuvor verschüttet waren.
Das Schneegrab als Selbsterfahrungstrip, könnte man meinen. Aber so einfach haben es sich Beglau und Jäger zum Glück nicht gemacht. Der Hörer weiß nicht, was war, bevor die Lawine vier (oder drei? Das ist die Frage) Menschen unter sich begrub. Und ob es ein Danach gibt? In Form dieses Hörstücks, ja, und das ist schon mal eine ganze Menge.




Die gestundete Zeit.

Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. Frühe Gedichte und Prosa, Der Hörverlag, München 2004, 1 CD, 65 Minuten.
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„Fünfziger-Jahre-Gedichte: Ein angestrengtes Waten in Vierfruchtmarmelade.“ Diese Formulierung, von Thomas Kling in seinem Beitrag für das Ingeborg-Bachmann-Gedenkbuch „Einsam sind alle Brücken“ auch in Bezug auf die lyrischen Produkte der Klagenfurterin gebraucht, mag man für wenig sachlich halten. Eine treffendere aber wird sich kaum finden. Und auch, wenn der Trend heute eher zur schlanken Zweikomponentenmarmelade geht („Stachelbeere-Aloe-Vera“ – der Silke-Scheuermann-Mix), Ingeborg Bachmann ist nach wie vor beliebt.
Der Hörverlag jedenfalls hat jetzt Aufnahmen ihrer frühen Gedichte veröffentlicht, die die Autorin zwischen 1948 und 1953 eingesprochen hat. Als Aufschlag gibt es noch etwas Prosa. Beides liest Bachmann, als wolle sie ein Lehrbeispiel dafür schaffen, dass Autoren und Autorinnen ihre eigenen Erzeugnisse besser nicht selbst lesen.
Gerade bei Gedichten ist die Gefahr, sich im Ungefähren zu verplappern, ja besonders groß. Der Irrglaube, die Autorenlesung vermittele am besten die Intention des Dichters oder der Dichterin ist weit verbreitet, obwohl sich viele Interpreten ihres eigenen Werks gerne einer gefühligen Ableserei hingeben, bei der selten mehr als ein einlullender Einheitsbrei heraus kommt.
Befördert wird das bei Bachmann durch ihre zarte, mädchenhafte Stimme und die Überreste ihres Kärntner Dialekts: breite Vokale, weiche Anlaute und P’s, die wie Seifenblasen ploppen. Kaum zu glauben, was Peter Demetz im selben Gedenkbuch erinnert, dass nämlich Ingeborg Bachmann bei öffentlichen Lesungen „die Hörerschaft in ihrer Gewalt hatte. Auf die sanfteste und bescheidenste Tour.“ Da war eben noch kein Thomas Kling.




Ilias

Homer: Ilias. Gelesen von Rolf Boysen. Der Hörverlag, München 2004. 6 CD, 462 Minuten.
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Warum gerade die „Ilias“ sich als erstes Werk der abendländischen Literatur erhalten hat? Weil in ihr so viele Leidenschaften toben, so viel Zorn glüht und Gewalt wütet, dass sie sich in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen musste: als Aphrodisiakum dunkler Lüste und Schreckensvision zugleich. Wer könnte diesen Versen widerstehen? Ein Augenfauler, jemand, der des Lesens müde ist, vielleicht. Nicht aber einer, der sie aus dem Munde Rolf Boysens hört. Da bräuchte es schon Wachs in den Ohren, wollte man sich ihrer Macht entziehen.
Fünf Abende lang ist es mucksmäuschenstill im Münchner Residenztheater. Während der 83-jährige Schauspieler die „Ilias“ vorträgt, lässt sich kein Huster zu vernehmen, nur hier und da ein Lachen. Natürlich liest Boysen eine gekürzte Version, und sicher kann man dankbar sein, dass einem der ellenlange Schiffskatalog erspart bleibt. Aber die fast acht Stunden vergehen wie im Rausch. Selbst wenn die Konzentration einmal abfällt und es schwierig wird, den windungsreichen Wortwechseln zu folgen, Boysens Stimme macht es unmöglich, länger abzuschweifen.
Die Aufmerksamkeit fesselt er, weil ihn derselbe Eifer umtreibt, wie die Helden Homers. Kompromisslos geben sie sich ihrer Sache hin. Da gibt es keine ironische Brechung, dankenswerterweise, und deswegen auch kein Pathos, den dunklen Zwilling der Ironie. Die „Ilias“ ist Größe, Erhabenheit. Und indem Boysen dies erkennt und sich dem unterwirft, wird er den unsterblichen Gesängen gerecht.
Von Anfang an ist seine Stimme zum Bersten geladen, voll der Gefühle, die Achaier und Troer Krieg führen lassen. Am Ende des Kampfes kapituliert beinahe das Mikrofon. Dann aber ist das Werk vollbracht, Hektor hingerichtet. In der letzten Stunde schließlich fängt Boysen mit getragener, ruhiger Rede auf, was jeden Hörer dieser Geschichte angesichts des Achilleus’ unmäßigem Groll und Hektors traurigem Tod ergreift: „Sprachlosigkeit, wortlose“. Kaum zu glauben, wie gebannt man auf Lautsprecher starren kann.





Thomas Gottschalk

Gert Heidenreich: Thomas Gottschalk. Die Biographie. Gelesen vom Autor. steinbach sprechende bücher, Schwäbisch Hall 2004, 4 CD, 312 Minuten.
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„Mit 50 Jahren wird er zwar noch nicht daran denken, seine Memoiren zu schreiben …“, aber warum sollte ich nicht schon mal seine Biographie auf den Markt bringen? Für Gert Heidenreich ist das noch wenig beeindruckende Alter seines Freundes Thomas Gottschalk jedenfalls kein Grund, von der Publikation einer Lebensbeschreibung abzustehen. Auch seine enge persönliche Verbundenheit mit dem Entertainer hat ihn nicht daran hindern können. Warum auch? Schließlich haben die Freundschaft und Verehrung, von denen James Boswell beseelt war, seinem „Dr. Samuel Johnson“ keineswegs zum Nachteil gereicht. Leider ist Gert Heidenreich kein James Boswell. Bedauerlich auch, dass Thomas Gottschalk – außer, was den Kopfschmuck angeht – keinerlei Ähnlichkeit mit Samuel Johnson hat. Dabei bleibt einigermaßen im Unklaren, wer Thomas Gottschalk eigentlich ist. Hin und wieder verweist Heidenreich auf Eichendorffs „Taugenichts“ und beschwört Gottschalks Verwandtschaft mit dieser Figur. Wie aber jemand, der einfach nur ein lieber und netter Junge sei, der hin und wieder Schabernack treibe, zum „größten Entertainer Europas“ aufsteigt konnte, bleibt rätselhaft.
In der Biographie reiht sich eine beschauliche Anekdote an die andere. Man erfährt, wie dem kleinen Thommy die Jerry Cotton-Hefte verregnen, wie der große beim Bentleykauf übers Ohr gehauen wird, wie viel der erste Sohn bei der Geburt wiegt und wann genau er das Licht der Welt erblickt hat (8:35 Uhr). Selbst mit den Schwierigkeiten beim Aufbau von Ikea-Regalen wird man nicht verschont. Auch lässt es Heidenreich sich nicht nehmen, die PS-Zahl des ersten Gottschalk’schen Dodges mitzuteilen (230).
All das ist schrecklich gefällig und genau das, was zu befürchten steht, wenn jemand über einen guten Freund schreibt. Schnell kommt dabei eine Homestory voller Banalitäten heraus. Normalerweise wird so etwas bei runden Geburtstagen in gereimter Form zum Besten gegeben. Die Konvention dieser Textgattung gebietet zudem, dass die werte Gattin für ihre Qualitäten als Innenarchitektin gelobt wird. Auch hier fehlt Heidenreich nicht.
Mit der Zeit gerät ihm seine Biographie des „ideologie-, aber nicht moderesistenten“ Mannes aus Kulmbach zum Lobgesang. Vor den Quoten, die er zu erzielen versteht und der Anzahl der Weingummibärchen, die sein Werbepartner täglich produziert, kann Heidenreich nur noch niederknien. Da es vielen Menschen ähnlich geht, nimmt der Rummel um den lieben Thomas in den achtziger Jahren ungeahnte Ausmaße an, und so ist es ein Glück, dass das Jahrzehnt zu Ende geht und statt des Entertainers der Mauerfall im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Halleluja!
Anfang der Neunziger lässt der Erfolg allerdings nach. Schuld sind natürlich die Zeitungsfritzen, die einem auch jeden Spaß verderben können. Es ist ihnen sogar zuzutrauen, dass sie sich über den bedauerlichen Irrtum lustig machen, Gottschalk sei in einem Film des Regisseurs Harald Dietl aufgetreten. Doch bevor es soweit kommt, wollen wir mit der Bemerkung schließen, dass Gert Heidenreich schon mehrere Hörbücher eingesprochen hat. Auch „Thomas Gottschalk. Eine Biographie“ geht ihm routiniert von der Zunge.





Flattergeist

Anton Tschechow: Flattergeist. Gelesen von Ernst Schröder. Solo Hörbuch, Berlin 2004, 1 CD, 60 Minuten.
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Den Taktschlag der Sätze aufzuspüren, ist für den Vorleser die größte Herausforderung. Seine Stimme mag noch so schön sein, seine Artikulation noch so fein, die Lesung zerfasert, findet er nicht das richtige Tempo. Umgekehrt: Ist die Stimme rau, kantig, ungeschliffen, die Artikulation unsauber, womöglich mit einem Sprechfehler belegt, hört man doch, solange nur das Tempo stimmt, gerne zu. Nichts ist schwieriger, nichts wichtiger, als einen Text, der anfangs in flinkem Allegro gelesen werden will, um bald in zart-drängendem Andantino zu erklingen und ganz Moderato zu enden, auch so zu lesen.
Ein musiktheoretisch, zugegeben, äußerst fragwürdiges Schema, doch Ernst Schröder wird auf diese Weise, mit Abstufungen und Zwischenspielen, Anton Tschechows Erzähl-Komposition „Flattergeist“ nicht nur gerecht, er bringt die schlichte Prosa des Russen regelrecht zum Singen. Und fängt damit den heiter-melancholischen Geist ein, der über Tschechows Sätzen schwebt. Elegant schmiegt Schröder sich den Stimmungen an, die hier, ähnlich Gräsern im Wind, hin- und herflattern.
Im Mittelpunkt steht eine Frau, Olga Ivanovna, jung und frisch verheiratet. Ihr Gatte heißt Dymov. Er ist Arzt und ein gutmütiger Kerl. Er stört nicht, wenn Olga Ivanovna ihre Salons abhält, ja er fällt überhaupt nicht auf. Still geht er seiner Arbeit nach, behandelt und forscht, auch als seine Gattin mit ihren Künstler-Freunden eine Reise unternimmt, während derer ein Maler ihr Herz erobert. Kaum ist Olga Ivanovna zurückgekehrt, beginnt die Eifersucht ihr Leiden schaffendes Werk.
Man ahnt, wie die Geschichte zu Ende geht, doch überrascht die Pointe, mit der Tschechow aufwartet. Der gutmütige Dymov entpuppt sich als talentierter junger Wissenschaftler, den seine Kollegen verehren wie nur jemanden. Doch da ist es für Olga Ivanovna zu spät. Nach ihrem nutzlosen Maler kräht kein Hahn, den Verlust ihres suizidalen Ehemanns aber beklagt die Welt. Zu spät kommt die Erkenntnis, dass die Kunst ein Luxus ist, mit dem man sich die Langeweile vertreibt, dass die Künstler ein ehrloses Volk sind und ihr Tun von erschreckender Nichtigkeit. Das ist zwar nicht schön zu hören, ist aber schön anzuhören.