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Februar 2008
 


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Cinemania 52:
Berlinale Teil 2

In den letzten Jahren gab es auch immer ein Cinemania zu den satt.org-Ausflügen auf den European Film Market, doch in diesem Jahr standen unsere Bemühungen unter einem schlechten Stern: Beim neuen Film von Julio Medem hatte der spanische Verleiher Bedenken, ob der deutsche Verleiher (der leider keinen eigenen Stand hatte und somit am Wochenende schwer erreichbar war) nicht ein Problem mit verfrühter Berichterstattung haben könnte, und die Vorführung des neuen Films von Olivier Assayas (leider ein Regisseur, dessen Filme viel zu selten in deutschen Kinos gezeigt werden) wurde sogar ganz abgesagt. Deshalb diesmal nur zwei Market Screenings und dazu noch ein paar ganz “normale” Berlinale-Filme in diesem Cinemania.

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Honeydripper
(John Sayles,
European Film Market)

USA 2007, Buch, Schnitt: John Sayles, Kamera: Dick Pope, Musik: Mason Daring, Production Design: Toby Corbett, Art Direction: Eloise Crane Stammerjohn, Kostüme: Hope Hanafin, mit Danny Glover (Tyrone Purvis), Lisa Gay Hamilton (Delilah), Yaya DaCosta (China Doll), Charles S. Dutton (Maceo), Vondie Curtis-Hall (Slick), Gary Clark Jr. (Sonny), Mable John (Bertha Mae), Stacy Keach (Sheriff), Nagee Clay (Scratch), Absalom Adams (Lonnie), Arthur Lee Williams (Metalmouth Sims), Ruben Santiago-Hudson (Stokely), Davenia McFadden (Nadine), Daryl Edwards (Shack Thomas), Sean Patrick Thomas (Dex), Eric L. Abrams (Ham), Kel Mitchell (Junebug), Keb' Mo' (Possum), Tom Wright (Cool Breeze), Donnie L. Betts (Mr. Simmons), John Sayles (Zeke), Larry Coker (Driver), Mary Steenburgen (Amanda Winship), Brian D. Williams (Luther), Santana Shelton (Opal), 123 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]

Es ist keine generelle Regel, aber John Sayles schreibt und inszeniert gern Filme, die sich eines bestimmten Bundesstaates der USA und etwaigen Besonderheiten annehmen, das berühmteste Beispiel ist sicher Lone Star über Texas und die mexikanische Grenze. Dies ist vielleicht auch mit ein Grund, warum Sayles’ Filme es auf dem Weltmarkt nicht immer leicht haben, denn (auch wenn der Vergleich hinkt) wer interressiert sich in Neuseeland schon für Baden-Württemberg?
Honeydripper spielt im Jahre 1950 in Alabama, genauer gesagt in der kleinen Gemeinde Harmony. Ein dort ankommender junger Gitarrist interpretiert den Ortsnamen als gutes Omen für die Einstellung der Bürger zur Musik, doch ein Ortsansässiger gibt seiner Euphorie einen frühen Dämpfer: “Only time I ever spent in jail was in a town called Liberty”.
“Honeydripper” ist der Name eines etwas heruntergekommenen Lokals, das der Klavierspieler Tyrone (Danny Glover) zusammen mit seiner Frau Delilah (Lisa Gay Hamilton) und der 16jährigen Tochter China Doll (Yaya DaCosta) führt. Zu Beginn sieht man Tyrone am Klavier und die durchaus begabte, aber auch etwas betagte Bertha Mae (Mable John) demonstriert ihre Gesangskunst, doch leider bleibt das Publikum mittlerweile aus, denn es gibt eine harte Konkurrenz, die die jugendliche Klientel und die Soldaten aus dem nahen Armee-Standort “abgreift”, und, wie es treffend auf den Punkt gebracht wird: “Singing is one thing, wanting to look at someone doing it is another thing altogether”.
Während Tyrone die Schulden über den Kopf wachsen und die überfällige Miete sehr bald bezahlt werden muss, wenn er nicht den Laden verlieren will, organisiert er ein Konzert des aus dem Radio bekannten “Guitar Sam”, der auf der Reise zwischen zwei Konzertorten Harmony einschieben kann. Doch wie es in solchen Filmen oft so ist, geht einiges schief, die Elekrizität im “Honeydripper” wird schon früh als Problem eingeführt, der Schnapslieferant will nicht ohne sofortige Bezahlung liefern, Guitar Sam verspätet sich, und zwei Streithähne bringen zum Konzert sorgsam ihr Messer bzw. die Pistole mit.
Neben dem Thema Musik (inklusive eines Mythos des Blues, des blinden Gitarristen) geht es natürlich um die Unterdrückung der Schwarzen, beispielhaft am durchreisenden Sonny (Gary Clark jr.) vorgeführt, den der feiste Sheriff (Stacy Keach) wegen “Landstreicherei” verhaftet und bei seinem Freund, dem Richter für einen Hungerlohn auf den Baumwollfeldern schuften lässt, eine Situation, die der Sklaverei nicht unähnlich erscheint. Doch Sayles ist kein Moralist, sondern ein (wenn auch moralisch einwandfreier) Entertainer, und so amüsiert er sein Publikum mit einer soliden Ensembleleistung, diversen Subplots und (teilweise) sehr sympathischen Figuren. Zwei kleine Jungen, die Tyrone und seinem besten Kumpel nicht unähnlich erscheinen, üben sich schon im Vorspann in einer seltsamen Art des Musizierens, u. a. mit einem nur aufgemalten Klavier. Beim Abspann hat einer sein Instrument den Zeichen der Zeit entsprechend verändert, und zum Spiel seiner Luftgitarre ertönt diesmal tatsächlich Musik. Diese jugendliche Euphorie nimmt auch der Zuschauer aus dem Kino mit.


Peur(s) du noir
(Richard McGuire, Charles Burns,
Lorenzo Mattotti, Blutch, Marie Caillou,
Pierre Di Sciullo, Michel Pirus,
European Film Market)

Artistic Director, Vor- und Nachspann: Etienne Robial, Buch: Richard McGuire, Charles Burns, Jerry Kramsky, Blutch, Pierre Di Sciullo, Michel Pirus, Romain Slocombe, Musik: René Aubry, Boris Gronemberger, Laurent Perez del Mar, George Van Dam, Übersetzer (ins Französische): Philippe Paringaux, mit den Originalstimmen von Guillaume Depardieu (Carl), Nicole Garcia (Narrator), Aure Atika (Sheila), Marie Caillou, 78 Min.

Die Produktionsfirma Prima Linea Productions entstand aus einer Agentur für Illustratoren, und betreute nach der Twingo-Campagne von Philippe Petit-Roulet zwei Adaptionen von Kinderbüchern von Grégoire Solotareff. Die zweite davon, U, lief auch auf der letzten Berlinale. Die erste, Loulou et autres loups, wuchs zu einem Episodenfilm an, bei dem u. a. auch Richard McGuire und Marie Caillou beteiligt waren. Zu diesen beiden gesellten sich nun beim neuesten Projekt, Peur(s) du noir, noch bekannte Comic-Zeichner wie Lorenzo Mattotti, Charles Burns oder Blutch. Die anfänglich noch beteiligten Philippe Dupuy und Charles Berberian stiegen leider aus, die ursprünglich angefragten Künstler Art Spiegelman, Chris Ware, Marjan Satrapi oder Thomas Ott sagten aus Zeitgründen gleich ab.
Das Thema des neuen Films ist die Angst vor der Dunkelheit, wie sie im Filmtitel gleich mit dem Format (bis auf einige rote Farbtupfer sind alle Beiträge in Schwarzweiß gehalten) verbunden wird: Angst / Ängste vor dem Schwarz. Was (berechtigterweise) recht schnell den Eindruck verbreitete, dass es sich bei dem Film um ein Nischenprodukt für Horrorfreunde und Comicfans handelt. Dies würde ich zwar für den französischen Markt nicht sofort unterstreichen, aber beispielsweise in Deutschland sind Comiczeichner wie Mattotti oder Burns einfach einem breiten Publikum nicht bekannt. Und dem Genre Animationsfilm haftet trotz der Erfolge um Shrek, Pixar, den Simpsons oder Persepolis immer noch die Meinung an, dass Zeichentrickfilme etc. vor allem für Kinder gedacht und geeignet sind, was mit dem Sujet von Peur(s) du noir leider so gar nicht zusammenpasst, denn dieser Film ist für Kinder unter 14 so gar nicht geeignet, allzu düster und alptraumhaft sind einige der Geschichten. Somit scheint es zumindest für Deutschland unwahrscheinlich, dass sich ein Verleiher findet, Auftritte beim Fantasy Film Fest oder im Rahmenprogramm des nächsten Comic-Salons hingegen scheinen für den Film wie geschaffen. Dass Peur(s) du noir in Deutschland derlei Vorurteile überwindet, wie es im letzten Jahr bei Persepolis geschah, ist unwahrscheinlich, dazu fehlt dem Film einfach die politische und feministische Unterfütterung, die Marjane Satrapis Comicverfilmung zu einem kleinen Phänomen machte.
Doch widmen wir uns ungeachtet der Vermarktungsprobleme der Qualität des Films. Wie es bei solchen Projekten nahezu unvermeidbar ist, variieren die Episoden nicht nur im Stil (und hier auch in der Machart, von herkömmlicher Zeichentrick-Arbeit bis zu computergestützter 3D-Animation ist alles vorhanden), sondern auch in der Qualität der erzählten Geschichten und ihrer Umsetzung.
Bei der Episode von Charles Burns hat man das Gefühl, die Figuren in seinem üblichen Zeichenstil (dicke Linien, viele Schwarzweiß-Konraste, stilisierte Straffuren vor allem in den Hintergründen) würden zu Leben erwachen. Mit einer computergestützten Animation, wie man sie auch aus Video-Clips und Werbungen kennt, wurden Burns’ Figuren gescannt und ins Dreidimensionale verwandelt, das dann wieder in den eher (räumlich) flachen Burns-Stil zurückverwandelt wurde. Die dazugehörende Geschichte ist ebenfalls typisch für Burns. Wie in seinem bisher anspruchvollsten Werk Black Hole geht es auch hier um die Sexualität eines Heranwachsenden, die durch eine seltsame Krankheit bedroht wird, was hier zwar weniger als Aids-Parabel erkennbar ist, aber wie in Black Hole an EC Comics und die Moralvorstellungen von 50er Jahre-Filme erinnert. Burns’ Faszination mit der Ästhetik des Hässlichen, die man aufgrund seiner Körperbezüge mit David Cronenberg vergleichen könnte, wird hier effektvoll in das andere Medium übertragen. Einziger Schwachpunkt ist die Animation der weiblichen Protagonistin, die insbesondere bei der Darstellung des Gesichts recht weit von den bekannten Frauen- (oder Mädchen-) figuren bei Burns abweicht und die Gesamtatmosphäre eines sich bewegenden Burns-Comics etwas einschränkt.
Ebenfalls sehr nah am Comic-Vorbild ist der Beitrag von Lorenzo Mattotti, der in diesem Fall sogar eine recht eindeutig erkennbare Vorlage hat, den kurzen Strip Das heilige Krokodil, der in Ausgabe 1 von Plaque, der Anthologie des Berliner Avant-Verlags erschien. Leider hat Mattotti dieser Vorlage weder erzählerisch noch graphisch viel hinzuzufügen, sein aufwendiger Schwarzweißstil lässt sich nur schwerlich animieren, und somit enttäuscht sein Beitrag, seine Absicht, “zu reduzieren uns do wenige Bewegungen zu zeigen wie möglich”, hört sich interessant an, doch hier wirkt der zugrundeliegende Comic (und der war auch kein Meisterwerk) ungleich stärker als die filmische Adaption.
Auch der Beitrag von Blutch wirkt nur teilanimiert und enttäuscht vor allem durch die platte und unnötig brutale Geschichte. Eine Figur, die wie ein Adliger aus dem 17. Jahrhundert aussieht, geht mit vier riesigen Hunden Gassi. Der erste reißt sich los und verfolgt ein Kind, später werden sie auch absichtlich auf Vertreter der ärmlichen Landbevölkerung losgelassen, wobei insbesondere der Überfall auf eine Frau, bei der der Hundeangriff fast wie eine Vergewaltigung inszeniert ist, einfach nur ärgerlich wirkt. Sicher kann man hier Urängste anstacheln, und Hundeangriffe lassen sich auch mit Leichtigkeit wie ein Angriff durch die Farbe Schwarz animieren, doch vermisst man hier die Geschichte hinter den plakativen Aktionen.
So wie der Beitrag von Blutch sich über mehrere Episoden über den gesamten Film zieht, so gibt es als “Pausenfüller” auch immer wieder eher experimental animierte schwarze Flächen (von Pierre di Sciullo), die von einer Frauenstimme begleitet werden, die unzählige kleine Ängste aufführt. Nett anzusehen, aber der Zusammenhang zwischen Text und Bild hat sich mir nur in den seltensten Fällen erschlossen.
Der Beitrag von Marie Caillou über die Alpträume der elfjährigen Sumako ist sowohl von der Geschichte als auch von der teilweise Anime-inspirierten Animation her interessant, wirkt aber teilweise auch sehr laut und plakativ und überzeugt nur im Ansatz. Der hHöhepunkt des Films kommt zum Schluss, der Beitrag von Richard McGuire. McGuires sechsseitiger Comic Here in einer der letzten Ausgaben von Art Spiegelmans RAW war so spektakulär in seiner völlig innovativen Ausnutzung des Mediums, dass McGuire danach den Bereich Comic völlig hinter sich ließ, und sich vor allem als Graphic Designer betätigte. In seiner Episode macht er die Angst vor dem Dunkeln wirklich zum Thema, denn in einer Animation, die wirkt wie eine Zusammenarbeit von Chris Ware, Marjane Satrapi und Frank Miller (falls sich das jemand vorstellen kann), verwandelt er einen dreidimensionalen Raum über die kontrastreiche Arbeit mit negativen und positiven Flächen in eine rein flächige Animation, die der Betrachter dann wieder (und dies mit Leichtigkeit) in einen dreidimensionalen Raum zurückverwandeln kann. Wer schon Millers Sin City-Comics teilweise abstrakt fand, wird hier die Fortführung des Prinzips in bewegte Bilder erleben. Die Geschichte dahinter wirkt zwar teilweise etwas simpel, aber gerade bei den Bemühungen eines Mannes, in einem dunklen Haus Licht oder den kamin anzuwerfen, lassen sich mit viel Schwarz und ein wenig Weiß hervorragend umsetzen.
Der Gesamteindruck von Peur(s) du noir unterstreicht leider die eingangs geäußerten Bedenken um das Marktpotential, aber wer sich ein wenig für Comic oder Animation interessiert, wird schon von den Beiträgen von McGuire und Burns so reich belohnt, dass sich der Kinoeintritt bezahlt macht.

Julia
(Erick Zonca, Wettbewerb)

Frankreich 2008, Co-Regie: Camille Natta, Buch: Aude Py, Erick Zonca, Kamera: Yorick le Saux, Schnitt: Philippe Kotlarski, mit Tilda Swinton (Julia), Aidan Gould (Tom), Kate del Castillo (Elena), Saul Rubinek (Mitch), Jude Ciccolella (Nick), Bruno Bichir (Diego), Horacio García Rojas (Santos), Gastòn Peterson (Miguel), Mauricio Moreno (José), Kevin Kilner (Johnny), John Bellucci (Philip), Ezra Buzzington (George), Roger Cudney (Frank), Eugene Byrd (Leon), Sandro Kopp (Marcus), 138 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]

Tilda Swinton ist ein gern gesehener Gast auf der Berlinale, und sie kommt auch immer wieder gern nach Berlin. Vor fünf Jahren war sie mit Adaptation und Teknolust zu Gast, etwas später folgte Thumbsucker, und ab sie für ihre Beteiligung bei Strange Culture und Schau mir in die Augen, Kleiner auch extra angereist war, entzieht sich gerade meiner Kenntnis. 2008 nahm sie nicht nur einen Teddy für den von ihr geschriebenen und gesprochenen Derek (über Derek Jarman) entgegen, sondern war auch einer der heiß gehandelten Bären-Favoriten für ihre Rolle im Wettbewerbsbeitrag Julia.
Hier spielt sie eine 40jährige Alkoholikerin Julia, die zu Beginn noch als eine Partylöwin mit Affinität zu One-Night-Stands durchgehen mag, bei der der Zuschauer aber schnell mitbekommt, dass sie sich auf dem Weg nach ganz unten befindet. Der unscheinbare Mitch (Saul Rubinek) scheint ihr einziger Freund, der auch versucht, sie vom Alkohol wegzubekommen, doch über seine Schwäche für sie macht sie sich eher lustig, weil sie noch glaubt, ihr Leben allein in den Griff bekommen zu können. Bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker trifft sie Elena (Kate del Castillo), eine ebenfalls ziemlich durchgeknallte, aber irgendwie liebenswerte Erscheinung, die ihren kleinen Sohn Tom (Aidan Gould) ihrem übermächtigen und reichen Schwiegervater wegnehmen will, der dem Kind offenbar nur in Ausnahmefällen Kontakt zu seiner leiblichen Mutter ermöglicht, was sich aus der Sicht der Mutter natürlich hundsgemein anhört. Elena will ihren Sohn kidnappen, und braucht dafür Hilfe. Julia hält Elena zunächst zu Recht für völlig durchgeschnappt, doch allmählich gedeiht in ihr der Plan, Elenas Intimkenntnisse auszunutzen, um seinerseits dieser das Kind abzunehmen, und mit einem großen Coup all ihre Geldprobleme in den Griff zu bekommen. Doch wie das bei Filmen über Entführungen oft so ist, geht einiges schief. Schon für eine Pistole legt sich Julia mit einem gefährlichen Typ aus der Nachbarschaft an, die eigentliche Entführung gerät zum Fiasko, und nun muss sich Julia, die kaum ihr eigenes Leben im Griff hat, auch noch um den kleinen Tommy kümmern, der sie zunächst immer nur mit einer greulichen schwarzen Gesichtsmaske kennenlernt, und den sie (was das Verhältnis nicht verbessert) einfach mal mit Schlaftabletten stumm macht und an die Heizung fesselt, wenn sie gerade irgendwo hin muss - sei es, um etwas für den Entführungsplan zu organisieren, oder um Schnaps zu besorgen.
Ich will nicht zuviel über die turbulente Geschichte verraten, aber auf abenteuerlichen Umständen landen Julia und Tom in Mexiko (dem Land, aus dem seine wirkliche Mutter stammt, und die man angeblich dort treffen will, wie die aktuelle Lügengeschichte Julias lautet), und Julia wird nicht die letzte sein, die Tom entführt (die nächsten Entführer halten erstaunlicherweise Julia für die Mutter).
Regisseur Erick Zonca gelingt es überzeugend, eine wirre Entführungsgeschichte mit einer Charakterstudie zu verbinden, und dabei Action-Elemente und größtenteils nachvollziehbare psychologische Hintergründe im Auge zu behalten. Die 138 Minuten ziehen sich teilweise zwar etwas, aber auf dieser Berlinale habe ich Anderthalbstünder gesehen, die weitaus lääänger wirkten. Dass sich Julia zur Ersatzmutter entwickelt, wird zwar keinen Zuschauer überraschen, aber das halbwegs offene Ende entzieht sich immerhin einer gängigen Hollywood-Dramaturgie. Wer Tilda Swinton mag, wird mit diesem Film zufrieden sein, wer sie nicht ausstehen kann, wird sich auch kaum ins Kino verirren.


3 Días
(F. Javier Gutiérrez,
Panorama Special)

Int. Titel: Before the Fall, Spanien 2008, Buch: Juan Velarde, F. Javier Gutiérrez, Kamera: Miguel ngel Mora, Schnitt: Nacho Ruiz Capillas, Musik: Antonio Meliveo, mit Victor Clavigo (Ale), Mariana Cordero (Rosa), Eduard Fernández (Lucio), Elvira de Armiñán (Clara), Ana de las Cuevas (Raquel), Juan Galván (Nico), Daniel Casadellá (Emilio), 93 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

Drei Tage noch, und ein Meteorit, der fünf mal so groß ist wie jener, der die Dinosaurier auslöschte, soll auf die Erde knallen. Das ist das Ausgangsszenario in F. Javier Gutiérrez’ Spielfilmdebüt 3 Días, in dem sich der Leichtfuß Ale (Victor Clavigo) wieder findet.
Zu Beginn des Films übernehmen wir die Perspektive eines Satelliten, der um die Erde kreist, plötzlich kommt etwas geräuschvoll näher und trifft schließlich den Satelliten. Dieser beginnt daraufhin im Sturzflug gen Erde zu straucheln. Ein spektakulärer Ritt mit dem Satelliten ist die Folge, an dem wir bis zum Zeitpunkt des Aufpralls teilnehmen, und der von einem harten Schnitt in Ales Zimmer gefolgt wird. Dieser wird in seinem Bett von einem Raben auf der Fensterbank geweckt, nur um den Botschafter des Unglücks daraufhin mit seinem Schuh zu vertreiben. Ale lebt mit seiner Mutter Rosa (Mariana Cordero) zusammen und verdingt sich als Handwerker mit Höhenangst. Nachdem die Nachricht vom bevorstehenden Untergang der Welt sich verbreitet hat, bricht das Chaos aus. Die Menschen fliehen aus der Stadt und Ale scheint sich mit der Situation abzufinden und Bier zu trinken. Doch als ob das alles nicht genug ist, kriegt seine Mutter Panik. Denn die Familie hat eine bewegte Vergangenheit (obwohl sich Ale daran nicht mehr erinnern kann, weil er noch ein kleines Kind war, als sein älterer Bruder Tomãs den Kindermörder Soro, der die gesamte Gegend in Unruhe versetzte, zur Strecke brachte und das letzte der Opfer noch gerettet werden konnte). Nun, da das Chaos regiert bekommt die Mutter es mit der Angst zu tun. Denn die Gefängniswärter verloren angesichts des bevorstehenden Weltuntergangs die Lust auf ihren Job, und nun könnte Soro auf Rache sinnen. Die Mutter will gegen den anfänglichen Willen ihres Sohnes zu Tomãs’ abgelegenem Haus fahren um ihn, seine Frau und die vier Kinder zu beschützen. Natürlich kommt alles noch viel schlimmer, denn Tomãs und seine Frau sind auf einer Reise und kommen erst ein paar Tagen nach dem Weltuntergang wieder. Die Kinder haben derweil nichts mitbekommen von der drohenden Katastrophe und Oma möchte, dass sie ihre letzten Tage unbeschwert genießen. Bald liegt die Oma tot im Wasser und Ale muss not gedrungen die Verantwortung für die kleinen Racker übernehmen. Als ob er das alles nicht schon schwierig genug wäre, taucht Soro, anfangs noch mit dem Versuch einer Tarnung, auf. Es kommt zum wirklich mal finalen Showdown.
Obwohl der Film mit ein paar netten visuellen Spielereien (wie zum Beispiel die Anfangssequenz) aufwartet, bleibt doch sein Hauptproblem, dass 3 Días vorhersehbar ist und zu konstruiert wirkt. Das Auftauchen von Soro und das damit verbundene Abdriften des Films in den Thriller bewirkt es sogar, dass man die unmittelbar bevorstehende Katastrophe zeitweilig vergisst. Die Handlungsorte sind passend zum Film alte runtergekommene Häuser, einen Steinbruch oder eine alte Fabrikruine, was die apokalyptische Atmosphäre unterstreichen soll, aber auf der anderen Seite auch manchmal abgedroschen wirkt. Die besten Momente des Films sind die, wenn Ale zu dem jüngsten der Kinder seines Bruders langsam eine Beziehung aufbaut. Besonders die Szene, als der kleine Junge ihn bittet, ihm etwas zum Einschlafen vorzulesen. Daraufhin versteckt Ale in der Buchhülle des Kinderbuchs ein Tittenheftchen und versucht sich beim Beschauen der Bilder eine kleine Geschichte auszudenken. Der Kleine merkt sofort, dass die Geschichte nicht so ganz die ihm bekannte ist und sagt es ihm auch... und dabei der rührendste und witzigste Moment des Films. So bleibt festzuhalten, dass der Film streckenweise schon ganz gelungen ist, aber zu viele an sich schon schwierige Situationen (die durchaus schon für sich interessant genug wären) versucht werden unterzubringen. Der Endzeit-Thriller ist ein durchaus respektables Debüt von Gutiérrez.


Teat Beat of Sex:
Episodes 8, 9, 10, 11
(Signe Baumane,
Berlinale Shorts [IV])

Schweiz / USA 2007, Buch, Zeichnungen, Animation, Sprecherin: Signe Baumane, Musik: Andris Barons, 7 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

In dem schrillen Animationsfilm Teat Beat of Sex: Episodes 8, 9, 10, 11 von Signe Baumane lässt sie uns teilhaben an den ersten verwirrenden sexuellen Erfahrungen eines Mädchens. Bereits das Intro jeder Episode in dem das Mädchen seine Brüste, die im kurvigen Flug immer größer werden, auf einen Tisch knallt und uns dann die zwei großen Brustwarzen anblinzeln, gibt Aufschluss darüber wie es in diesem 7 minütigen Animations-Chili(?) / -Feuerwerk zugehen wird. Die Bilder kommen zackig hintereinander weg, und im Kontrast zum schnellen Schnitt und den grellen Farben steht der Off-Kommentar, der etwas gelangweilt, aber gleichzeitig auch aufgeregt, in einer merkwürdigen sehr witzigen Art, eingesprochen wird. Die Episoden beginnen mit der Beschreibung und Bebilderung des ersten Zungenkusses, bei dem sich dem Mädchen der Vergleich mit einer Echse aufdrängt, die sich in ihrem Mund hin und her windet. Dieser Echsenvergleich wird uns dann auch noch im restlichen Film begleiten. So passt der Kontrast der einfach, ja fast kindlich gezeichneten Figuren hervorragend zu den kleinen amphibischen Sauereien von denen berichtet wird.


Inventur - Metzstr. 11
(Zelimir Zilnik, Berlinale Shorts [IV])

Deutschland 1975, Buch: Zelimir Zilnik, Kamera: Andrej Popovic, 9 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

In einer Einstellung und neun Minuten hat sich in Zelimir Zilniks Inventur - Metzstr. 11 ein ganzes Haus vorgestellt und dazu hat auch noch jeder Bewohner, der zu Wort gekommen ist, etwas Persönliches erzählt. Darin besteht auch das Besondere an diesem bereits 1975 gedrehten Film, obwohl er sich aus einer Mischung aus inszeniertem und aber authentischem Dokumaterial zusammensetzt. Die Bewohner des Hauses setzen sich zum überwiegenden Großteil aus seinerzeit “Gastarbeiter” genannten Personen zusammen, die alle - ob jung oder alt - kurz erzählen, wie lange sie bereits in Deutschland sind, ob sie Arbeit haben oder wie sie sich hier in Deutschland fühlen. Natürlich sind die Statements unterschiedlich und so ist es ein aufschlussreicher Überblick über Einzelschicksale, die auch aus heutiger Sicht noch - oder eben wieder - interessant sind.


Tommy
(Tora Mårtens,
Berlinale Shorts [IV])

Schweden 2007, Buch, Co-Kamera, Co-Schnitt: Tora Mårtens, Co-Kamera: Erik Vallsten, Co-Schnitt: Joakim Tessert Ekström, Musik: Andreas Unge, 18 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

In dem Dokumentarfilm Tommy von Tora Mårtens erzählt der ehemalige, HIV-positive Balletttänzer von seinem Leben in Havanna. Sein ganzer Stolz ist sein Haus und er freut sich über jeden Touristen oder anderen Besucher, der seine etwas verkitscht anmutende Einrichtung des Hauses fotografieren oder einfach nur anschauen will. Er erzählt auch von seiner Einsamkeit und seiner Erkrankung sowie Hoffnungen. Ein Porträt über einen schrillen, aber liebenswerten Menschen, der Teller sammelt und sich an die Wand hängt - viele, viele Teller ...


Shooting Geronimo
(Kent Monkmann, Berlinale Shorts [IV])

Kanada 2007, Buch: Kent Monkmann, Kamera: Gisèle Gordon, Schnitt: Ross Wilson, Ian Strang, Choreographie: Michael Greyeyes, Musik: Dustin Peters, mit Miss Chief Eagle Testickle (Einsamer Reiter), Yves Harrington (Frederick Curtis), Anthony Collins (Blake Tenderfoot), Quetzal Guerrero (Johnny Silvercloud), Miss Chiefs Double (Alejandro Merat), 12 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

Der Schwarzweiß-Stummfilm Shooting Geronimo von Kent Monkmann nimmt uns mit zu den Dreharbeiten eines einfachen Indianerfilms in der Pionierzeit der Filmemacherei. Als sich aber der Geist / Gott der indianischen Drag-Queens daran macht, ohne böse Absichten ein wenig an den Dreharbeiten teilzunehmen, entwickelt sich der Dreh zunehmend chaotischer, bis es zur Katastrophe kommt. Klappe zu, weißer Mann tot.


Târziu
(Paul Negoescu,
Berlinale Shorts [IV])

Int. Titel: Late, Dt. Titel: Zu spät, Rumänien 2008, Buch: Paul Negoescu, Kamera: Raluca Vasiliu, Andrei Butica, Schnitt: Valeriu Caliman, mit Andrei Mateiu (Catalin), Constantin Dita (Costi), Tudor Aaron Istodur (Vivi), Simona Ghita (Mädchen im Büro), Mihaela Sirbu (Ileana), Viorica Florea (Leibwächterin), (Monica Mihaescu) Frau Bold, Diana Cavallioti (Sinzi), 22 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

Am Anfang von Paul Negoescus Târziu beschwert sich ein junger Journalist über die Nerverei seiner alten Schulkameraden. Auf der Suche nach Material für ein Story geht er in seine alte Schule, trifft eine alte Lehrerin und alte Klassenkameraden und merkt zum Ende hin, dass ihm etwas fehlt.


Kizi Mizi
(Mariusz Wilczynski,
Berlinale Shorts [IV])

Polen 2007, Buch, Kamera, Animation: Mariusz Wilczynski, Schnitt: Mariusz Wilczynski, Krzysztof Sczesniak, Musik: Franek Kozlowski, 21 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

Etwas zu ausgedehnter Animationsfilm von Mariusz Wilczynski, der sich um die dramatischen Wendungen der Liebe zwischen einer Katze und einer Maus dreht. Zum Schluss von Kizi Mizi geht die Liebe durch den Magen.


Im nächsten Cinemania:
Rezensionen zu musikalischen Berlinale-Filme wie Sita sings the Blues, CSNY - Déjàvu, Heavy Metal in Baghdad, Bananaz, Shine a Light, Patti Smith - Dream of Life ...