Certain Women
(Kelly Reichardt)
USA 2016, Buch, Schnitt: Kelly Reichardt, Lit. Vorlage: Maile Meloy, Kamera: Christopher Blauvelt, Musik: Jeff Grace, mit Lily Gladstone (Jamie / The Rancher), Michelle Williams (Gina), Kristen Stewart (Elizabeth Travis), Laura Dern (Laura), James LeGros (Ryan), Jared Harris (Will Fuller), Rene Auberjonois (Albert), Joshua T. Fonokalafi (Amituana / »Big Man«), Sara Rodier (Guthrie), John Getz (Sheriff Rowles), 105 Min., Kinostart: 2. März 2017
Es fällt mir schwer, für Kelly Reichardts Vorgänger, Night Moves, einen Platz in der Filmographie der Regisseurin zu finden. Einfach, weil er mich so enttäuschte, sie aber mit Certain Women wieder zu ihrer normalen (und somit außergewöhnlichen) Qualität zurückgefunden hat.
Bei Certain Women ist jetzt wieder Michelle Williams dabei (die mit ihren Hauptrollen in Wendy and Lucy sowie in Meek's Cutoff die Karriere der Regisseurin stark prägte), andererseits hat man aber (vermutlich wegen des Marktwertes) auch Kristen Stewart engagiert, die generell zum Liebling einiger wichtiger Regisseure avanciert, während ich nach wie vor nicht richtig warm mit ihr werde.
Irgendwie unterschwellig habe ich aber das Gefühl, dass diese beiden »Indie-Darlings« hier als zwei der vier »certain women« keine so große Rolle spielen wie Laura Dern und Lily Gladstone, die anderen zwei Hauptdarstellerinnen (deren Rollennamen übrigens beide - glaube ich - nicht im Film genannt werden, aber es irgendwie doch ins Presseheft bzw. auf imdb geschafft haben).
Reichardt legte für den Film drei Kurzgeschichten von Maile Meloy zusammen, die teilweise noch nicht einmal aus dem selben Buch stammen. Sie fasst zwar nicht wie Pedro Almódovar bei seiner Alice-Munro-Verfilmung Julieta unterschiedliche Figuren einfach zusammen, gibt sich aber doch Mühe, über einen gemeinsamen Spielort (Livingston, Montana) und winzige Bezugspunkte die drei Episoden zusammenzuführen - was nicht zuletzt durch den clever gewählten Filmtitel tatsächlich funktioniert.
Nach einer bis zum letzten ausgereizten grobkörnigen Einstellung eines nahenden Zuges inmitten einer Americana-Berglandschaft beginnt der Film ein wenig wie Psycho, mit einem mittäglichen Schäferstündchen zwischen Laura (Laura Dern) und einem auch schon etwas betagt wirkenden Herrn (James LeGros). Das Zimmer wirkt zwar etwas gewollt schmuddelig, aber die Szene führt dazu, dass die Laura-Dern-Figur nicht nur auf ihre Berufsrolle als Rechtsanwältin reduziert wird, sondern man sie als Person mit Ecken und Kanten wahrnimmt, was die weiteren Szenen mit ihrem Klienten Will Fuller (Jared Harris) in ein ganz anderes Licht taucht.
Fuller steckt in einem Rechtsstreit mit seiner Frau und hat bereits einen längeren Zeitraum (acht Monate) damit verbracht, die gutgemeinten Ratschläge seiner Anwältin schlichtweg zu ignorieren, bis er sich von einem zweiten Anwalt diese Einsichten bestätigen lässt (simples Fazit: Frauen werden nicht ernstgenommen). Nun steigt er mit einer immensen Wut darüber, dass er ein »Opfer des Systems« wurde (Reichardt erklärte mal in einem Interview, dass das zum Frausein quasi dazugehört, sie aber dennoch mitfühlen kann, wenn ein Mann in seinen Fünfzigern erst spät an dieser Tatsache zerbricht), in das Auto der Anwältin (er behandelt sie mitunter wie eine Dienstleisterin oder Chauffeurin, was einem auch einen gewissen Einblick in seine Figur gibt) - und bricht etwas später mit einem Heulkrampf zusammen. Die schwierige Situation der mitfühlenden, aber immens frustrierten Anwältin wird nicht besser, weil Fuller schlichtweg überfordert ist von der Situation. »The only thing left is to get a machine gun and kill everyone!«
Zur Aushilfspsychiaterin wird die Anwältin spätestens dann, wenn Fuller eine Geisel nimmt und speziell nach ihr fragt, um eine bestimmte Akte zu finden. Aus einer immens dramatischen Situation formt Kelly Reichardt ein Figurenportrait, wobei sie sich nebenbei noch die Zeit nimmt, auf die ethnischen Besonderheiten des als Geisel genommenen Wachmanns einzugehen. Das ist genau die unerwartete Erzählweise, die ich in Night Moves vermisst habe.
Etwas überraschend setzt dann die zweite Episode ein, die von einer kleinen Familie handelt, bei der Michelle Williams als Gina zwar nicht durchgehend positiv gezeichnet ist, aber man die ganze Konstellation »gefärbt« wahrnimmt, weil Ryan, der Mann an ihrer Seite, der so besonnen wirkt, exakt jener Kerl ist, den wir vom Sex mit der Anwältin schon kennen. Selbst wenn er zur rebellischen Tochter Guthrie sagt »Let's you and I make some effort to be more nice to your mom. Let's cut her some slack«, hinterfragt man seine Motive. Vermutlich will er nur die Wogen glätten, während er nebenbei noch ein Verhältnis am Köcheln hält, was ja immerhin einen gewissen Energieaufwand von ihm fordert.
Gina ist es zwar nicht recht, dass sie in der Erziehung immer »die Böse« sein muss, andererseits füllt sie diese Rolle aber auch mit Inbrunst aus. Auch dies ein Aspekt der Rolle der Frau, den man so ambivalent selten dargestellt sieht.
Die eigentliche Handlung der zweiten Episode dreht sich um den schon etwas senilen Albert (Rene Auberjonois 40 Jahre nach M*A*S*H und 20 Jahre nach seiner Zeit als »Odo« in Star Trek: Deep Space Nine) und eine Transaktion, bei der abermals die Paarkonstellation zwischen Gina und Ryan ausgelotet wird.
Besonders hübsch hierbei ist die Funktion eines Panoramafensters im Zusammenhang mit dem evozierten frontier spirit. In solchen Momenten wünscht man sich eine gemeinsame Retrospektive von Kelly Reichardt und John Ford, zwei immens unterschiedliche Regietalente, die aber das gemeinsame Thema Amerika deutlichen zusammenbringt, als man annehmen würde.
Die dritte und letzte Episode schließlich hat sogar Western-Elemente und wirkte auf mich wie eine weibliche Variation von Brokeback Mountain. Nur, dass es hier nicht um das machohafte sich zum-Märtyrer-aufspielen geht, sondern abermals um ein stilles Leiden, dass aber nicht zur bloßen Opferrolle verkommt.
Jamie (mitreißend: Lily Gladstone) ist eine junge Pferdepflegerin mit indigenen Wurzeln. Mehrfach spielt der Film ihre stumpfsinnig wirkende Tagesroutine durch, bei der auch die öffnung einer Stalltür wie direkt aus The Searchers nicht fehlen darf. Wie bei den anderen Frauen spürt man aber das Herzblut bei ihrer Tätigkeit. Abends sitzt Jamie unangemeldet bei einer Abendschule, deren junge Dozentin (Kristin Stewart) vom Lernstoff überfordert ist und die für mehrere Wochen jetzt jeden Dienstag und Donnerstag einen vierstündige An- und Abreise per Auto auf sich nehmen muss, weil sie trotz abgeschlossenen Jurastudium noch nicht in der Lage ist, sich ihre Jobs auszusuchen. (Rechtsfragen sind im Film sehr wichtig, aber meistens geht es nur darum, wie man jemanden damit über Kreuz legt - oder man lernt, dies zu verhindern.)
Jamie und Beth, zwei eigentlich komplett unterschiedliche Frauen, beginnen eine seltsame Freundschaft, bei der Jamie offenbar weitaus mehr Sehnsucht investiert, aber - wie schon gesagt - die vermeintliche Opferrolle wird im Film meistens als ein positiver Aspekt wahrgenommen, es geht ums empowerment dieser Certain Women - und dem schaut man ebenso gerne zu wie der Rückkehr Kelly Reichardts, die wie ihre Figuren etwas riskiert für ihren Traum. Und zumindest das traf auch auf Night Moves zu - nur, dass Kelly Reichardt vielleicht eher für ein konstruktives als ein destruktives Kino geschaffen ist.
Aber wirklich nahe gekommen bin ich dem Mysterium des vermurksten Films Night Moves (der übrigens von einem Großteil der deutschen Kritik abgefeiert wurde, aber ich hatte dabei den Eindruck, dass die plakative Begeisterung fast nie von Herzen kam) aber immer noch nicht. Egal, ab und zu ein Fehltritt darf jeder machen, wenn man sich danach wieder aufrappelt. Und das ist mit Certain Women definitiv gelungen.