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Die letzte Fuhre (Berlinale, Teil 6)
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Casting JonBenet
(Kitty Green, Panorama)
USA 2017, Kamera: Michael Latham, Schnitt: Davis Coombe, Musik: Nathan Larson, Kostüme: Catharina Schürenberg, Production Design: Leah Popple, Choreographie: Alethea Jones, mit Kit Thompson*, Amy Dowd*, Teresa Cocas*, Stephanie Federico, Tamara Hutchens, Deb Hultgren*, Ronda Belser*, Dorinda Dercar, Carolyn Strauss, Aspen Rader, Marian Rothschild*, Suzanne Yazzie*, Laura Lee*, Kaye Taavialma*, Jacqui Pugh, Kristina Jones (sprechen vor für die Rolle der »Patsy Ramsay«), Jerry Cortese°, J. Michael Sterling°, Hack Hyland*, Gary Foster*, Ed Hickok*, Gary Neuger, Chuck Fiorella*, Robert Toomey, Mark Taylor, Jay Benedict Brown, Chris Mueser*, Paul Crumby* (sprechen vor für die Rolle des »John Ramsay«), Ryan Haskell, Taylor Hollenback, Jase Wiedeman, Tre Penna, Riley Hastings, Sean Legg, Luca Rodriguez*, Joe Brienza, Gavin White, Noah Isakson, Robby Hanbery (sprechen vor für die Rolle des »Burke Ramsay«), Hannah Cagwin*, Aeona Cruz, Liv Bagley, Shylee Sagle, Danika Toolson, Nicole Hamilton*, Emma Winslow, Elle Walker, Kaydence Lucero (sprechen vor für die Rolle der »JonBenet Ramsay«), William Tidwell*, Blake Curton, RJ Clay, John Bronson, Dale Strom°, Carlos Martinez, Michael Kennedy, Timothy Ackerman, Casey Lloyd, Mark Canjar, Dan Davidson (sprechen vor für die Rolle des »Police Chief«), Jim Beck, John Chilson, Johnny Claus, Randy Schriever*, James Lewis (sprechen vor für die Rolle des »Santa Claus«), Dixon White*, Joe Bocian, Steven Scott (sprechen vor für die Rolle des »John Mark Karr«) [Casting-Teilnehmer, die ihre Rolle auch bei den Spielszenen spielten, wurden durch ein * gekennzeichnet, die mit ° bekamen Nebenrollen als Polizisten (bzw. Dale Strom als »Reporter«). Alle bisher genannten spielen außerdem auch »sich selbst«], Rand Moritzki (Coroner), Lynne Jordan (Psychologist), Gary Woods (Funeral Director), Tom Farnsworth (1st AD / Himself), 81 Min.
Die Australierin Kitty Green hatte vor zwei Jahren schon einen Kurzfilm mit dem Titel The Face of Ukraine: Casting Oksana Baiul auf der Berlinale, in dem sie über ein vermeintliches Casting viel über die Sorgen und Verluste der jungen Nachwuchsdarstellerinnen herausarbeitete. Weil mich dieser Film beeindruckte und der Name der Regisseurin so leicht zu merken ist (die Ähnlichkeit des Filmtitels wird auch geholfen haben), sichtete ich auch ihr Nachfolgewerk, ein »Netflix Original Documentary«, in dem sie ihre frühere Arbeitsweise noch ausweitete.
Als junges Mädchen in Australien faszinierte sie bereits der seltsame Todesfall der JonBenet Ramsay in Boulder, Colorado (übrigens der Ort, der Stephen King einst zu The Shining inspirierte), der im Jahr 1996 für viel Medienwirbel sorgte, wobei Kitty damals keine genaue Vorstellung hatte, was ein »Beauty Pageant« ist (in Australien hat man andere Sorgen), und sie die sechsjährige JonBenet für einen veritablen Star in ihrer Heimat hielt. Später las Kitty beispielsweise das Buch, das die Eltern über den Fall schrieben und spielte immer wieder mit dem Gedanken, aus diesem Stoff einen Film zu machen.
Im Presseheft fasst sie das sehr schön zusammen:
There were theories about the brother and pedophilia within the pageant industry and these rumors of Boulder porn rings. The whole pageant part of it, too, was so camp, so strange. I think the only way David Lynch could have made Twin Peaks weirder would have been if Laura Palmer had been 6, was killed on Christmas night, and a neighborhood Santa was a suspect.
Soweit die Hintergrundgeschichte. Aber viel spannender ist, was Green daraus macht. Denn insbesondere die erwachsenen Castingmitglieder, die allesamt aus Boulder stammen, haben ihre eigenen Erinnerungen und Theorien zum Mord von damals - und teilen diese auch gern. Schon die selbstgewählten »Kostüme« sagen viel aus. So tragen etwa alle potentiellen Darstellerinnen der Mutter ein rotes Top. Bis auf eine, die auch gleich ihre schauspielerischen Hintergründe für ihre Entscheidung mit uns teilt: »She wore this on Larry King«.
© Netflix / Michael Latham
Und natürlich gehört es zur Identifikation, zur Rolle, dass man eher die anderen Beteiligtenzu den Verdächtigen zählt, nicht die eigene Figur. Und so kristallisiert sich aus unzähligen Vorsprechen (siehe Stabangabe) nicht einmal ansatzweise ein Lösungsansatz heraus, sondern die vielen schillernden Facetten bekommen quasi so viele Visualisierungen, wie man Schauspieler hat.
Nebenbei gibt es aber - zur Verdeutlichung des Tathergangs - auch immer kurze Spielsequenzen, bei denen man auch teilweise schon sieht, wer sich später durchsetzen konnte. Oder welcher Darsteller, der für die Rolle des Vaters vorsprach, später nur die Nebenrolle eines Polizisten erhielt.
Das im Filmtitel ins Zentrum gerückte Opfer spielt in jeder Hinsicht die kleinste Rolle (ein klarer Unterschied zu Laura Palmer), aber verdächtigt wurde damals quasi jeder, angefangen mit den Polizisten, die einige grobe Fehler machten. Schließlich kommt man in der Chronologie die Tatverdächtigen auch auf den nur wenige Jahre älteren Bruder von JonBenet zu sprechen, der vielleicht auch schuldig sein könnte am blunt trauma am Hinterkopf der Verschiedenen. Im Casting geht man dieser Theorie nach, indem man einige der Darsteller von »Burke Ramsay« mit einer Taschenlampe auf eine Wassermelone einschlagen lässt. Nicht nur eine überzeugende garstige visuelle Umsetzung des möglichen Mords, sondern - mal kurz losgelöst vom traurigen Todesfall - immens erheiternd, wenn der eine Burke lange erfolglos auf die Melone einschlägt, während ein anderer sich dabei selbst auf den Finger haut.
Wie wenig man der Auflösung durch diese Vorgehen näherkommt, wird auch Teil der Spielhandlung, bei der schließlich ein halbes Dutzend Darsteller von Vater und Mutter auf eine Theaterkulisse des Hauses verteilt werden und gleichzeitig unterschiedliche, allesamt denkbare Szenen durchspielen, während eine Kamera langsam auf Gleisen die gesamte Komplexität des Falles einfängt - und eine weitere Kamera diesen Vorgang inklusive der Filmcrew, wodurch es noch eine zusätzliche Distanzierung gibt.
Den unzähligen tollen Details kann man in einer Kritik nicht wirklich gerecht werden, und man mag spekulieren, was alles noch im Material gesteckt hätte, es aber nicht durch den Schnitt schaffte. Aus meiner Sicht ist hierbei manchmal sogar interessanter, ob JonBenet jetzt von der Mutter zu den Schönheitskonkurrenzen (und womöglich anderen Dingen) gedrängt wurde, ob sie Bettnässerin war usw., sondern die kleinen Anekdoten, wenn etwa zwei der Darsteller feststellen, dass sie ja Freunde auf Facebook sind. Was irgendwie auch wieder ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Verschwörungstheorien gar nicht so weit hergeholt sein müssen, wie sie zunächst klingen. »It's always people you know.«
Durch die Casting-Situation bekommt man als Zuschauer immer angeboten, auf welcher Ebene man das Ganze interessanter findet. Geht es einem um die menschlichen Abgründe, wenn der Leichnam gefunden wird? Oder um die darstellerischen Herangehensweisen. Die Parade der Weihnachtsmänner, die den Job größtenteils selbst ausüben und interessante Einsichten haben (»Wir müssen weiße Handschuhe tragen, damit man immer sieht, wo die Hände sind.«) gehören zu den humoristischen Höhepunkten des Films, und rein darstellerisch überragend ist Dixon White, der einen verdächtigen Serientäter spielt, und sich zur Vorbereitung pageant videos anschaute, um dann überzeugend in die Rolle zu schlüpfen: »I do not rape my little lovers.«
Allesamt oft kranke Scheiße, die da abläuft, aber diese Art von Film kommt den unzähligen Theorien näher als jeder denkbare Spielfilm. Und, irgendwie auch interessant, durch die Castingdarsteller bekommt man auch hier und da Einblicke, dass der undenkbar wirkende Vorfall gar nicht so weit weg ist vom alltäglich möglichen. Eine Patsy-Darstellerin erzählt etwa (ist ja wichtig, um zu demonstrieren, wie sehr sie sich in die Rolle einfinden kann), dass sie beim Töpfchentraining ihres kleinen Jungen, der sich irgendwann ein Hobby draus machte, überall hinzupinkeln, kurz davor war durchzudrehen (»going ballistic«). Ein hübscher Glücksfall, dass die Regisseurin für ihr Projekt ein nicht geringes Budget aufbringen konnte und der Film auf Netflix nun vermutlich auch ein Publikum erreichen wird, von dem viele Dokumentarfilmer träumen.
Eines der echten Filmerlebnisse der diesjährigen Berlinale.
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Karera ga Honki de Amu toki wa / Close-Knit
(Naoko Ogigami, Panorama)
Intern. Titel: Close-Knit, Japan 2017, Buch: Naoko Ogigami, Kamera: Kozo Shibasaki, Schnitt: Shinichi Fujima, Musik: Naoko Eto, mit Toma Ikuta (Rinko), Rinka Kakihara (Tomo), Kenta Kiritani (Onkel), Mimura, Eiko Koike, Mugi Kadowaki, Shuji Kashiwagara, Kaito Komie, Lily, Misako Tanaka, 127 Min.
Die 1972 geborene japanische Regisseurin Naoko Ogigami ist so ein typischer Berlinale-Liebling. Keiner ihrer Filme hat bisher einen deutschen Kinostart bekommen, aber allein durch ihre Berlinale-Auftritte baut sie sich ein langsam, aber stetig anwachsende Fanbase in Deutschland auf. Ihr erster Berlinale-Film Yoshino's Barber Shop lief 2003 noch in der brandneu ins Leben gerufenen Sektion Generation 14plus, seit Megane / Glasses 2007 ist ihr »home away from home« das Panorama, wo auch 2012 Rentaneko / Rent-a-Cat lief, bei der ich dann in den Kreis ihrer Jünger einstieg. Und ihr neuester Film Close-Knit hat zwar auf den ersten Blick ein provokantes Thema (es geht darum, ob die transsexuelle Freundin des Onkels den Platz der Mutter besser ausfüllen kann als die leibliche Mutter der elfjährigen Tomo), aber in meinem bescheiden eruierten Kritikerspiegel unter befreundeten Kollegen war Close-Knit neben Casting einer der am besten bewerteten Filme, die nicht nur von zwei verirrten wohlwollenden Vielschauern gesichtet wurden, sondern gleich von einer Handvoll BewerterInnen, die sich alle auf eine Wertung zwischen »empfehlenswert« und »vorzüglich« einigen konnten. Selbst bei den Wettbewerbs-Favoriten von Sally Potter, Hong Sang-soo, Agnieszka Holland, Sabu und Aki Kaurismäki war immer irgendjemand dabei, der sich gegen den vorherrschenden Lobgesang querstellte. Und auch beim Panorama-Publikumspreis landete Close-Knit auf dem leider wenig beachteten zweiten Platz (wofür auch fast alle Kartenausfüller ihre Begeisterung anzeigen müssen).
Der Einstieg in die Welt der elfjährigen Tomo ist vielsagend: Die erste Einstellung des Films zeigt zum Trocknen vor einer Gardine aufgehängte Kleidungsstücke (mit BHs und Slips), das Mädchen packt für den nächsten Tag seine Schulsachen beisammen und isst ein Fertig-Onigiri aus dem Supermarkt - ein Blick in den Mülleimer offenbart, dass dies seit Wochen ihre Hauptnahrungsquelle zu sein scheint.
Tomos Mutter kommt erst spät in der Nacht, ist offensichtlich alkoholisiert, macht einigen Lärm und erbricht sich dann.
Beim Schulalltag sieht man gewisse homophobe Tendenzen der japanischen Gesellschaft (für's internationale Publikum durch das Wort »Homo« gekennzeichnet), und die Geschichte fährt damit fort, dass die Mutter verschwunden ist und nur eine kurze Notiz und etwas Geld hinterlassen hat.
Tomo wird von ihrem Onkel Kai (sein »not again« zeugt davon, dass die Mutter sich schon öfters "Auszeiten" genommen hat) aufgenommen, der sie vorsichtig darauf hinweist, dass er nicht mehr alleine lebt: »She's complicated, maybe I should tell you first...«
Und dann kommt das Treffen mit der Transgenderfrau Rinko (Toma Ikuta), die zwischenzeitig Tomos Rekorde auf der Wii gebrochen hat. Doch das Überraschendste für die Kleine ist, dass der Onkel jetzt eine richtige Wohnung hat (»more than just books and a TV«). Und so erlebt man die vielen Hausfrauen-Klischees entsprechende neue »Tante« gleich als Gegenentwurf zur eigenen Mutter, wo die Spüle verwahrlost ist. Wirklich leuchtende Augen bekommt Tomo bei üppigen selbstgekochten Mahl, und als sie Rinko in den Ausschnitt linst, geht die ganz natürlich damit um. »The work on my body's done, but I'm still a man on paper - wanna feel them?«
Ein liebenswertes Missverständnis fängt den typischen Charme der Regisseurin (neben der bewährt fröhlich-verhaltenen Musik) ein. Weil Rinko als Pausenbrot eine Bento-Box mit liebevollen aus Lebensmitteln gebauten »Tierchen« (Reis-Kätzchen und eine Wurst, die zu einem Oktopus aufgeschnitten wurde) für Tomo kredenzte, kann diese sich erst nicht durchringen, das Kunstwerk zu zerstören, doch schließlich für die nicht uneingeschränkte Haltbarkeit dazu, dass hier Liebe zwar durch den Magen geht, aber auch zu einer Magenverstimmung führen kann - wobei dieses ansatzweise »Erziehungsproblem« erst einmal von Rinko erkannt werden muss.
Eine wichtige Rolle im Film spielt das Stricken, wobei ausgerechnet Geschlechtsorgane in verniedlichter Wollversion viel dazu beitragen, die Geschichte zu erzählen, die mit der Konfliktsituation beim Wiederkehren der Mutter (und einem Rückblick auf die Kindheit des Onkels Kai) zunächst sehr dramatisch auszuklingen scheint - doch Naoko Ogigami hat ein untrügliches Gespür, auch diese Geschichte so zum Ende zu bringen, dass alles einerseits warmherzig und bezaubernd bleibt, man andererseits aber auch nicht die Probleme verharmlost. Das können die Japaner glaube ich besser als sonst wer (einige Ghibli-Filme fallen mir dazu auf Anhieb ein).
Ich muss mir mal beizeiten auch die anderen Filme der Regisseurin irgendwo besorgen. So viel Liebe wie bei ihr findet man nicht in einem Dutzend zufällig ausgewählter Berlinale-Filme. Ich habe durchaus beim Abfassen des Textes gemerkt, dass ich das Wort zu oft benutzte, und mithilfe des Synonymlexikons bin ich dann auch mal auf »warmherzig« oder »charmant« ausgewichen. Kino kann auch ohne Erotik zärtlich sein!
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Final Portrait
(Stanley Tucci, Wettbewerb außer Konkurrenz)
Buch: Stanley Tucci, Vorlage: James Lord, Kamera: Danny Cohen, Schnitt: Camilla Toniolo, Musik. Evan Lurie, Production Design: James Merrifield, mit Geoffrey Rush (Alberto Giacometti), Armie Hammer (James Lord), Tony Shalhoub (Diego Giacometti), Sylvie Testud (Annette Arm), Clémence Poésy (Caroline), 90 Min., Kinostart: 3. August 2017
1964. Schriftsteller und Kunstliebhaber James Lord (Armie Hammer) will einen Kurztrip nach Paris dazu benutzen, sich vom berühmten Bildhauer und Maler Alberto Giacometti porträtieren zu lassen. Der Künstler versichert ihm, das dauere nur ein paar Tage...
Im Gespräch mit Kritikerkollegen habe ich oft gehört, der Film sei ihnen zu langweilig gewesen. Oder zumindest zu langsam. Um diese Einschätzung zu entkräftigen, muss ich leider ausnahmsweise einen frühen Inhalts-Spoiler einbauen: Das Porträt-Sitzen bzw. der kreative Prozess dauern deutlich länger als »ein paar Tage«, und das ist eigentlich der Kernpunkt des Films. Ich wüsste nicht, wie man das anders umsetzen sollte als dadurch, dass man die verstreichende Zeit auch erfahrbar macht. Zum Teil durch Einblendung von Infos wie »Day X« (teilweise auch mal in einer verkürzenden Montage, wo mehrere ähnlich verlaufende Tage gemeinsam abgearbeitet werden), aber letztlich vor allem dadurch, dass es sich halt ein wenig zieht, was aber einfach zu dem Film dazugehört. Der übrigens auch nur 90 Minuten geht.
Ich weiß nicht genau, warum, aber ich hatte kein Problem mit dem Film. Ich würde ihn mir sogar noch mal anschauen, obwohl ich schon sein »Geheimnis« weiß (und ich finde es vertretbar, die Leser zur Vorbereitung und Filmentscheidung diesbezüglich einzuweihen).
Irgendjemand meinte auch, der Film wirke wie ein Theaterstück, was natürlich daran liegt, dass die meisten Szenen sich in Giacomettis Studio abspielen. Aber wie Debütregisseur Stanley Tucci (den ich als Schauspieler sehr verehre) diesen kleinen Raum mit seinen drei klaustrophobischen Wänden und der obligatorischen Glasfront mit einer sehr beweglichen Kamera erkundet, ist alles andere als Theater. Es geht immer wieder um die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Protagonisten, die sich manchmal quasi gegenseitig umkreisen.
© Parisa Taghizadeh / 2017 PROKINO Filmverleih GmbH
Tucci beherrscht noch nicht alle inszenatorischen Mittel, sein Musikeinsatz war mir etwa zu konventionell. Aber das sind Kleinigkeiten. Es ist naheliegend, dass es sich hier um Schauspielerkino handelt, zwischen den Figuren, zu denen auch noch eine Ehefrau, eine (käufliche) Geliebte und der Bruder des Künstlers gehören (während Lord, auf dessen Buch der Film basiert, immer ein wenig der Außenseiter bleibt), entwickeln sich mit der Zeit Beziehungen. Und auch hier muss ich betonen, dass diese Entwicklungen Zeit benötigen - was viele Regisseure aus irgendwelchen Gründen zu vergessen scheinen und lieber etwas behaupten, was man als Zuschauer nicht unbedingt auch glaubt.
Geoffrey Rush, der schon unterschiedlichste Künstler spielte (ich würde hier vor allem an Shine, Shakespeare in Love, The Life and Death of Peter Sellers, aber auch an The King's Speech erinnern), nimmt sich hier teilweise stark zurück. Anfänglich wirkt er fast wie eine Parodie von Tom Waits, aber nach und nach bekommt man Einblicke in Giacomettis Inneres. Sein »Gegenspieler« (es ist tatsächlich fast ein Duell zwischen artist und model) könnte kaum verschiedener sein, was auch durch das Casting des oft »gelackt« auftretenden Armie Hammer unterstrichen wird (er kann aber auch anders, wie mir seine Rolle in Free Fire zeigte).
Tucci nimmt sich Zeit für viele Details wie eine wacklige Sitzangelegenheit oder eine ungewohnte Position. Hier merkt man dem Film schon früh an, dass es auch darum geht, dass die beiden Kontrahenten sich erst kennenlernen müssen - aber Giacometti von vornherein seine Vorteile nutzt und die Erzählerfigur quasi wie eine Spinne ins Netz lockt. »I will see if you will thank me tomorrow, after I'll torture you some more.«
Während Giacometti immer wieder unzufrieden über Details seines Porträts ist (sein »Oh, Fuck!« macht Rush quasi zum Slogan des Films) und ganze Partien (bevorzugt das Gesicht) ein ums andere Mal weiß übertüncht, nimmt sich Lord die Zeit, den täglichen Fortschritt mit Fotografien (bevorzugt vor dem &Uuuml;bertünchen) festzuhalten. Was ihm aber auch keine wirklichen Einsichten über den Fortgang des Werkes liefert.
Und nebenbei erleben wir, so nebenbei, wie man es in einem typischen Biopic nie erleben würde, was sonst alles noch im Umfeld des Künstlers passiert. Seine Einstellung zu Geld und dem Kunstgeschäft allgemein, die schwierige Situation mit den beiden Frauen (Clémence Poésy als bestimmendes leichtes Mädchen, Sylvie Testud eher als die leidende Liebende), Selbstmordabsichten oder den Einfluss seines Bruders.
Oscar-Gewinner Geoffrey Rush hin oder her, ich fand Tony Shalhoub (bekannt als neurotischer Fernsehermittler Monk, aber auch aus Galaxy Quest oder einigen Filmen der Coen-Brüder) hier die wahre schauspielerische Offenbarung. Ohne sich jemals in den Vordergrund zu spielen, hat sein »Diego« den Vorteil, dass man ihm den Italiener tatsächlich abnimmt. Die anderen Darsteller geben sich zwar auch viel Mühe, u.a. durch kleine Sprachausflüge die eigentümliche Situation zu spiegeln (wenn ein US-Amerikaner und jemand aus der italienischen Schweiz sich in Paris treffen, muss man hier und da auch merken, dass sie sich zumindest ein Baguette kaufen könnten, auch so ein Punkt, den man in vielen Hollywood-Filmen völlig aus den Augen verliert), aber Shalhoub schafft mit minimalen Details eine absolute Authentizität - wobei es aber auch hilft, dass er die Bodenständigste der Figuren verkörpert.
Gegen Ende wird diese Rolle aber auch wichtiger, weil er derjenige ist, der wie ein Ringrichter zwischen den anderen beiden vermittelt. Er hat das Spiel seines Bruders schon viele Mal beobachtet, und gibt dem zunehmend frustrierten Modell (das aber doch gern dieses Gemälde zuende gebracht sähe), einige wichtige Tips. Ob oder warum das Gemälde unvollendet bleibt (der Filmtitel Final Portrait deutet vieles an, aber verrät letztlich nicht zu viel), oder inwiefern man den ganzen Film natürlich auch als Metapher auffassen kann, will ich mit zahlreichen anderen Entdeckungen noch dem einzelnen Zuschauer überlassen.
Nur so viel noch zum Abschluss: ein Film, der so unterhaltsam ist (auf vielen Ebenen, aber letztlich auch mit viel Humor), kann man meines Erachtens nur dann als »langweilig« empfinden, wenn die Berlinale-Situation viel dazu beiträgt, dass man auch bei wirklich spannenden Filmen das Schnorcheln der Kollegen vernimmt. Ich habe dieses Jahr viel Mut zur Lücke gehabt, und es ist wie beim Essen: wenn man weniger zu sich nimmt, lernt man auch das Genießen.
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Wallay
(Berni Goldblat, Generation Kplus)
Frankreich / Burkina Faso / Katar 2017, Buch: David Bouchet, Kamera: Martin Rit, Schnitt: Laurent Sénéchal, Musik: Vincent Segal, mit Makan Nathan Diarra (Ady), Ibrahim Koma (Jean), Hamadoun Kassogué (Amadou), Mounira Kankolé (Yéli), Joséphine Kaboré (Mam), 84¬†Min., empfohlen ab 12 Jahren
Der 13-jährige Ady (Makan Nathan Diarra) lebt mit seinem Vater in Paris. In den Sommerferien darf er alleine verreisen: nach Wallay, ein kleines Kaff in Burkina Faso. Dort lebt Amadou (Hamadoun Kassogué), der Bruder seines Vaters, mit seiner Familie. Voller Freude auf eine exotische Fernreise steigt Ady in Gaoua, der Provinzhauptstadt, aus dem Flugzeug. Jean (Ibrahim Koma), ein junger Mann, holt ihn ab. Im Taxi geht es durch ein buntes Durcheinander von Autos, Fahrrädern, Fußgängern und Ziegen aufs Land.
Als Ady mit seinen brandneuen Markensneakers bei Onkel, Tante und diversen ihm unbekannten Cousinen eintrifft, stellt er widerstrebend fest, dass seine Erwartungen an einen gechillten Urlaub, in dem er sich einen faulen Lenz machen kann, den Realitätstest nicht bestehen.
Schon die sanitären Anlagen sind gewöhnungsbedürftig: ein mit Sichtschutz abgeteilter Fleck draußen neben der Hütte. Wer auf die Toilette geht, stellt vor dem Eingang einen Holzstock quer, um anzuzeigen, dass gerade »besetzt« ist. Leider wird Adys nachlässig aufgestellter Stock von einem vorbeikommenden Huhn umgestoßen, so dass ihn Onkel Amadou versehentlich überrascht.
© Bathysphere - Les Films du Djabadjah
Was der alte Patriarch da sieht, gefällt ihm gar nicht: Ady ist nicht beschnitten! Und dann behauptet der Onkel auch noch, Ady habe ihm Geld gestohlen! Er verlangt von ihm, den Gegenwert abzuarbeiten, und das zum Stundenlohn eines burkinischen Fischerlehrlings. Ady wehrt sich, wo er kann. Dabei ahnt er noch nicht einmal von Amadous finsterem Vorsatz, den Neffen beschneiden zu lassen.
Widerstrebend, bockig und ein bisschen arrogant, kann Ady nicht verhindern, dass er sich einlebt. Seiner Großmutter (großartig: Joséphine Kaboré) ist er schnell herzlich zugetan, obwohl er sich nicht mit ihr unterhalten kann. Sie spricht kein Französisch, er erst recht kein Dioula. So oft er aneckt - im Telefonladen, bei Onkel, Tante, dem wohlmeinenden Jean -, so oft sucht und findet er eine Lösung, einen neuen Anlauf.
So wird Ady schließlich in einer dramatischen Wendung doch noch zum Mann - wenn auch ganz anders, als der Onkel sich das vorgestellt hatte.
Entlang der stimmig entwickelten Handlung öffnet Wallay dem Zuschauer über Adys Erlebnisse und Begegnungen einen Blick auf verschiedene mögliche Lebensweisen und Lebensumstände im heutigen Burkina Faso. Ein rundum bereicherndes Leinwandabenteuer - sehenswert.
Ende März in Cinemania 165 (American Dreams):
The Boss Baby (Tom McGrath), The Founder (John Lee Hancock), Free Fire (Ben Wheatley), Regeln spielen keine Rolle (Warren Beatty) und A United Kingdom (Amma Asante).