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7. Juni 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Born to be Blue (Robert Budreau)


Born to be Blue
(Robert Budreau)

Kanada / UK 2015, Buch: Robert Budreau, Kamera: Steve Cosens, Schnitt: David Freeman, Musik: Todor Kobakov, David Braid, Steve London, Kostüme: Anne Dixon, Production Design: Aidan Leroux, Art Direction: Joel Richardson, Set Decoration: David LeBrun, mit Ethan Hawke (Chet Baker), Carmen Ejogo (Jane / Elaine), Callum Keith Rennie (Dick Bock), Tony Nappo (Officer Reid), Stephen McHattie (Chesney Baker Sr.), Janet-Laine Green (Vera Baker), Dan Lett (Danny Friedman), Kedar Brown (Miles Davis), Kevin Hanchard (Dizzy Gillespie), Tony Nardi (Nicholas), Barbara Mamabolo (Janelle), 97 Min., Kinostart: 8. Juni 2017

Ähnlich wie bei Romantic Comedies kann man auch bei Biopics einen Großteil der Genrekonventionen bereits in den Stücken Shakespeares ausmachen, diesmal in den Historien- und Königsdramen. Um aus der Biographie einer prominenten Persönlichkeit eine Filmhandlung zu machen, gibt es verschiedene Herangehensweisen, darunter etwa die streng chronologische Wiedergabe der wichtigsten Stationen (»erst traf er Hitler, dann durchschwamm er den Ärmelkanal«), wobei auch hier wichtig ist, eine erkennbare Dramaturgie aus dem Material zu filtern.

Rückblenden werden auch immer gern benutzt, schon, weil so der oft bekannte Hauptdarsteller so nicht erst nach einem Drittel des Films auftaucht, weil zuvor jüngere Kollegen eine schwere Kindheit durchleben müssen oder ähnliches.

Eine andere Methode ist die Verkürzung auf eine gewisse Zeitspanne, die stellvertretend für das gesamte Leben steht. Ebenso angesagt in letzter Zeit wie die Betrachtung des Promis mit den Augen einer weniger bekannten Person, die ansatzweise für den Zuschauer steht. Kombiniert gab es diese beiden Taktiken etwa in My Week with Marilyn oder Me and Orson Welles.

Born to be Blue (Robert Budreau)

© Alamode Film

Worauf ich hinaus will: Born to be Blue hat eine sehr inspirierte und individuelle Lösung gefunden, wie man ein Biopic auch erzählen kann - und die ist wirklich toll! Hier geht es um den Jazzmusiker Chet Baker (Ethan Hawke), den man gleich in einer wichtigen Szene kennenlernt, in der es zum einen um den für Baker wichtigen Respekt geht, den er vor allem von Miles Davis (Kedar Brown) einfordern will. Und um einen Seitensprung und eine Initiation zum Drogenkonsum. Auffällig dabei ist, dass die Szene in Schwarzweiß eingefangen ist - und dann findet man heraus, dass Baker selbst die Hauptrolle in einem Film über sein Leben spielt, bei dem eine Schauspielerin gleich die Rollen mehrerer wichtiger Frauen in seinem Leben übernimmt. Außerhalb des Films (in Farbe) diskutiert Baker mit der Darstellerin Jane (Carmen Ejogo) - und baggert sie auch gleich aggressiv an (ihre kühle Retourkutsche: »I normally don't date zombies«). Doch bevor sich daraus eine weitere wichtige Liebe der doppelten Hauptfigur entwickeln kann, gibt es jetzt eine zentrale Szene des Baker-Lebens, die sich in der Gegenwart des Films abspielt, und die alles weitere stark beeinflusst.

Denn zusammen mit Jane an seiner Seite (übrigens ein fiktives Amalgam, ähnlich wie der echte Baker auch nie den Film-im-Film drehte) muss der etablierte Musiker jetzt sein Handwerk quasi neu erlernen und auch gleich mit seiner Karriere von vorn beginnen.

Born to be Blue (Robert Budreau)

© Alamode Film

Und im weiteren Verlauf der Geschichte gibt es jetzt Schwarzweiß-»Rückblenden« (oder sind es Filmausschnitte des nie vollendeten Films-im-Film?), die das Gegenwartspaar hin und wieder als ein (anderes) Vergangenheitspaar zeigt. Und aus diesem Spiel mit den Metaebenen zieht der Film so einiges, weil es jetzt nicht mehr nur um eine Biographie geht, sondern auch um die filmische Konstruktion. Selbst, wenn man nicht Filmwissenschaft studiert hat, sondern nur ein »normaler« Zuschauer ist. Was dem Betrachter mehrere Ansätze gibt, vom Film fasziniert zu sein.

Nicht zuletzt hilft hierbei aber auch die gute darstellerische Leistung von Hawke und Ejogo. Letztere habe ich in Selma verpasst, aber bei Ethan Hawke kenne ich mich in der Filmographie schon ganz gut aus, und Born to be Blue könnte unabhängig von Filmen wie Boyhood, Great Expectations oder Before the Devil knows you're dead (meine persönlichen Favoriten aus seinem Œuvre - Training Day und die Before-Trilogie haben mich nie wirklich in ihren Bann ziehen können) die Kirsche auf dem Hawke'schen Sahnehäubchen werden.

Born to be Blue (Robert Budreau)

© Alamode Film

Es ist aber gerade die Beziehung mit Jane (unerheblich, wie historisch fundiert sie ist), die den Film trägt, bis hin zum großartigen Schluss des Films, der Jane dann quasi in die selbe Situation stellt wie die betrogene Frau zu Beginn, nur auf einer symbolischen Ebene, wo es um die Entscheidung zwischen Musik, Drogen oder Liebe geht - alle drei auf einmal scheinen nicht machbar.

Weil Hawke zwar den Gesang im Film selbst übernimmt, aber sein »wiedererlerntes« (ja ja, der geschulte Leser vermutet recht, es gibt einen ausgesparten Spoiler!) Spiel mit der Trompete von einem echten Musiker übernommen wurde, funktioniert sein große Teile des Films einnehmendes musikalisches Scheitern umso besser - es geht hier nicht darum, einem Virtuosen zuzuschauen - oder auch nur dem »King of Cool«, sondern um einen echten Lebenskampf, bei dem Bakers Eltern, sein Produzent Richard Bock (Callum Keith Rennie unaufdringlich aber toll wie immer) und sogar sein Bewährungshelfer (ein »Spezialist« für drogengefährdete Musiker) eine große Rolle spielen.

Born to be Blue (Robert Budreau)

© Alamode Film

Ich selbst bin jetzt nicht so ein Riesen-Ethan-Hawke-Fan, weil der Typ auch manchmal nerven kann - aber dieser Film ist großartig. Selbst für Leute, die sich wenig für Jazz interessieren - weil es einfach um das Leben an sich geht.