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16. Januar 2013
Thomas Vorwerk
für satt.org

Cinemania-Logo 87:
Französische Filmwoche, Teil 2

Hier sieben weitere Kritiken zu Filmen der 12. Französischen Filmwoche, die Anfang Dezember in Berlin stattfand.


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My Way - ein Leben für den Chanson (Florent-Emilio Siri)

My Way
Ein Leben für den Chanson
(Florent-Emilio Siri)

Originaltitel: Cloclo, Frankreich / Belgien 2012, Buch: Florent-Emilio Siri, Julien Rappeneau, Kamera: Giovanni Fiore Coltellacci, Schnitt: Olivier Gajan, Musik: Alexandre Desplat, Production Design: Philippe Chiffre, Art Direction: Dominique Carrara, Kostüme: Mimi Lempicka, mit Jérémie Renier (Claude François), Benoît Magimel (Paul Lederman), Monica Scattini (Chouffa François), Sabrina Seyvecou (Josette François), Ana Girardot (Isabelle Forêt), Joséphine Japy (France Gall), Maud Jurez (Janet Woollacot), Marc Barbé (Aimé François), Robert Knepper (Frank Sinatra), Tom Dufour (Claude François enfant), Emma Millereau (Josette François enfant), Emmanuel Rossfelder (Gilbert Bécaud), Arthur Defays (Johnny Hallyday), Dieudonné Katende (Otis Redding), 148 Min., Kinostart: 13. Dezember 2012

Der Start von Violeta Parra liegt keine zwei Wochen zurück, da sehe ich erneut ein Biopic über einen mir zuvor komplett unbekannten Musiker. Im Falle von Claude François ist es aber so - und hier verrät bereits der deutsche Verleihtitel einen, wen nicht den »Aha-Moment« des Films -, dass mir der bekannteste Song des auch als Cloclo bekannten französischen Sängers und Komponisten durchaus bekannt ist. Laut Abspanntitel im Film handelt es sich gar um den bekanntesten Song der Welt - und das ist offenbar weder White Christmas noch etwas von den Beatles, sondern My Way, ursprünglich von Paul Anka, aber weltberühmt geworden durch Frank Sinatra - und auch die berüchtigte Version von Sid Vicious (auch zentral eingebaut in dessen Biopic Sid & Nancy). Ach ja, »ursprünglich von Paul Anka« ist natürlich falsch, denn Anka hatte den französischen Song Comme d'habitude ins Englische übertragen (übrigens mehr an Zeilenlängen und Reimschema orientiert als den textlichen Sinn beizubehalten). Und wie man dem Film entnehmen kann, gab es von diesem Cloclo-Hit noch eine frühere Version, die er erst »hochfrisieren« musste.

Mit der Erfolgsgeschichte eines einzigen Songs könnte man wahrscheinlich einen abendfüllenden Film bestreiten, doch in Cloclo ist die Historie von My Way nur eine zahlreicher schillernder Facetten. Filmfans könnten auch Laisser tomber les filles von der seinerzeit noch minderjährigen France Gall kennen, der gut 30 Jahre später von April March in Chick Habit übersetzt wurde und dieser Song wird in Quentin Tarantinos Death Proof geschickt eingesetzt (wem das nichts sagt, ruhig mal auf youtube gehen und vergleichen, die Liedzeile »She'll be driving in a hearse« wird für den guten Quentin womöglich ausschlaggebend gewesen sein). Komponiert wurde dieser Song zwar von Serge Gainsbourg (der auch schon sein Biopic hatte), doch Cloclo hatte damals eine mehr oder weniger geheime längere Affäre mit France Gall, und ihr Sieg beim Grand Prix Eurovision de la Chanson (1965 für Luxemburg) ist der Knackpunkt dieser weiteren Facette im Leben Cloclos.

Neben einer gut eingearbeiteten Backstory über Claudes gespaltenes Verhältnis zu seinem Vater (bzw. seines Vaters zu ihm) geht es im Film über die komplette Karriere (und da lief gerade zu Beginn längst nicht alles glatt), um seine musikalischen Einflüsse (Gilbert Bécaud, Johnny Halliday, aber auch seine Kindheit nahe des Suez-Kanals oder Otis Redding), seine Frauen (incl. seiner Mutter, deren Spielsucht finanzielle Probleme bereitet) und vor allem auch um seine Zeit, wobei die Gogo-Tänzerinnen in den 1970er nicht das einzige an diesem Film sind, was an Paul Thomas Andersons Boogie Nights erinnert.

Die wahrscheinlich am längsten im Gedächtnis des Publikums bleibende Szene des Films (obwohl die spitzen Schreie aus dem Auditorium bei der Badewannenszene mich Lügen strafen könnten) ist eine unaufdringliche Steadycam-Plansequenz, die gleichzeitig eine Führung durch Claudes luxuriöses Anwesen zum Höhepunkt seiner Karriere bietet, nebenbei aber auch die verschiedensten Interaktionen zwischen Partygästen zeigt. Zu einem Zeitpunkt, als auch der unaufmerksamste Zuschauer gemerkt hat, dass die aktuelle Einstellung überdurchschnittlich lang geraten ist, kommt dann zum Schluss ein Paukenschlag wie in einem Horrorfilm: Ein Tatbestand, der auf den ersten Blick einfach keinen Sinn macht, offenbart dann ein merkwürdiges »Geheimnis« aus dem Leben des Popstars, das gleichzeitig Einblicke in seinen Charakter offenbart, aber auch durch die Verschiebung des Blicks des Zuschauers auf die Vorgänge den Unterschied zwischen dem privaten Leben eines Stars und dem, was die Medien daraus machen (oder daraus machen dürfen), vorführt. Schon für diese Szene - so unsinnig und aufgesetzt sie auf den ersten Blick scheinen mag - liebe ich den Film.

Ein weiteres, trivialeres Vergnügen an dem Film ist es, unzählige französischsprachige Hits zu hören, und bei den vielen Adaptionen englischsprachiger Originalsongs jeweils diese »herauszuhören«. Mag sich etwas blöd anhören, aber wer die Siebziger halbwegs mitbekommen hat (der Autor dieser Zeilen ist Jahrgang 1967), der wird einiges wiedererkennen, teilweise sogar aus deutschsprachigen Versionen, die seinerzeit ähnlich verbreitet waren, und dann auch nur immer auf den Songtitel zu kommen (von den Originalinterpreten ganz zu schweigen), das kann schon ziemlich fordern. Ich empfehle, auf youtube Il fait beau, il fait bon, J'attendrai, Toi et le soleil oder Cette année-là einzutippen (je weniger Französisch man spricht, umso mehr wird man gefordert), Si j'avais un marteau und Sha la la (Hier est près de moi) sind meines Erachtens um einiges einfacher - vielleicht kenne ich da aber auch einfach die Originale besser. Cloclo macht teilweise so quietschvergnügten Spaß wie die »Tanze Samba mit mir«-Szene in Fassbinder/Ozons Gouttes d'eau sur pierres brûlantes (Tropfen auf heiße Steine), erzählt aber dennoch mit versierten filmischen Mitteln, die man vom Regisseur des Bruce-Willis-Vehikels Hostage gar nicht erwartet hat, eine anrührende Geschichte.

Jérémie Renier geht in dieser Rolle auf, wie man es nur selten erlebt. Wenn Cloclo international so bekannt wäre wie Edith Piaf, wäre ihm eine Oscar-Nominierung fast sicher gewesen. Doch außerhalb von Frankreich (und außerhalb der Französischen Filmwoche) wird der Film oft stiefmütterlich behandelt. Der deutsche Verleih Studiocanal etwa brachte den Film quasi komplett ohne Werbung kurzfristig heraus (sieht sehr nach einer Steuer-Abschreibaktion aus, bei der Einnahmen nur stören), er startete zweitgleich mit dem Hobbit, und soweit ich das erkennen konnte, in der ersten Woche deutschlandweit nur in zwei UCI-Kinos, und zwar in Friedrichshain und Othmarschen. Schade, denn es ist ein kleines Meisterwerk, das aber wie beispielsweise Baseballfilme und einiges in Sachen Black Cinema in Deutschland nur schwer an den Mann gebracht werden kann. Wobei man sagen muss, in diesem Fall wurde es auch gar nicht versucht.

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  Die wilde Zeit (Olivier Assayas)


Die wilde Zeit
(Olivier Assayas)

Originaltitel: Après Mai, Intern. Titel: Something in the Air, Frankreich 2012, Buch: Olivier Assayas, Kamera: Eric Gautier, Schnitt: Luc Barnier, Production Design: Dorota Okulicz, mit Clément Métayer (Gilles), Lola Créton (Christine), Felix Armand (Alain), Carole Combes (Laure), India Salvor Menuez (Leslie), Hugo Conzelmann (Jean-Pierre), Mathias Renou (Vincent), Léa Rougeron (Maria), Martin Loizillon (Rackam le Rouge), André Marcon (Gilles' Vater), 122 Min., Kinostart: 30. Mai 2013

In Venedig für das beste Drehbuch ausgezeichnet, klingt Après mai nach Carlos fast wie eine thematische Fortführung für Regisseur Assayas, ist aber ein viel »kleinerer« Film - was man durchaus auch positiv verstehen kann. Zwar kommt es auch hier zum Schlagabtausch zwischen einem brutal agierenden Polizeistaat und illegalen Aktionen nicht abgeneigten »Revolutionären«, doch die nicht immer harmlosen Begebenheiten bieten hier mehr den Hintergrund eines Zeitgemäldes, eines Coming-of-Age.

Für die politisierte Adoleszenz in den späten 1960ern wurden Hauptdarsteller Clément Métayer und Lola Créton (anwesend bei der Vorführung) auch von Assayas nicht besonders vorbereitet (etwa mit Filmen aus der Zeit o. ä.), dem Regisseur ging es mehr darum, ihre »Jugendlichkeit« - unter anderen Umständen - zu betonen. Was dem Film auch gelingt. Selbst ohne Hintergrundwissen (also beispielsweise für ein gleichaltriges Publikum) funktioniert der Film, die Beschreibung eines Lebensabschnittes so von 16 bis 22, durchaus auch mal vom Aktivisten zum Spießer, gelingt auch losgelöst vom historischen Hintergrund. »Frag nicht, was du riskierst -frag, ob du deine Überzeugungen lebst!«

Nebenbei bleibt Assayas aber genügend Zeit für Drogenerlebnisse, Lebensentwürfe mit und ohne Partner oder die linke Kinoszene - und Gehversuche in unterschiedlichen Filmemacher-Millieus (Guerilla-Kino in Italien, Nazis im Pinewood Studio und Maigret im TV).

Was an Après mai verzaubert, ist die Leichtfüßigkeit des Films, der wie ein Schmetterling mal auf einer Handgranate, einem illegalen Flugblatt oder einer zerbrochenen Glasscheibe landet, dann aber wieder weiterfliegt und sich in etwas anderes, nicht mehr ganz so Leichtfüßiges, verwandelt. Einer der deutschen Verleiher des Films, mit dem internationalen Titel »Something in the Air« noch nicht annähernd zufrieden, bat das Publikum, ihm per Mail deutsche Titelvorschläge zu schicken. Meiner wäre »Das Zerbrechlichste auf der Welt« gewesen, wozu eine Aquarell-Zeichnung nackter Mädchenfüße unter dem luftigen Saum eines Sommerkleids über einer garstig-collagierten Wiesenfläche (vielleicht auch aus ein paar Schlagworten aus Zeitungsüberschriften) passen würde.

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Camille redouble (Noémie Lvovsky)

Camille redouble
(Noémie Lvovsky)

Intern. Titel: Camille Rewinds, Frankreich 2012, Buch: Noémie Lvovsky, Pierre-Olivier Mattei, Maud Ameline, Florence Seyvos, Kamera: Jean-Marc Fabre, Schnitt: Annette Dutertre, Michel Klochendler, Production Design: Fred & Frédérique Lapierre, Art Direction: Elsa Amiel, mit Noémie Lvovsky (Camille Vaillant), Samir Guesmi (Éric), Judith Chemla (Josepha), India Hair (Alice), Julia Faure (Louise), Yolande Moreau (Camilles Mutter), Michel Vuillermoz (Camilles Vater), Denis Podalydès (Alphonse), Jean-Pierre Léaud (Uhrmacher), Vincent Lacoste (Vincent), Mathieu Amalric (Französischlehrer), Riad Sattouf (Regisseur), 115 Min., Kinostart: 22. August 2013

Körpertausch- und / oder Zeitreisengeschichten (in diversen Variationen und Spielarten) haben insbesondere Ende der 1980er die Kinogänger fasziniert. Ob Big, Peggy Sue got married, All of Me, Like Father, Like Son oder Vice Versa - es wurde so ziemlich alles Denkbare (und Undenkbare) ausprobiert. Regisseurin und Schauspielerin Noémie Lvovsky liefert nun einen Film mit etwas anderer Herangehensweise, der aber - rein historisch gesehen - auch die überfällige Modernisierung von Back to the Future (die Eltern des heutigen Kinopublikums lebten zu Marty McFlys Zeiten) darstellen könnte. Wie Kathleen Turner und Michael J. Fox nimmt es die Regisseurin als eigene Hauptdarstellerin auf sich, gleich beide, unterschiedlich alte Versionen ihrer Filmfigur darzustellen - und wo die amerikanischen Kollegen damals vor allem auf alt geschminkt werden mussten, nimmt man Frau Lvovsky den Teenager nicht mehr ohne weiteres ab, sie wirkt eher wie ein Fremdkörper ähnlich der geistig verwirrten Nadine Hurley in Twin Peaks, die mit Ende 30 noch einmal zurück an die High School geht. Doch durch ihre Spielfreude und die gelungene Inszenierung kommt man in Camille redouble gar nicht auf die Idee, Lvovsky oder ihre Kolleginnen und Kollegen zu hinterfragen. Dazu macht der Film auch einfach zu viel Spaß! Sie kann sogar ein The-Clash-T-Shirt mit Pünktchen-Rock tragen und man schluckt das mit einem cineastischen Teelöffel Zucker.

Ganz ähnlich wie Kathleen Turner als Peggy Sue hat Camille zu Beginn des Film (nach der endgültigen Trennung von dem Mann, der ihr längst nicht mehr so viel bedeutet wie zu Jugendzeiten) eher den Wunsch, ihr (vergangenes) Leben ganz anders zu gestalten, als sie durch eine (nur geringfügig thematisierte) seltsame Zeitreise die Chance bekommt, nicht ein zweites Mal auf ihren »Nicolas Cage« (Samir Guesmi als Éric, um Migrationsfragen geht es in diesem Film übrigens nicht) hineinzufallen.

Doch nach der üblichen Verwirrungsphase und der freudigen Wiedervereinigung mit ihrer früh verstorbenen Mutter widmet sich die Hauptfigur vor allem den Lieblingsthemen der Regisseurin: »Teenager« und »erwachsen werden« - mit komplett natürlich wirkender Euphorie durchlebt sie mit ihren damaligen (und - geringfügig unglaubwürdig - heutigen) Freundinnen erneut die Pubertät. Als Zuschauer wird man verwöhnt mit Kurzauftritten von Mathieu Amalric als überdrehten Französischlehrer und Jean-Pierre Léaud (durch seine Antoine-Doinel-Filme auch eine Art Zeit- und Körperreisender) als (gar nicht mal übertrieben symbolischer) Uhrmacher. Während die Liebesgeschichte zwischen Camille und Éric eher nebenbei plätschert (»Was habe ich dir getan?« - »Du hast mein Leben ruiniert!«), lernt man ihre Freundinnen besser kennen, und da der Todestag der Mutter näher schreitet, überlegt Camille, wie sie das Schicksal umgehen kann.

Wo andere Filmemacher aus einigen der Temporalproblemen dieses Films mindestens eine Trilogie gebastelt hätten (Tod der Mutter, Blindheit der Freundin, Affäre mit dem Physiklehrer), bleibt Lvovsky ganz verspielt immer auf einem eher undramatischen Pfad, der dafür mehr Betonung auf die Atmosphäre legt. Und das ist erstaunlich erfrischend, wo sich heutzutage Zeitreisefilme (zuletzt etwa Men in Black 3 oder Looper) immer mehr in Details und dem Begehren, die altbekannten Probleme auf völlig neue und innovative Art zu lösen, schnell verzetteln. Dieser Gefahr mag sich die Regisseurin und Co-Autorin bewusst gewesen sein - im filmischen Endprodukt merkt man nichts mehr davon. Ob Frau Lvovsky sich mit diesem Film auch in Deutschland dem Bekanntheitsgrad im Heimatland annähern kann, bleibt fraglich. Ein gewaltiger Schritt, und zwar aus eigener Kraft, ist dieser Film ganz sicher!

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  Laurence Anyways (Xavier Dolan)



Laurence Anyways
(Xavier Dolan)

Kanada / Frankreich 2012, Buch, Schnitt: Xavier Dolan, Kamera: Yves Bélanger, Musik: Noia, mit Melvil Poupaud (Laurence Laurence Alia), Suzanne Clément (Fred Belair), Nathalie Baye (Laurence's Mother), Monia Chokri (Stéfanie Belair), Susie Almgren (Journalistin), Yves Jacques (Michel Lafortune), Sophie Faucher (Andrée Belair), Magalie Lépine-Blondeau (Charlotte), David Savard (Albert), Catherine Bégin (Mamy Rose), Emmanuel Schwartz (Baby Rose), Jacques Lavallée (Dada Rose), Perette Souplex (Tatie Rose), Patricia Tulasne (Shookie Rose), 168 Min., Kinostart: 27. Juni 2013

Das kanadische Regiewunderkind Xavier Dolan war bisher unterhalb meines Radars geblieben, doch wer dieses fast dreistündige (und dennoch höchstens zehn Minuten zu lange) Werk sieht, wird kaum glauben können, dass der Regisseur gerade erst Anfang zwanzig ist.

Titelheld(in) Laurence (Melvil Poupaud) beginnt sein Leben trotz einiger Auffälligkeiten in heterozentrischen Bahnen, Ende der 1980er ist seine beste Freundin »Fred« (Suzanne Clément) auch die offensichtliche Kandidatin für die Liebe seines Lebens. Als Laurence sich jedoch entscheidet, dass Fred die Liebe ihres Lebens sein soll (eine Geschlechtsumwandlung bringt nicht zwangsläufig eine sexuelle Neuorientierung mit sich), wird Fred auf eine schwere Probe gestellt, die handlungstechnisch fast den gesamten Film stemmen muss.

Die Geschichte wird größtenteils aus der Perspektive von Laurence erzählt, nimmt sich aber auch Zeit für die Motive anderer Figuren. Die ambivalente Beziehung zur Mutter entgeht durch einige Gefühls-Heiß-Kalt-Duschen der Gefahr, ins Klischeehafte abzudriften (»Wirst du mich noch lieben ...?« - »Wirst du zur Frau oder zum Idioten?«). Ganz wie nebenbei nimmt sich der Film Zeit für das obligate »Gay-Bashing« (eine Fehltitulierung, die die Täter aber nicht problematisieren würden), noch dazu als Hommage an Kubricks 2001 orientiert, gibt einen musikalischen Durchschnitt durch die mehr oder weniger alternative Musik der 1980er (Bette Davis' Eyes, Fade to Grey und mal wieder The Chauffeur von Duran Duran), um dann über eine Begegnung mit der eigentümlichen Zweckfamilie »Les Five Roses« die sexuelle Festigung des zunächst unsicheren Laurence fortzuführen und sie wie einen bunten Schmetterling bei einem Filmball schillern zu lassen.

Die Beziehung zu Fred verschwindet manchmal für Jahre hinterm Wahrnehmungshorizont, doch Dolan orientiert sich hier weniger am heutigen Queer Cinema als an einem Klassiker wie Jacques Demys jeder Re-Interpretation aufgeschlossenem Les parapluies de Cherbourg inklusive Winterlandschaft, die die alte Liebe zum Auftauen bringen muss (der symbolträchtige Herbst wird ebenfalls - an anderer Stelle thematisiert).

Laurence Anyways ist meines Erachtens vielleicht nicht der beste Film der französischen Filmwoche, aber der packendste, vielversprechendste (was die nächsten Filme von Xavier Dolan angeht) und einfallsreichste. Am Folgetag sah ich den neuen Film von Paul Thomas Anderson, der einst auch als Wunderkind gehandelt wurde und für The Master mit nicht wenigen Oscar-Nominierungen überschüttet wurde. Verglichen mit Laurence Anyways war der aber fahrig, nichtssagend und langweilig - obwohl eine Viertelstunde kürzer.

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Willkommen in der Bretagne (Marie-Castille Mention-Schaar)

Willkommen in der Bretagne
(Marie-Castille Mention-Schaar)

Originaltitel: Bowling, Frankreich 2012, Buch: Jean-Marie Duprez, Marie-Castille Mention-Schaar, Kamera: Myriam Vinocour, Schnitt: Hugues Darmois, Musik: Erwann Kermorvant, mit Catherine Frot (Catherine), Mathilde Seigner (Mathilde), Firmine Richard (Firmine), Laurence Arné (Louise), François Bureloup (Yves), Mathias Mlekuz (Erwann), Geneviève Mnich (Mme Escoffier), Frédéric Noaille (Paul), Julien Crampon (Gaël), Gilles Bataille (Krankenhaus-Direktor), Eric Naggar (Henri), Samuel Chauvin (Maël), Kiliann Lorguilloux (Merlin), Georges Cadoudal (George), Florence Mestais (Angélique), 90 Min. Kinostart: 31. Januar 2013

Dass der deutsche Titel dieses Films an Willkommen bei den Sch'tis erinnern soll, musste mir erst eine Pressemitteilung erklären. Von selbst wäre ich darauf nicht gekommen, denn auch, wenn der Umzug einer Pariserin (Catherine Frot als Catherine) diese zu den Bretonen führt und es anfänglich ein paar Animositäten gibt, die durchaus auch auf unterschiedliche Heimat und Mentalität zurückzuführen ist, so hat der Film doch eine gänzlich verschiedene Atmosphäre, und der durchaus vorhandene Humor spielt sich auf einer anderen Ebene ab.

In gewisser Weise ist Bowling auch ein Problemfilm, denn es geht um die Schließung der Entbindungsstation eines kleinstädtischen Krankenhauses, was nicht nur für die dort tätigen Angestellten eine Tragödie ist, sondern auch die Stadt an sich zum Tod verurteilt, denn wenn man zum Gebären jeweils erst in eine Nachbarstadt fahren muss, bedeutet dies natürlich, dass es in Zukunft keine Menschen mehr geben wird, die von sich behaupten können, »gebürtig« aus dem Spielort des Films zu stammen (dieser Teil der Geschichte basiert auf einem tatsächlichen Fall).

Verbunden wird dieser Fall eines vergleichsweise friedlichen Aufstands (im sehr gelungenen Trailer zur Französischen Filmwoche hat man Bilder einer Demo in Bowling - teilweise in satirischer Überzeichnung wirklich wie in Bloody Sunday inszeniert - gegen die Straßenkämpfe in Après mai geschnitten) mit einem Bowling-Wettbewerb, der - Sportfilme begeistern mehr als Politfabeln - sich teilweise etwas in den Vordergrund drängt. Zumindest rein dramaturgisch, denn der Film beginnt mit dem großen Schlamassel, dass die Hebamme Firmine (Firmine Richard) sich kurz vor einem Wettbewerb in einer Damentoilette einschließt, weil ihr Trikot plitschnass geworden ist, was beim Wettbewerb zur Disqualifikation des ganzen Teams führen könnte. Die Lächerlichkeit dieser »großen Tragödie« (nasses Kleidungsstück kontra »globaler Zusammenhang« bei Standortoptimierung) hätte der Film meines Erachtens durchaus etwas stärker betonen können.

Alles in allem ist Bowling ein nettes kleines Filmchen mit einigen gelungenen Humoreinlagen - aber nicht mehr. Während der Filmwoche hatte ich das Vergnügen, hin und wieder auch Stars oder Regisseure live zu erleben, und hierbei waren sowohl Catherine Frot als auch Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar zugegen. Die Art und Weise, wie die inzwischen auch in Deutschland sehr bekannte Darstellerin und die eher unbekannte Regisseurin doch eher unterschiedlich vorgestellt und beklatscht wurden (den komplizierten Namen der Regisseurin erwähnte man exakt einmal), machte mich auch ein wenig argwöhnisch, und ich hätte beinahe gefragt, wieso beim fröhlichen Abspann des Films Catherine Frot nicht im selben Dress wie ihre Bowling-Teamkameradinnen tanzte (ihre Rolle würde diese Sonderbehandlung keinesfalls erklären), aber andererseits war mir auch klar, dass Frau Frot mittlerweile abgebrüht genug ist, sich durch solch eine Frage nicht aus dem Konzept zu bringen. Und wenn ich Frau Mention-Schaar gefragt hätte, wäre die Antwort wohl auch sehr diplomatisch und einfallsreich ausgefallen. Also habe ich es mir gespart und meinen Argwohn für mich behalten.

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Le tableau (Jean-François Laguionie)

Le tableau
(Jean-François Laguionie)

Frankreich 2011, Buch: Jean-François Laguionie, Anik Leray, Schnitt: Emmanuel de Miranda, Musik: Pascal le Pennec, mit den Originalstimmen von Jessica Monceau (Lola), Adrien Larmande (Ramo), Thierry Jahn (Plume), Julien Bouanich (Gom), Céline Ronté (Garance), Thomas Sagols (Magenta), Magali Rosenzweig (Orange de Mars), Chloé Berthier (Claire), Jean-François Laguionie (Selbstportrait des Malers), Jean Barney, Serge Faliu, Jeremy Prevost, Jacques Roehrich, Michel Vigne, 76 Min.

Die Handlung dieses Films dreht sich um die auf der Leinwand eines Bildes versammelten Figuren, die dort ihr Leben fristen. Auf den ersten Blick erinnert das an (auf Kinder zugeschnittene) Animationsfilme wie Toy Story (Spielzeuge erwachen zum Leben) oder Gnomeo & Juliet (Gartenzwerge reinterpretieren Shakespeare), doch Le tableau hat zumindest größere Ansprüche, denn es geht hierbei nicht nur um philosophische Fragen bezüglich des »Schöpfers«, sondern vor allem um eine (selbst für Kinder unübersehbare) Allegorie auf Rassismusprobleme. Denn das Gemälde ist unvollendet (»Ist Gott tot?«) und die Figuren befinden sich in einem unterschiedlichen Stadium der malerischen Vollendung, die in den deutschen Untertiteln »Fertigos«, »Unvollendetas« und »Skizzos« heißen. Wenn die Fertigos sich nicht größtenteils wie blasierte Adlige aufführen würden, die Bälle feiern, zu denen nicht jeder eingeladen ist, könnte man ja noch fast auf die Idee kommen, dass sie sich »mit Recht« für etwas besseres halten, doch die Sympathie des Betrachters wird schnell auf die Underdogs und Unterdrückten gelenkt, und man kommt nicht umhin, an arm und reich, Farbige und »Weiße« (hier mit umgedrehten Vorzeichen), körperliche Makel oder Behinderungen zu denken - und an die NS-Zeit oder das finstere Mittelalter, wenn ein wütender Mob so einen fast nur aus Bleistiftstrichen bestehenden »Skizzo« tottreten will.

Rein visuell wurden hier tatsächlich »Zeichnungen« bzw. »Gemälde-Figuren« per CGI sozusagen lebendig gemacht, was nicht nur das Auge von Animationsliebhabern faszinieren wird.

Doch die Allegorie hinkt an mehreren Stellen, und der Film besinnt sich nach einem starken Intro an sein Zielpublikum, und statt allzu politischer Vorgänge wird das Abenteuer betont. Das bedeutet, dass die Flucht vor Unterdrückung und Mord in den »Wald der Todesblumen« führt (der Film ist clever genug, das Gemälde nie ganz zu zeigen), ehe es dann wieder interessanter für das ältere Publikum wird, weil man das Gemälde verlässt und in andere Bilder / Welten eintaucht, wie ein schlechtgelauntes Selbstportrait, einen weiblichen Akt oder ein Schlachtengemälde, das geradezu darum bettelt, in animierte Aktion zu treten. Visueller Höhepunkt des Films ist dann ein Karneval in Venedig, der sich ähnlich wie bei Blade Runner nur dem »besonderen« Beobachter offenbart, man muss sozusagen ein Gemälde betreten und »um die Ecke gehen«, um etwas zu entdecken, was zuvor allerhöchstens angedeutet war.

Ähnlich wie auch der Mondmann bietet dieser Film Unterhaltung für jung und alt (worüber man als Begleitung immer glücklich ist), und anschließend auch genügend Gesprächsstoff, der nicht auf abstrakter Ebene verbleiben muss.

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Der Mondmann (Stephan Schesch)

Der Mondmann
(Stephan Schesch)

Frankreich / Deutschland 2012, alternative Titel: The Moon Man, Jean de la lune, Co-Regie und Schnitt: Sarah Clara Weber, Buch: Stephan Schesch, Ralph Martin, Lit. Vorlage: Tomi Ungerer, mit den Stimmen von: Katharina Thalbach (Mondmann), Corinna Harfouch, Ulrich Noethen, Ulrich Tukor, Tomi Ungerer (Erzähler), 95 Min., Kinostart: 14. März 2013

Auch Der Mondmann arbeitet mit einer eher limitierten Animation, die sich durch die Vorlage von Tomi Ungerer erklärt. Während eine kleine Tochter mit Vater und Hund Laika sich erst im Autokino vergnügt und dann ziemlich ziellos im Auto durch die nächtliche Gegend fährt und dabei über den Mond sinniert, ist dem Mann im Mond, der »Nacht für Nacht in seiner silbernen Kugel« steckt (der Mond wirkt hier oft eher wie ein Loch in der Schwärze des Alls), »erbärmlich langweilig«, weshalb er den Schweif eines Kometen ergreift und auf der Erde landet. Ab dort übt sich der Film im recht komplexen Balanceakt, zum einen die Abenteuer sowohl des Mondmanns als auch des kleinen Mädchens zu beschreiben, sich aber nebenbei auch in einer nicht immer kindgerichteten Satire zu üben, in der es größtenteils um Machtfantasien, mitunter aber auch mal um sexuelle Gelüste (humorvoll und kindertauglich umgesetzt) geht. Der Mondmann ist hierbei gleichzeitig der naive Außerirdische (inkl. E.T.-Ripoff »nach Hause«) und der ungeahnt Weise, der die Menschen in ihren kleinlichen Zielen bloßstellt. Was mir während des Films nicht so sehr auffiel, wurde nach dem Film von der Co-Regisseurin Sarah Clara Weber, die sich solch Kinderfragen wie »Ist der Mond wirklich aus Käse gemacht?« stellte, ausgiebig beschrieben: Eines der größten Probleme des Films war wohl die Stimme des Mondmannes, der weder kindlich noch erwachsen, weder klar männlich oder weiblich klingen sollte, und den Katharina Thalbach schließlich auch in der englischen und französischen Fassung des Films übernahm, weil ihre Interpretation die Filmemacher auch in den anderen Ländern überzeugte (und der Mondmann jetzt nicht unbedingt riesige Dialogmengen zu bewältigen hat).

Der Mondmann begeistert neben seinem (etwas mondlastigen) Soundtrack vor allem durch viele visuelle Ideen. Ob Eulenaugen zu Scheinwerfern werden oder Tomi Ungerer hier und dort eine Frisur oder Maschine wie eine nackte Frau gestaltet, der Film hält sich größtenteils graphisch eher zurück, um dann in bestimmten Momenten wirklich aus dem Vollen zu schöpfen und mit Ideen nur so um sich zu schmeißen. Kindliche Betrachter werden durch gleich zwei Identifikationsfiguren (Mondmann und Mädchen) sowie an Schlaflosigkeit leidende Kinder gleich mehrfach eingebunden, und Langeweile kommt in diesem Film auch nicht auf. Und wenn beim deutschen Kinostart das Publikum nur halb so neugierig ist wie ich, wird Tomi Ungerer auch noch ein paar Bücher verkaufen ...

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