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24. Oktober 2013 | Thomas Vorwerk für satt.org | |||||||||||||
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Österreich / Deutschland 2013, Buch: Jan Berger, Kamera: Stephan Schuh, Schnitt: Martin Rahner, Musik: Dominik Giesriegl, Choreographie: Kim Duddy, mit Diana Amft (Ottilie), Tobias Licht (Dr. Otto Siedler), Fritz Karl (Leopold), Edita Malovcic (Josepha), Gregor Bloéb (Sigismund Sülzheimer), Armin Rohde (Wilhelm), Aykut Kayakik (Chefkoch), Julia Cencig (Klärchen), Ben Ruedinger (Nobbe), Anja Knauer (Xenia), Sarah Wiener (Jausenwirtin), 90 Min., Kinostart: 7. November 2013
Im kollektiven deutschen (und wahrscheinlich österreichischen) Bewusstsein ist das Stück Im weißen Rössl (ursprünglich 1896 als Lustspiel entstanden, dann 1930 zum »Singspiel« bzw. Operette umgearbeitet) untrennbar mit der Filmversion mit Peter Alexander von 1960 verbunden. Im halben Jahrhundert seitdem gab es zwar einige, durchaus auch erfolgreiche Bühnenaufführungen, doch mit einer erneuten Filmversion haben wahrscheinlich die wenigsten gerechnet. Den diesmal von Fritz Karl übernommenen Alexander-Part des Oberkellners drängt die weibliche Hauptdarstellerin Diana Amft, in Deutschland neben Nora Tschirner die Traumbesetzung jeder romantischen Komödie (das ist nicht meine Ansicht, sondern das Urteil der Kino- und Fernsehzuschauer), ein wenig in den Hintergrund. In nicht geringem Maße erinnerte mich die Neufassung an den Disney-Hit Enchanted mit Amy Adams, nur das in diesem Fall die resolute Berlinerin Ottilie (Amft) von ihrem nostalgisch veranlagten Vater (Armin Rohde) ins alpine Märchenland verschleppt wird (wenn das Navigationsgerät erklärt »Dieser Weg ist nicht digitalisiert«, klingt das wie »We're not in Kansas anymore, Toto!«), wo sie gleichermaßen von Gesangseinlagen verunsichert wird, wie es anderenorts Patrick Dempsey peinlich berührte.
Während im Film-Berlin Dauerregen das Gemüt verhagelt, regiert am Wolfgangsee eitel Sonnenschein, hier herrschen wie im mittsommernachtlichen Wald bei Shakespeare gänzlich andere Regeln. Und vor allem gibt es hier eine Diktatur der Liebe, der sich auch die tapfere Widerstandskämpferin Ottilie nicht dauerhaft entgegenstemmen kann (ein beim »Fensterln« überreichtes Sträußchen kommentiert sie noch mit »Ich bin allergisch gegen Blumen und Stalker«). Die Konstellation der vier star-crossed lovers ist schnell umrissen. Oberkellner Leopold liebt seine Chefin Josepha (Edita Malovcic), bevorzugt aber statt klarer Worte anonyme Blumen- und andere Geschenke. Die Chefin weiß zwar um die Kellnerqualitäten ihrer wichtigsten Verstärkung, glaubt aber, dass die Geschenke vom charmanten Dr. Otto Siedler (Tobias Licht) stammen, der sich hingegen auf den ersten Blick in Ottilie verliebt und sich in ihr Herz trällern möchte. Und Ottilie will einfach ihre Ruhe haben – und vielleicht einen Internetzugang. »Hör ich da ein zartes 'Ja, ich will' aus Ihren Worten heraus?« --- »Verpiss Dich!«
Drehbuchroutinier Jan Berger (Kebab Connection, Die Tür, Wir sind die Nacht) gelingt die Balance zwischen zeitgemäßer Komödie und traditionell kitschigem Liebesgesäusel, vielleicht am besten vorgeführt in der Figur des Schnulzensängers Sigi Sülzheimer (nomen est omen, eine Mischung aus Tom Jones, John Travolta und drei Dosen Pomade), der sich rühmt, wie sein Idol Dean Martin Hundertschaften Frauen geküsst zu haben, nur um dann bei einem Verweis auf eine Sexualität jenseits der klinischen Disney-Wunderwelt traumatisiert zu werden: »Sie wollte meine Unschuld rauben – Ein Kuss auf die Wange reichte ihr nicht!«
Gerade aus dem Widerspruch von altertümlichen Euphemismen und einem modernen Sexualverständnis zieht der Film viele Lacher. Wenn in Walk Hard der Song »Let's Duet!« klar als ein »Let's do it!« zu verstehen ist, fehlt hier einigen Figuren die Einsicht, zwischen den Realitäten zu unterschieden, und auf diese verklemmte Art offenbart sich auch ein lang vergessener Skandal: »Man hat die beiden im Kaiserzimmer beim heimlichen Duett erwischt.« Selbst, wenn dann noch erklärt wird »Man singt nicht einfach so im Duett, im Duett verschmelzen Leib und Seele«, so heißt das noch lange nicht, dass man sich beim gemeinsamen Trällern im »zauberhaften Land« rund um den Wolfgangssee um Verhütungsmittel kümmern muss. Ist ja alles ganz unschuldig und harmlos! Dennoch überkommt dann auch Ottilie die späte Einsicht »Diese Duettsingerei ist ja der Hammer!« Die beneidenswert verlogene Naivität des Heimatfilms wird gleichzeitig verhöhnt wie aufrechterhalten, und als Zeichen der Modernität gibt es hier und da eine kaffeebraune Schönheit oder einen dicklichen Tänzer. Und als Zugeständnis an aktuelle Sehkonventionen wird das Schuhplattlern wie eine Kampfsportart inszeniert (im Nachspann ist einer der vier Choreographen tatsächlich für »Martial Arts« zuständig).
Ob man vom alten Schlag ist (also Rentner) oder mit dem I-Phone aufgewachsen, wenn man sich darüber amüsieren kann, wenn sich Leidenschaft auf Einzelhaft und Mondscheinnächte auf Schuppenflechte reimen, kann man diesem Film ruhigen Gewissens eine Chance geben, selbst noch die Anschlussfehler (Wieso hat sie denn jetzt plötzlich wieder ihren Trainingsanzug an?) haben einen gewissen Charme.
Deutschland 2013, Buch: Martin Ritzenhoff, Lit. Vorlage: Otfried Preußler, Kamera: Matthias Fleischer, Schnitt: Michael Scharere, Musik: Niki Reiser, mit Jonas Holdenrieder (Karl), Uwe Ochsenknecht (Bürgermeister / Torsten Torstenson), Anna Thalbach (Stimme Kleines Gespenst), Emily Kusche (Marie), Nico Hartung (Hannes), Herbert Knaup (Uhrmachermeister Zifferle), Bettina Stucky (Frau Thalmeyer), Aykut Kayacik (Burgverwalter), Sandra Borgmann (Karls Mutter), Wolfgang Hess (Stimme Uhu Schuhu), Aljoscha Stadelmann (Wachtmeister Holzinger), Carlos Richter (Peter), Stefan Merki, Jens Schröder, Stev Pavlowski, Dirk Herfurth, Frédéric Körner (Feuerwehrmänner), 96 Min., Kinostart: 7. November 2013
Als Otfried Preußlers Bücher über kleine Hexen, Gespenster und Wassermänner erschienen, herrschte zumindest in deutschen Kinderzimmer noch eine heile Welt vor, die heutzutage nur noch schwer vorstellbar ist. Nichtsdestotrotz versucht der deutsche Kinderfilm mit einer gewissen »corporate identity« diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Darsteller wie Armin Rohde, Uwe Ochsenknecht oder Ulrich Noethen kollern immer noch mit der Pompösität von Nachkriegs-Schmalspur-Schurken über die Leinwände, wie es bei einem Zielpublikum über zehn Jahren schon nicht mehr ohne weiteres möglich wäre. Je weiter die junge Generation sich von den vorhergehenden entfernt, umso wichtiger scheint ein generationsübergreifender Eskapismus. Oder anders ausgedrückt: Wenn man schon mit seinen Kindern ins Kino gehen muss, ist ein bisschen harmlose Nostalgie leichter verdaulich als »wilde Kerle« und »Spongebob« – auch, wenn die Kids, konditioniert durch das Werbefernsehen und »Happy Meals«, wahrscheinlich mehr Interesse für den nächsten US-3D-Animationsknaller entwickeln.
Die Art und Weise, wie in Das kleine Gespenst das Kino der 1950er (modernisiert mit CGI) weiterlebt, ist auch in seiner Naivität liebenswert. Das Gespenst selbst, das mehrfach pädagogisch wertvoll betont, dass es keine Gespenster gibt, wird durch sein Design und eine mehrfach wiederholte Einstellung von Bettwäsche, die sich im Wind an der Leine bauscht, ganz in die Nähe eines Kindes gestellt, das sich mit einem Kissenbezug verkleidet, nur diejenigen erschrecken möchte, die »Böses« wollen, und dabei nicht etwa von einer »menschlichen Vergangenheit« oder einem Leben im Jenseits zeugt, sondern einfach von einer naiven, Jahrhunderte umfassenden Kindheit, in der es – analog zum kindlichen Publikum – immer dann schlafen gehen muss, wenn es gerade interessant wird. Dass das kleine Gespenst fliegen kann und mit seinem besten Freund, einer Eule, sprechen kann, ist hier eher Nebensache.
Das kleine Gespenst spielt in einer pittoresken deutschen Kleinstadt (»Eulenburg«) mit einer Witzfigur von Wachtmeister, einem selbstverliebten Bürgermeister, einem ganz seiner Zunft verschriebenen Uhrmacher (namens »Zifferle«) nebst seinem Lehrling, einzig ein für anderthalb Gags missbrauchter farbiger Briefträger zeugt von einer gewissen Aktualisierung, dem Alibi-Migrationshintergrund des Films sozusagen. Die örtliche Feuerwehr scheint sogar nicht nur aus dem schlafmützigen Deutschland der 1950er zu stammen, sondern ist der Slapstick-Tradition der Keystone Cops verpflichtet.
Wo der Film aber durchaus einer »klassischen Moderne« entspricht und seinem jungen Zielpublikum Anknüpfungspunkte bietet, ist in den (keineswegs dem Material aufgepfropften) Ähnlichkeiten zu den Harry-Potter-Filmen. Hier wie dort gibt es ein kindliches Trio mit einer klaren halbwüchsigen Hauptfigur, einen Malfoy-ähnlichen Kontrahenten in der selben Klasse, und sogar sprechende Gemälde! Die Eule wurde ja bereits erwähnt.
Das Humorniveau ist rein kindlich, wenn auch nicht so platt wie in Disney-Fernsehserien, sondern immerhin den Figuren und der Handlung verpflichtet. Der Konflikt zwischen Karls Eltern (dominanter, semi-strenger Vater, liebevolle Mutter) ist sogar eine erfrischende Abkehr von der üblichen Darstellung überforderter Alleinerziehender.
* Ein Trend, den man auch im holländischen Kinderfilm Dolfje Werwolfje (als »Alfie, der kleine Werwolf« seit Oktober in deutschen Kinos) wiederfindet, wo das auffälligste Merkmal des jungen Werwolfs neben seiner Kinderfilmtauglichkeit sein blondes bis weißes Fell ist. Alles eine Propaganda-Angelegenheit, dass beliebte Bären wie Knut, Lars, Paddington und Winnie the Pooh oft eine helle Fellfarbe haben und auch Idefix und Struppi in unschuldigem Weiß daherkommen. |
Kurzum, eine perfekte Kinderunterhaltung für Vorschule bis zweite Klasse, bei der man sich als Begleitperson nicht über Gebühr ärgern muss. Dass die Lichtverhältnisse zu mitternächtlicher Stunde reichlich kinderfreundlich sind, dass der Film impliziert, dass das Leben als »weißes« Gespenst erstrebenswerter* ist als als »schwarzes« (wo man doch Preußler zumindest im Buchbereich auf »politisch korrekt« bürsten will), und dass die Rathausuhr eindeutig aus dem Jahr 1911 stammt (ein übersehenes Detail, dass die Handlung bei kritischer Hinterfragung ins Straucheln bringt) – all diese Kleinigkeiten blendet man einfach aus und erfreut sich am Kinderlachen.
Ach ja, ein Indiz für einen Generationswechsel im deutschen Kinderfilm gibt es doch noch. Das einigermaßen geschlechtslose Gespenst wird von Anna Thalbach gesprochen. Noch zu Beginn des Jahres sprach die recht ähnliche Rolle des Mondmann Mutter Katharina.
Deutschland / Österreich 2013, Buch: Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum, Kamera: Erwin Wagenhofer, Schnitt: Erwin Wagenhofer, Michael Hudecek, Monika Schindler, mit Sir Ken Robinson, Yang Dongping, Andreas Schleicher, Prof. Dr. Gerald Hüther, Arno Stern, Yakamoz Karakurt, André Stern, Thomas Sattelberger, Pablo Pineda Ferrer, Patrick Kuhn u.a., 109 Min., Kinostart: 31. Oktober 2013
Erwin Wagenhofer ist einer dieser Dokumentarfilmer, die mit ihren Filmen hehre Ziele propagieren. Das ist an sich nichts Schlimmes (insbesondere, wenn man die erstrebten Ziele teilt), aber wenn man ins Kino geht, um vorrangig einen guten Film zu sehen (und zwar im Sinne von »gut gemacht«, nicht von »gut gemeint«), verkommt das eigene Primärziel schnell zum Sekundärziel (wenn überhaupt) des Filmemachers. Das ist allerdings eine Grundvoraussetzung, mit der man sich in den allermeisten Filmen auseinandersetzen muss, und tendentiell ist es natürlich immer noch besser, einen Film zu sehen, der die Welt verbessern möchte, als einen, der vorrangig viel Geld einspielen soll. In diesem konkreten Fall ist es sogar so, dass das, was den Großteil der Filmbranche motiviert, also der Kapitalismus, exakt jener Umstand ist, den Erwin Wagenhofer in Filmen wie We Feed the World oder Let's Make Money bevorzugt bekämpft.
In Alphabet geht es um Erziehung. Die Hauptthese des Films (adrett aufs Plakat geschrieben) ist es, dass 98% aller Kinder hochbegabt zur Welt kommen, es nach der Schule aber nur noch 2% sind. Wagenhofer impliziert hierbei, dass das Schulsystem nach kapitalistischem Muster, mit vorgegebenen (nicht nur aus Sicht der Kinder willkürlich erscheinenden) Zielsetzungen und einem hohen Konkurrenzdruck, bei dieser Statistik, die nicht jedermann überzeugen wird, ausschlaggebend ist. Und deshalb führt der Film vor allem positive Beispiele vor, die jenseits des Systems die Kinder auf andere, »bessere« Art fördern. Aus meiner Sicht ist somit das größte Problem des Films, dass man einerseits Statistiken anführt, um Missstände vorzuführen, andererseits aber eher außergewöhnliche (und immer positive) Einzelfälle zeigt, die unprüfbare Alternativen darstellen. Und dabei geht man stillschweigend davon aus, dass eine Dichotomie vorgeführt wird, obwohl man größtenteils Äpfel und Orangen vergleicht. Davon abgesehen, sind die gezeigten Alternativen aber durchaus interessant, und wenn man den Film vor allem als Denkanstoß versteht (und nicht als Heilmethode für den behaupteten Erziehungsnotstand), ist das ganze durchaus empfehlenswert.
Das eigentliche Problem ist ja auch nicht das prüfungsorientierte »System« der Erziehung, die Pisa-Studien und Matheolympiaden, sondern die Arbeitswelt, die weltweit darauf aufbaut. Und so ist es zwar schön anzusehen, wenn in Spanien (wo es keine »Sonderschulen« wie hierzulande gibt) jemand trotz Down-Syndrom einen Hochschulabschluss absolviert oder anderswo jemand beinahe autodidaktisch zum talentierten und gefragten Instrumentenbauer wird, diese Einzelfälle wären aber nach einer »Umkremplung« des Systems nicht stellvertretend für die angestrebte Verbesserung. Und solche Details hinterfragt der mit Voice-Over-Kommentaren, Interviews und Expertenmeinungen mitunter recht didaktisch daherkommende Film so gar nicht.
Rein filmisch (meine Herangehensweise und Expertise) überzeugt der Film durch seinen global wirkenden Überblick und die besten Argumente liefern immer noch die Kinder selbst (dass auch Wagenhofer dies begriffen hat, zeigt seine Biografie im Presseheft, die die Geburten seiner zwei Töchter betont – der Mann ist mehrfacher Vater, also Experte), angefangen mit dem kleinen chinesischen Mathetalent, dass völlig erschöpft im Schulbus mit dem Schlaf ringt, bis hin zu den glücklichen Kindern, die ihre Neugier und Kreativität ohne Zielvorgabe bei einem »Malspiel« ausleben können. Abermals ein konstruiertes Gegensatzpaar (diesmal aber von mir konstruiert). Prägnant der Aufsatz einer 16jährigen mit Sätzen wie »Was haben unsere Eltern davon, dass wir ihre Rente in 30 Jahren sichern, aber dafür jetzt schon kaputt sind?«, abschreckend dagegen folgendes Statement eines Karrieremenschen (die mit Schlipsen und Flipcharts charakterisiert werden): »Meine Kinder habe ich geplant wie meine Projekte, denn anders geht das sowieso nicht.« Alphabet arbeitet, wie sich das für Propaganda gehört, mit emotionalen Mitteln, stellt eine restriktive Systemwelt einer heilen Welt des Kinderglücks gegenüber (»man kann jemanden nicht zwingen, sich zu bilden, man kann ihn nur einladen«), wobei der cleverste Schachzug des Films (und das ist jetzt durchaus bewundernd gemeint) ist, wie er gegen Ende zwei zunächst unabhängig wirkende Handlungsstränge zusammenführt, und dabei eben selbst nicht mehr wie eine Power-Point-Präsentation wirkt, sondern Kreativität einbringt. Leider wirkt der Film in der Vermittlung seiner Inhalte oft nämlich selbst zu restriktiv.
Mein Lieblingsmoment des Films war ein durchaus wissenschaftlich fundiert wirkendes Experiment mit Kleinkindern, die schon früh »lernen«, ihre »Ellenbogen« einzusetzen, zum »Bully« zu werden, und ganz unabhängig davon, dass der Film keine Lösung bietet, wie man dies ändern kann, war dies ein Aha-Moment, für den sich der Besuch des Films durchaus lohnt. Was Alphabet seinen Zuschauern beibringt, ist es, auch mal die Möglichkeiten außerhalb des Systems wahrzunehmen. Doch man konstruiert daraus gleich eine Utopie, die in Gegensatz zum verhassten »System« kaum mal in Frage gestellt wird.
Deutschland 2013, Buch: Katharina Kress, Lit. Vorlage: Alina Bronsky, Kamera: Mathias Schöningh, Schnitt: Inge Schneider, Musik: Ali Askin, mit Jasna Fritzi Bauer (Sascha), Ulrich Noethen (Volker Trebur), Max Hegewald (Felix Trebur), Vladimir Burlakov (Peter), Jana Lissovskaja (Mascha), Cedric Koch (Anton), Lara Siebertz (Alissa), Maria Dragus (Anna), Konstantin Frolov (Igor), Yung Ngo (Kevin), Michael Keseroglu (Murat), 94 Min., Kinostart: 21. November 2013
Der Einstieg als Voice-Over wirkt noch literarisch (Romanvorlage: Alina Bronsky). Manchmal glaubt die Teenagerin Sascha (Jasna Fritzi Bauer), sie sei »die einzige in unserem Viertel, die noch Träume hat«. In Saschas Fall sind diese Träume an sich aber ernüchternd: Sie will ihren Stiefvater töten und ein Buch über ihre Mutter schreiben, geplanter Titel: »Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte«.
Die Handlung des Films gerät ins Rollen, als Sascha in der »Süddeutschen Rundschau« einen offenbar schlampig recherchierten Artikel findet, in dem jener Stiefvater, der Saschas Mutter tötete und dafür im Knast sitzt, als aufstrebender Künstler dargestellt wird. Abgesehen davon, dass diese Darstellung der Dinge Sascha verständlicherweise gegen den Strich geht, wird die »schlampige Recherche« einfach so behauptet, der Zeitungsmokel (Ulrich Noethen), der die verantwortliche Praktikantin zunächst noch schützt, hat aber dem Zuschauer gegenüber den Vorteil, dass er sofort begreift, dass Sascha durch diesen Artikel Unrecht getan wurde, und so will er bei der Wiedergutmachung helfen, was für die Handlung des Films unabdingbar ist, denn nun landet Sascha, ähnlich wie einst das Sams, in Noethens Haus, und weil das Sams diesmal ein taffes, fast erwachsenes Mädchen ist, hat sie nicht nur recht schnell Sex mit Felix (Max Hegewald) dem durch einen angeborenen Lungenschaden etwas fragilen Sohn des »Ressortleiters«, sondern auch zwischen ihr und dem älteren Herren knistert es etwas, womit wir ein klassisches Dreieck hätten.
Laut Presseheft zeichnen sich Film und Romanvorlage durch Authentizität und Klischeefreiheit aus, eine Lobhudelei, die leider vom echten Zustand des Films weit entfernt ist, auch die Auszeichnung mit dem Max-Ophüls-Preis für das beste Drehbuch zeugt eher von einem Bedürfnis, den jungen deutschen Film zu stützen – auch, wenn in dieser Saison der Output vermutlich etwas unterdurchschnittlich war. Saschas Mutter war eine »russische Kunstjournalistin«, sie selbst ist voller literarischer Ambitionen, einzig ihr Background (die verwaiste Kleinfamilie lebt jetzt bei einer Cousine des Stiefvaters / Mörders) und die Umgebung (eben jenes Viertel nahe des suggestiven »Scherbenparks« scheinen der verwirrten jungen Frau jetzt im Weg zu stehen ... aus meiner Sicht trieft diese Geschichte nur von Klischees. Der »Ressortleiter« und sein »Passivhaus« wirken für mich wie hingeworfene Eckpunkte in einem vermeintlich anspruchsvollen Sozialmärchen, Sascha als Identifikationsfigur wirkt zwar etwas besser durchdacht als die zahlreichen Nebenfiguren, zwischen denen sie umhertreibt, doch sämtliche Konflikte der Geschichte kann man in anderthalb Sätzen zusammenfassen. Sascha kämpft für ihren Bruder gegen die gleichaltrigen Jugendlichen im Park, sie sperrt sich gegen das Liebesbedürfnis ihrer Ersatzmutter, sie landet bei einer Vaterfigur, die der Idealisierung ihrer Mutter nachempfunden ist, die zögerliche Beziehung zu Felix repräsentiert auch ihre Zerrissenheit zwischen Eigenständigkeit und der zu früh aufgezwungenen Mutterrolle. Man erkennt viele gute Ansätze, aber das Ganze funktioniert weder hinten noch vorne. Besonders schlimm ist hierbei die Figur der »besten Freundin« Anna, die allzu deutlich zeigt, dass Sascha ein Hoffnungsträger, »etwas besseres« ist, eben die »kluge älteste Tochter« ist, während die Schulfreundin reichlich wahllos mit den gleichaltrigen im Park anbändelt, um – Luft holen – möglichst schnell schwanger zu werden, damit sie nicht mehr zur Schule gehen muss (»Ich brauch' kein Mathe mehr. Ich hab' die ganze Nacht gekotzt!«). Solche Figuren findet man sonst eher in Komödien, und nur, weil es vermutlich tatsächlich verwirrte Pubertierende gibt, die solch unlogische Schlüsse ziehen, würde ich das nicht gerade »Authentizität« nennen.
Die Untiefen der Figur Sascha stehen in keinem Verhältnis zur doch eher holzschnittartig zusammengewürfelten Schar der Nebenfiguren, die sie positionieren sollen. Das mag im Roman aufgrund des autobiographischen Hintergrunds gelungen sein, im Film wirken die meisten Nebenfiguren unausgegoren, und darunter leidet dann auch die Hauptfigur.
Gerade Jungregisseurin Bettina Blümner, die man vom Dokumentarfilm Prinzessinnenbad kennt, dürfte im Roman und in der Figur Sascha Aspekte der real beobachteten »Heldinnen« ihres Debütwerks wiedererkannt haben, doch es gelingt ihr nicht, diese gegebene Authentizität auch auf ihren Spielfilm zu übertragen. Und so zeigt Scherbenpark zwar viele gute Ansätze (etwa die junge Hauptdarstellerin, die schon in Christian Petzolds Barbara positiv auffiel oder die manchmal gelungene Komik des Drehbuchs), bleibt aber doch nur ein hübscher Scherbenhaufen.
Originaltitel: Arme riddere, Norwegen 2011, Buch: Magnus Mertens, Lit. Vorlage: Jo Nesbø, Kamera: Trond Høines, Schnitt: Jon Endre Mørk, Musik: Magnus Beite, Production Design: Lina Nordqvist, mit Kyrre Hellum (Oscar Svendson), Mads Ousdal (Thor Eggen), Henrik Mestad (Solør), Arthur Berning (Billy Utomjordet), Andreas Cappelen (Dan Treschow), Lena Kristin Ellingsen (Trine), Fridtjov Såheim (Gjedde), Peter Andersson (Lasse), Jan Grønli (Clausen), Marie Blokhus (Gina), Anne Marie Ottersen (Thors Mutter), Fredrik Petersson (Gøran), 90 Min., Kinostart: 14. November 2013
Nach Hodejegerne (Headhunters) habe ich mir den Autor der Romanvorlage, Jo Nesbø, zunächst wohlwollend gemerkt. Die absurd komische Geschichte, die mich manchmal an die Coen-Brüder erinnerte, hatte auch die Unerbittlichkeit des Unbekannten, eine Charaktereigenschaft, die in dieser »neuen« (beide Filme stammen aus dem Jahr 2011, da ist nicht neues dran) Nesbø-Verfilmung (kein Roman, nur die Story-Vorlage und die Mitarbeit am Drehbuch) leider fehlt.
Es beginnt mit einem Blutbad (acht Leichen) in einem Erotikshop mit Showroom namens »Pink Heaven«. Von da aus erfolgt dann die polizeiliche Befragung des Überlebenden namens Oscar Svendson, den man mit einer Schrotflinte unter einer korpulenten Dame fand, und der Hauptverdächtige / Zeuge erzählt dann die Geschichte, in der es (beim Titel »Jackpot« nicht überraschend) um eine Menge Geld geht. Oscar (Kyrre Hellum) geriet nicht komplett freiwillig in eine Tippgemeinschaft mit einigen schweren Jungen, mit denen er gemeinsam in einer heruntergekommenen Fabrik Plastikweihnachtsbäume zusammenschraubt, und als man dann tatsächlich 1,7 Millionen gewann, schien das Hauptproblem darin zu bestehen, dass man den krummen Betrag nur schwer durch vier teilen kann. Spätestens, wenn Oscar auf einem Flipchart folgenden Rechnungsansatz erblickt
Wie Hodejegerne erinnert auch Arme riddere an die Coen-Brüder (das Presseheft wirft leieber mit dem Begriff »tarantinoesk« um sich), nur leider nicht in positiver Weise. Wie in Fargo gibt es hier ein Schreddergerät, das bei der Beseitigung bestimmter Beweismittel behilflich ist und dabei Dinge, die normalerweise schneeweiß sind, eher rosa bis blutrot färbt. Natürlich geht es auch hier um eine halbwegs normale Figur, die in Kreise gerät, denen sie nicht gewachsen ist (vgl. neben Fargo auch No Country for Old Men), doch weder ist die Geschichte besonders spannend, noch interessiert man sich als Zuschauer für die Figuren, die ähnlich wie in Burn After Reading, einem der schlechtesten Coen-Filme, allesamt unsympathisch sind. Und hier nicht einmal besonders witzig anzuschauen. Der Witz des Films erschöpft sich darin, dass man mit unterschiedlichsten »Werkzeugen« (Hammer, Beil, Motorsäge etc.) die Filmwelt zunehmend rot färbt, und wenn man dann unter einer dicken toten Frau liegend von der Polizei aufgegabelt wird, hat man noch besonders viel Glück gehabt. Das skandinavische Kino hat ja ein Faible für schwarze Komödien, doch wenn das (reichliche) Blutvergießen bereits das Witzigste am Film ist (mit Ausnahme der Flipchart-Rechnung oben), und man den Spannungsmoment durch die Handlungsstruktur selbst sabotiert, dann hat man ein nicht zu übersehendes Problem. Auch der Koffer voll Geld, der bei den Coens meistens achtlos am Wegesrand stehen bleibt, wird hier natürlich für ein reichlich beklopptes und trotz aller irren Wendungen sehr vorhersehbares Happy-End missbraucht. Um sich bei mir wieder gut Freund zu machen, muss Jo Nesbø sich bei etwaigen folgenden Filmen schon reichlich anstrengen, aktuell wirkt es so, als beherrsche er nur einen Trick, und den nicht mal besonders gut.
USA 2013, Buch: Brian Koppelman, David Levien, Kamera: Mauro Fiore, Schnitt: Jeff McEvoy, Musik: Christophe Beck, Production Design: Charisse Cardenas, mit Justin Timberlake (Richie Furst), Ben Affleck (Ivan Block), Gemma Arterton (Rebecca Shafran), Anthony Mackie (Agent Shavers), Michael Esper (Billy »Pet« Petricoff), Oliver Cooper (Andrew Cronin), Christian George (Wilson), John Heard (Harry Furst), Yul Vazquez (Delegate Herrera), James Molina (Esteban), Bob Gunton (Dean Alex Monroe), 91 Min., Kinostart: 17. Oktober 2013
Richie Furst (Justin Timberlake), ein Mathestudent in Princeton, verdient sich etwas nebenbei mit Machenschaften, die dem Tatbestand der Buchmacherei nicht ganz erfüllen. Sein Dekan ist trotzdem aufgebracht und droht mit der Exmatrikulation (»Illegal gambling is forbidden on campus, bookmaking is forbidden on campus, and if you don't change your tune, you will be forbidden, too!«), weshalb Richie mit einer längeren Online-Poker-Session seinen Kontostand aufbessern will. Doch dieser Notfallplan läuft schief und Richie hat Beweise, dass man ihn dabei übers Ohr gehauen hat. Er fährt daraufhin (einiges am Drehbuch überzeugt nicht eben durch stringente Logik) nach Costa Rica, um dem nicht ganz koscheren Multimillionär hinter einem Online-Poker-Imperium, Ivan Block (Ben Affleck), persönlich gegenüberzutreten. Richie ist sich sicher, dass Block die Info, dass unter seinem Namen betrogen wird, zu schätzen wissen wird, denn sein guter Ruf könnte ja dadurch in Mitleidenschaft geraten. Richies hanebüchener Plan scheint tatsächlich zu klappen, Block bietet ihm sogar einen Job an, bei dem aber schnell klar wird, dass Block auf Costa Rica Politik und Polizei besticht. Und ein FBI-Agent ist Richie außerdem auf der Spur, er bietet ihm einen Deal an, wenn er bei Block undercover arbeitet. Damit das ganze noch etwas spannender wird, fängt Richie außerdem etwas mit der rechten Hand Blocks an (Gemma Arterton als Rebecca), wobei diese – wie eigentlich alle Figuren – womöglich auch eigene Interessen verfolgt oder vielleicht direkt in Blocks Auftrag auf Richies Avancen angeht (»part of my job is getting close to the people who get close to my employer«).
Soweit hört sich das Ganze noch ganz spannend an, verführt mit hübschen Menschen in teuren Kulissen und bietet einen Einblick in die Hintergründe einer aktuell vielbeachteten Szene.
Leider hat der Film aber so gut wie keine eigene Idee, und die Spannungsdramaturgie ist auch eher auf RTL-Niveau. Wenn Ben Affleck als Ivan seinen jungen Protegé auf eine Yacht einlädt, trägt er schwarze Handschuhe und nimmt mit einem gefährlich aussehenden Messer Fische aus. Das ist etwa so ambivalent wie ein Auftritt von Cruella de Vil oder Montgomery Burns. Wenn man Affleck und Timberlake dann beisammen sieht, drängt es sich quasi auf, an Michael Douglas und Charlie Sheen in Wall Street zu denken. Und in der Tat, das fadenscheinige Geschäft mit dem Online-Poker ist offensichtlich nur der nächste evolutionäre Schritt nach dem Bankencrash. Wem diese Offenbarung bereits ausreicht, in Runner Runner eine sozial relevante Message zu erkennen, der wird aber auch schnell begreifen, dass dies ebensosehr ein Oberflächenreiz ist wie die Anzüge und Autos, kurzum die ganze reiche Kulisse des Films. Da Online-Poker natürlich auch die virtuelle Neufassung der Las-Vegas-Mafia bedeutet, lässt man nebenbei Namen und Fachbegriffe wie Meyer-Lansky oder den »Ponzi Slip«. Und in Sachen filmischer Erzählweise erinnert man an Traffic oder übernimmt komplette Montagesequenzen aus Casino. Das Nonplusultra an Gefährlichkeit ist schließlich die nächtliche Fütterung von Krokodilen mit Geflügel, was man später auch (in der inszenatorisch dilletantischsten Szene des Films) zur Motivation bei »Geschäftsgesprächen« nutzt.
Richie muss sich einerseits entscheiden, ob er (entsprechend seines Namens) »rich« oder »super rich« werden will, und die Spannung des Films beschränkt sich vor allem darauf, ob Richie von mittelamerikanischen Gangstern erschossen werden wird, ob Block ihn an die Krokodile verfüttert oder ob er »nur« im Gefängnis landet. Und nebenbei muss er dann noch das Leben von Rebecca und vor allem von seinem natürlich auch durch Spielsucht abgerutschten Vater retten. Wobei das Handlungskonstrukt schließlich ähnlich aufgebaut ist wie bei The Sting oder David Mamets House of Games: Wer trickst hier am Ende wen aus, wer blufft, wer passt rechtzeitig und wer geht »all-in«? Wie langweilig, uninspiriert und altbacken ein Film mit einer solchen Geschichte ausfallen kann, ist schon fast eine Leistung, Regisseur Brad Furmans letzter Film, The Lincoln Lawyer, war verglichen hiermit ein Achter-Drilling gegen einen Herzkönig als höchste Karte.
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