Drei Berlinale-Filme 2018:
Damsel, Transit & Kim Ki-duk
Normalerweise sind meine Berlinalebeiträge immer zu Einzelfilmen, aber 2018 war für mich das Jahr der Themen. Bevor ich darauf im Detail eingehe, hier der Hinweis, dass es hierbei vor allem um Handlungsthemen geht - und das bedeutet, dass ich mehr an »Spoilern« heraushaue als sonst. Das betrifft Transit am geringsten (sondern geht im Grunde fast am Film vorbei), aber sowohl Damsel (dem man bei Verheimlichung einer wichtigen Entwicklung ohnehin kaum gerecht werden kann) und Kim Ki-duks Inkan, gongkan, sikan grigo inkan (der so handlungsintensiv ist, dass stilistische Kriterien bei der Vermittlung des Plots kaum eine Rolle spielen). Wer also (es ist unwahrscheinlich, aber ich bringe es mal ins Spiel) in nächster Zeit beabsichtigt, einen dieser Filme zu sehen, sollte dies evtl. vor der Lektüre dieses Textes tun. Soweit die Warnung.
Ich sah die drei Filme im Verlauf von etwas über 24 Stunden, als erstes war Damsel dran, der eigentlich die Grundsituation bestimmte (und auch zum Hauptthema des Films erkor), die ich in den anderen Filmen nur wieder erkannte.
Damsel
(David & Nathan Zellner, Wettbewerb)
USA 2017, Buch: Nathan & David Zellner, Kamera: Adam Stone, Schnitt: Melba Robichaux, Musik: The Octopus Project, Kostüme: Terry Anderson, Production Design: Scott Kuzio, mit Robert Pattinson (Samuel Alabaster), Mia Wasikowska (Penelope), David Zellner (Parson Henry), Nathan Zellner (Rufus Cornell), Robert Forster (Old Preacher), Joe Billingiere (Zachariah Running Bear), David Wingo (Barrel of Laughs), Gabe Casdorph (Anton Cornell), Luana Zellner (Bell Madien), Ronald Zellner (Photographer), Daisy (Butterscotch), 113 Min.
Den englischsprachigen Titel Damsel kann man laut Langenscheidt mit »junges Mädchen« übersetzen, man benutzt dieses Wort aber fast ausschließlich in Anspielung auf den Begriff »damsel in distress«, auf Deutsch etwa »Jungfrau in Not«, der von den Epen von Homer über Middle Englisch Romances und Märchen bis hin zu etwas einfallslosen heutigen Beispielen immer wieder in Narrativen mit männlichen Helden benutzt wurde, die sich zwischen ihren Abenteuern (oder gern auch als krönenden Abschluss) die Treue einer liebenden Gefährtin verdienten, indem sie diese aus einer misslichen Lage befreiten. Die nahezu immer alleinstehenden jungen Damen waren entführt worden (gerne auch von Drachen) und warteten brav darauf, befreit zu werden und warfen sich dann dankbar in die Umarmung ihres Helden.
Als Sahnehäubchen auf eine Heldengeschichte ist das ja fast noch zu ertragen, aber gerade in Märchen ist es so, dass die Kerle eigentlich bis zum letzten Drittel der Geschichte kaum eine Rolle spielten. Entsprechend des Disney-Songs Someday my Prince will come sitzt man als braves Frollein so in einem Turm fest (Rapunzel) oder führt einen langen Schlaf (währenddessen man übrigens nicht altert), bis man (zumindest in der Disney-Version) wachgeküsst wird (Schneewittchen, Dornröschen). Dass es mal Gretel ist, die Hänsel befreit, oder eine Prinzessin, die den Froschkönig von seinem Fluch befreit, ist eher die Ausnahme. Wichtig ist vor allem, dass es immer (außer bei Hänsel und Gretel) mit einer glücklichen Heirat à la »und wenn sie nicht gestorben sind« endet. Und weil der knight in shining armour dann meist auch noch königlichen Geblüts war, ist auch die Haushaltsfrage zum Schluss geklärt.
Für ihren Western Damsel waren die Zellner-Brüder (Kid-Thing, Kumiko, the Treasure Hunter) nicht daran interessiert, eine solche, eher passive Frauenfigur, einzusetzen. In der Pressekonferenz und im Presseheft tun sie so, als sei dies im klassischen Western eine Art Standard gewesen, was aber einer Prüfung meines Western-Wissens (und des meines besten Freundes Christian) nicht wirklich standhält. Das Rettungsszenario gibt es eher selten, und auch von den passiven Frauenfiguren kam man sehr schnell ab (Western aus den 20ern und 30ern kenne ich nicht so viele, aber selbst bei Stagecoach geht es ja nicht um eine zu rettende Jungfrau, sondern um eine durchaus ausdefinierte »Frau mit Vergangenheit«). In High Noon ist zwar Grace Kelly die blonde Idealfrau zum Heiraten, aber wenn sie nicht einen der Bösewichte gegen ihre moralischen Grundregeln als Quäkerin von hinten erschossen hätte, hätte Gary Cooper sie nicht aus den Fängen von Frank Miller retten brauchen. In The Searchers geht es zwar in der Grundkonstellation darum, dass eine entführte Frau gefunden werden soll, aber da läuft die Geschichte auch ganz anders ab, in Forty Guns kommt das Ganze noch halbwegs hin, aber Barbara Stanwyck ist auch eine viel zu starke Frauenfigur, bei True Grit gibt es zwar die Rettung aus der Schlangengrube, aber die außerdem ein bisschen sehr junge Frau ist ja eigentlich die Auftraggeberin, die selbst auf einem Rachezug ist, und wenn Horst Buchholz in The Magnificent Seven die Dorfschönheit rettet, passiert das auch nur mehr en passent. River of no Return war noch der Western, in dem wir die uralte Konstellation am ehesten wiedererkennen konnten, aber selbst da entspricht Marilyn Monroe nicht wirklich diesem schwachen Frauentyp.
Ungeachtet der hübsch für die Presse zurechtgemachten Erklärung, die bei genauer Betrachtung nicht so richtig funzt, erkennt man aber in Damsel, dass das Prinzip der »damsel in distress« zunächst für die Prämisse benutzt wird.
© Strophic Productions Limited
Samuel Alabaster (Robert Pattinson), ein Greenhorn, wie er im Buche steht (erste von vielen Brechungen), will seine Verlobte Penelope (Mia Wasikowska) retten, die vom bösen Anton Cornell entführt wurde. Als Unterstützung nimmt er noch einen (sehr dem Alkohol zusprechenden) Geistlichen (David Zellner als »Parson Henry«) mit, und vor dem Überfall auf eine Hütte, in der man Anton erwartet, legt Samuel dem Pastor noch genau dar, wie und an welcher Stelle er dazukommen soll, um den ruhmreichen Helden und seine große Liebe zu ehelichen.
Dass die nochfolgende Szene nicht verläuft, wie Samuel sich das gedacht hat, ist dem Zuschauer eigentlich ziemlich klar - wie sehr sie seine Pläne unterläuft, ist dann aber durchaus überraschend, und ein bestimmtes Bild, das sich hier offenbaren wird, gehört für mich zu den größten Eindrücken der gesamten Berlinale. Man soll nie annehmen, man hätte schon alles mal gesehen.
Bevor ich, zumindest etwas schwammig, zum weiteren Verlauf der Geschichte komme, noch zwei Details von zuvor. Erstens: Als Hochzeitsgeschenk für Samuel ein Zwergpony namens Butterscotch mit, das er extra für seine Penelope besorgt hat (aus welchen Gründen dieses Geschenk wichtiger war als die sofortige Befreiung, wird nie erklärt). Butterscotch entspricht dem Bild der wehrlosen, zu beschützenden »damsel« übrigens weitaus stärker als Penelope. Zweitens: Abgesehen von einem hübschen Prolog mit Robert Forster beginnt der Film mit Bildern des glücklichen Paares Samuel und Penelope, die tanzend mit anderen zusammen feiern. Ob dies die Rückblende zur Verlobung oder das vorweggenommene Happy End, zu dem man sich noch hinarbeiten muss, sein sollte, war eine der Fragen, die mich im ersten Drittel des Films immer wieder beschäftigte. Heutzutage darf man ja längst nicht mehr von einer chronologischen Erzählweise ausgehen.
© Strophic Productions Limited
Zurück zu Samuels Hochzeitsplänen: Offenbar hatte sich Penelope durchaus für Anton entschieden und ist reichlich aufgebracht über seine Rettungspläne, die zu allerlei Verdruss führen. Im weiteren Verlauf des Films gibt es mindestens vier Männer, die allesamt der Meinung sind, Penelope müsse »gerettet« werden oder sie bedarf zumindest des »Schutzes« durch einen Ehemann oder männlichen Begleiter.
Hey, are you alright, m'am?
I had it under control. I don't need anybody's saving!
Dass sie dabei durchaus ansehnlich / begehrenswert ist und es sich bei allen ihren »Interessenten« nicht unbedingt um Strahlemänner handelt, denen (wie Robert Pattinson im realen Leben) unzählige willige Frauen die Türen einzulaufen drohen, ist im Film überdeutlich. Und die vermeintliche »Damsel« ist in der Westernkomödie eigentlich mehr damit beschäftigt, sich die vermeintlichen »Retter« vom Hals zu halten. Unter anderem, indem sie eine Halskrause aus Dynamit für einen suspekten Begleiter fertigt oder bei der nächtlichen Lagerfeuer-Schlafstätte ganz konkret eine Linie in den Sand ritzt.
This is my personal boundary. Any of you try anything off kilter and you will regret it.
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Inkan, gongkan, sikan grigo inkan /
Human, Space, Time and Human
(Kim Ki-duk, Panorama)
Südkorea 2018, Buch, Schnitt: Kim Ki-duk, Kamera: Lee Jeong-in, Musik: Park In-young, Production Design: Kim Young-tak, mit Mina Fujii (Eve), Jang Keun-suk (Adam), Ahn Sung-ki (The Old Man), Lee Sung-jae (Prominent Politician), Ryu Seung-bum (Gangster Boss), Sung Ki-youn (Captain), Joe Odagiri (Eve's Boyfriend), 122 Min.
Als nächstes wurde der Kim Ki-duk gesichtet. Hier geht es um etwa hundert Personen, die auf einem alten Kriegsschiff unterwegs sind. Zu ihnen gehören ein junges japanisches Paar auf den Flitterwochen (alle anderen Handelnden sind Koreaner), ein weiteres Paar, ein prominenter Senator mit seinem Sohn, einige Gangstertypen, die dem Senator ihr Geleit antragen, einige nicht sehr vertrauenswürdige Hütchenspieler, eine weitere, aus Halbstarken bestehende Männergruppe, ein Trio von Prostituierten, der Kapitän und seine Getreuen und ein alter Mann, der damit beschäftigt ist, zu beobachten und sorgsam Dreck vom Deck mit einer kleinen Bürste aufzukehren und in einem alten Papp-Kaffeebecher zu sammeln (die anderen ca. 70 Personen kommen nur selten über den Statistenstatus hinaus, sie scheinen aber allesamt im mittleren Alter, keine Kinder oder auffällige Senioren).
Die Kreisstruktur im Titel des Films hatte Kim schon in seinem Film Bom yeorum gaeul gyeouol geurigo bom (dt.: Frühling, Sommer, Herbst, Winter ... und Frühling) benutzt. Da weiß man quasi gleich, dass es um irgendwelche wichtige Themen gehen muss. In diesem Fall kommt man recht schnell auf die Idee, dass der alte Mann, der irgendwo im Bauch des Schiffes kleine Pflänzchen behütet, die später noch wichtig werden, so etwas wie eine (christliche) Gott-Figur abgibt.
© Kim Ki-duk Film
Er beobachtet im ersten Viertel des Films, wie die Prostituierten ihres Geschäfts nachgehen, während die anderen zwei Frauen mit Sprechrollen mehrfach vergewaltigt werden. Der Japaner, der am ehesten noch so etwas wie Zivilcourage zeigte, wird indes getötet und über Bord geworfen. Der entsprechende koreanische Herr entscheidet sich dagegen, seine Gefährtin retten zu wollen, was nicht sehr nobel wirkt, aber seine Lebenserwartung deutlich steigert. Die Übeltäter bedanken sich sogar bei ihm, als sie mit seiner Frau fertig sind.
Der alte Mann sieht all dies, schreitet aber nicht ein. Erst als die Braut erkennt, dass sie nach den diversen Schändungen nun auch noch zur Witwe geworden ist und sie sich über die Reling stürzen will, hält sie der Alte davon ab und führt sie mit in den Bauch des Schiffs, wo er, wie sich später herausstellt, aus zwei ausgebrüteten Hühnereiern und ein paar Pflanzenkeimlingen eine Art Genesis im Kleinformat zu basteln trachtet.
Am nächsten Tag (nach einer Titeleinblendung »Human« zu Beginn folgt jetzt »Space«) stellen die Passagiere erstaunt fest, dass das Kriegsschiff nicht mehr auf dem Meer schippert, sondern zwischen den Wolken schwebt. Es ist sogar so, dass man von der Erde nichts mehr sehen kann (blauen Himmel und Wolken gibt es aber noch). Die Effekte des Films sind eher sparsam, das Schiff als Spielort bedarf keiner dauernden Wiederholung der veränderten Situation, man muss nur vermeiden, den Horizont zu sehen. Weshalb es im folgenden gar nicht mehr soo viele Szenen an Deck gibt, und einige davon sind auch noch offensichtlich künstlich beleuchtet, so dass es vermutlich einzelne Teile des Schiffs gibt, die im Studio nachgebaut wurden.
Im weiteren Verlauf des Films geht es jetzt darum, dass man nur noch Lebensmittel für sechs Tage habe, woraufhin sich à la Big Brother oder Get the f*ck out of my house eine Miniaturgesellschaft entwickelt, bei der der Senator und die Gangster eine größere Rolle spielen und es zu einem ziemlichen Blutbad kommt. Währenddessen arbeitet unser alter Mann mit seiner Gehilfin, von der man erst im Nachspann oder im Presseheft erfährt, dass sie auf den Namen Eve hört, an seinem kleinen Garten, für den er zusätzliche Erde findet, als er die zunehmend auftauchenden Kadaver zweckentfremdet (Eve muss auch lernen, wie man eine Leiche zerstückelt). Eve stellt in den nächsten Tagen (es sind definitiv mehr als sechs) fest, dass sie schwanger ist, was sie neben den langsam wachsenden Hühnern zur Hoffnung der Weiterentwicklung der Menschheit macht. Da sie in der letzten Nacht neben einem freiwilligen Schäferstündchen mit ihrem Mann vom Ober-Thug, dem Senator und schließlich auch dessen ansonsten eher sympathischen Sohn (Nachspann-Name: Adam) begattet wurde (bei Adam sah man im Gegensatz zu den anderen Vorfällen den Akt nicht, was übrigens die deutlichste Stelle des Films ist, wo die Handlung nicht einfach 1:1 abgebildet wird, wenn es nicht mit zusätzlichen Kosten verbunden ist), ist Eve sich nicht sicher, ob das Erbgut ihres zukünftigen Sohns hoffnungsverheißend ist.
© Kim Ki-duk Film
An dieser Stelle komme ich wieder zurück zu meinem Themenkomplex »Hilfsbereiter Nachfolger«. Dass Adam sich an der bewusstlosen Eve vergangen hat, weiß diese zunächst nicht (auch der vielleicht wichtigste Anwärter auf Penelope in Damsel verheimlicht ihr eine wichtige Tat, die ihn nicht in ihrem Ansehen steigen lassen würde). Aber auch der Senatorensohn, nach dem Tod des Bräutigams der vertretbarste Partner für Eve, wirbt um diese. In Cinemania 178, mit meinen ersten Berlinale-Kritiken dieses Jahres, sprach ich in diesem Zusammenhang gern über boy-friend material. Je nach Perspektive der Filme werden gern auch mal die Kerle idealisiert, wenn man auf der Suche nach einem Ernährer des ungeborenen Lebens sucht (Danmark, Unga Astrid, Fortuna) - aber dem Zuschauer wird es durchaus nahegelegt, dies kritisch zu sehen. Die männliche Helden-Perspektive, die mein Titel »Hilfsbereite Nachfolger« am ehesten nahe legt (auch, wenn ich das ganz böse ironisch meinte), ist inzwischen die absolute Ausnahme. Selbst beim netten Witwer in The Bookshop oder dem Taubenpapa in Güverçin wird so eine Figur immer irgendwie ironisch gebrochen oder problematisiert.
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Transit
(Christian Petzold, Wettbewerb)
Deutschland / Frankreich 2018, Buch: Christian Petzold, Lit. Vorlage: Anna Seghers, Kamera: Hans Fromm, Schnitt: Bettina Böhler, Musik: Stefan Will, Kostüme: Katharina Ost, Production Design: Kade Gruber, mit Franz Rogowski (Georg), Paula Beer (Marie), Godehard Giese (Richard), Lilien Batman (Driss), Maryam Zaree (Melissa), Barbara Auer (Architektin), Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Emilie de Preissac, Antoine Oppenheim, Justus von Dohnányi, 101 Min., Kinostart: 5. April 2018
Umso mehr hat es mich gewundert, als ich in Christian Petzolds Transit, der sich eigentlich um ganz andere Themen dreht, dieselbe Konstellation wiedergefunden zu haben. Lupenreine Helden gibt es bei Petzold meines Wissens nie, »Frauen mit Vergangenheit« und Männer mit verheimlichten Geheimnissen (Wolfsburg) gibt es beim zu Paarkonstellationen neigenden deutschen Vorzeigeregisseur immer mal wieder. In diesem Fall wird die Konstellation der »Frau mit Vergangenheit« (ich meine das keineswegs abwertend, auch wenn die Patriarchat ja gerne die Unberührtheit einer Frau zum Ideal stilisiert, während die Kerle scheinbar erst durch Erfahrung zu echten Männern werden - gerade im Film ist die Frau mit Vergangenheit tausendmal interessanter als das unberührte Prinzesschen) und die Ersatzrolle als Vater und Ernährer (Penelope behauptet in Damsel auch mal, sie sei schwanger) aber gesplittet.
© Schramm Film / Christian Schulz
Georg (Franz Rogowski) bemüht sich sowohl um Marie (Paula Beer), der er sein Wissen um den Tod ihres Mannes vorenthält, als auch um den kleinen Driss (Lilien Batman), mit dem er nicht nur Fußball spielt, sondern mit dem er hier und da die selben Wege abgeht wie mit Marie. Wenn Georg so ein Träumer wäre wie Samuel Alabaster, würde er es vermutlich irgendwie hinzubiegen versuchen, mit Marie und Driss eine kleine Familie zu bilden (und leider gibt es durchaus Filme, die auf diese Art enden, egal wie idiotisch man das Drehbuch in diese Richtung drehen muss).
© Schramm Film / Christian Schulz
Die Mutter von Driss, Melissa (Maryam Zaree), die in diesem auf zwei Zeitebenen spielenden Film durchaus für die aktuelle Flüchtlingssituation steht, ist durchaus schutzbedürftig (wie auch jene anlehnungsbedürftige Architektin, der Georg den Schutz letztlich versagt), und ähnlich wie in den anderen beiden Filmen und im Fall Marie ist Georg am Tod des Kindvaters vielleicht nicht schuldig, aber seine Rolle dabei hält auch er zurück. Und Petzold (und Rogowski) gelingt es dabei irgendwie dennoch, diese Figur am heldenhaftesten von den dreien darzustellen. Zwar ein tragischer Held, aber das könnte man von Adam und Samuel auch behaupten, ein klassisches Happy End ist in allen drei Fällen einfach nicht drin.
Normalerweise müsste ich beim Inhalt von Transit weitaus tiefer gehen, dieses Textfragment ist für Uneingeweihte nicht sehr erleuchtend, aber ich habe dazu noch eine Auftragskritik zu schreiben, und bei der aktuellen Arbeitslast sind zweifache Kritiken einfach nicht drin. Lest im April das neue Applaus (Kulturmagazin aus München), da findet ihr dann den Text, den ihr hier vermutlich vermisst.
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Nur noch einen Absatz zu Damsel will ich zum Schluss loswerden. Von den vermeintlichen Hochzeitsbildern von Samuel und Penelope zu Beginn gibt es eine Überblendung zu ihrem schwarzweißen Portrait, das dann quasi von Wellen überspült wird, ehe man zeigt, wie Samuel mit einem Ruderboot mit einer großen Kiste an Land geht. Fast wie aus einer aktuellen Amazon-Werbung, nur dass Penelope ganz sicher keine Bestellung aufgegeben hat. Diese Szene findet am Schluss ihre Spiegelung, die mir sehr gefallen hat. Das macht die ganze Geschichte irgendwie irreal (welches Gewässer wird hier überwunden?) und erinnerte mich sehr an die Szene aus Streets of Fire (Walter Hill, 1983), wo der Held quasi direkt aus der Schreibmaschine zu kommen scheint. Es ist zu lange her, dass sich den Film sah (ein Klassiker meiner Jugend), aber dieser Neon-Rock'n'Roll-Großstadt-Western könnte eine wichtige Inspiration der Zellner-Brüder gewesen sein.
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Dieser Text hat weder eine Aufgabenstellung gehabt noch ein Ziel erreicht (im Fall von Transit hat er sich sogar verweigert), aber ich wollte diese Gedanken einfach mal loswerden. Das wiederkehrende, unterschiedlich stark oder gering problematisierte Grundgerüst war mir zuvor nie so deutlich aufgefallen (in der Glotze lief zwischendurch auch noch mal Drive). Für mich war wichtig, daraus keinen #MeToo-Aufreißer machen zu müssen, oder einer Chronistenpflicht als Rezensent zu entsprechen. Dass ich das hin und wieder bei satt.org einfach mal machen kann, macht meine größtenteils brotlose Kunst als Journalist um so vieles erträglicher. Wer es interessant fand, darf jetzt gerne auch mal den Like-Button drücken!