Ein Leben
(Stéphane Brizé)
Originaltitel: Une vie, Frankreich / Belgien 2016, Buch: Stéphane Brizé, Florence Vignon, Lit. Vorlage: Guy de Maupassant, Kamera: Antoine Héberlé, Schnitt: Anne Klotz, Musik: Olivier Baumont, Kostüme. Madeline Fontaine, Ausstattung: Valérie Saradjian, mit Judith Chemla (Jeanne), Jean-Pierre Darroussin (Baron), Yolande Moreau (Baronin), Swann Arlaud (Julien), Nina Meurisse (Rosalie), Picot Olivier Perrier (Abt), Clotilde Hesme (Gilberte de Fourville), Alain Beigel (Georges de Fourvielle), Finnegan Oldfield (Paul, 20), Ludivine Lucette Beudin (Magd), Jérôme Lanne (Arzt), Mélie Deneuve (Kindermädchen), 119 Min., Kinostart: 24. Mai 2018
Leider fehlt mir die Zeit, bei jeder Literaturverfilmung die entsprechende Vorlage schnell zu lesen, aber in diesem Fall ist der Film auch ohne Kenntnis des Debütromans von Guy de Maupassant (1850-1993) äußerst interessant, weil die Erzählart sowohl einiges vom Zuschauer fordert, aber gleichzeitig auch an alte literarische Konventionen den 19. Jahrhunderts erinnert (als Anglist muss ich dabei vor allem an Wuthering Heights denken, wo ja die leidenschaftliche Geschichte fast in Personalunion mit metaphorisch dazu passenden Witterungsverhältnissen übereingeht).
Der Film erzählt das Leben der zunächst jungen und unerfahrenen Jeanne (Judith Chemla aus Camille redouble und Ce sentiment de l'été). Als erstes erleben wir sie in inniger Vertrautheit mit ihren Eltern. Im lauen Sommerlüftchen spielt sie Backgammon mit der Baronin Adélaïde (Yolande Moreau aus Le fabuleux destin d'Amélie Poulain) oder lässt sich vom Vater (Vorname: Simon-Jacques) in die Feinheiten der Gartenarbeit einführen. Den Baron spielt Jean-Pierre Darroussin, bekannt aus unterschiedlichsten Filmen wie Kaurismäkis Le Havre, Resnais' On connaît la chanson, Cedric Kahns Feux rouges oder, was ich irgendwie ganz bemerkenswert finde, Un long dimanche de fiançailles, den Jean-Pierre Jeunet bekanntlich im Anschluss an Amélie drehte - als hätten sich »Mama und Papa« kennengelernt, als sie sich die Klinke in die Hand drückten.
© 2018 Film Kino Text
Die sommerliche Atmosphäre unterstützt (neben dem Schauspiel, wenn sie etwa das Gesicht wie ein Kind verzieht) auch das Bestreben, Jeanne besonders jung erscheinen zu lassen (Judith Chemla ist über 30, Jeanne bei Maupassant anfänglich noch minderjährig). Was hier erstaunlich gut klappt.
Jetzt setzt die Voice-Over-Erzählerstimme der deutlich weiser klingenden Jeanne ein, was zunächst sehr konventionell umgesetzt wirkt. Doch schon etwas später streuen Regie und Schnitt wie nebenbei Bilder von Jeanne ein, die (abermals unterstützt durch das Wetter und eine eher ungastliche Jahreszeit) suggerieren, dass man hier Einblicke in eine spätere Zeitebene gewahren, von der aus Jeanne reflexive Blicke in ihre Jugend wirft. Eine sehr elegante Art und Weise, die Erzählsituation visuell und assoziativ umzusetzen.
Während es auf der vorherrschenden (vergangenen) Zeitebene nun um das Kennenlernen des baldigen, nicht sehr gut betuchten Gatten Julien (Swann Arlaud) geht, kommentieren die Flash Forwards der verbittert wirkenden reiferen Jeanne suggestiv die ersten nicht mehr so harmonischen Anzeichen der jungen Ehe (etwa die suboptimal verlaufende Hochzeitsnacht, die fast unerfreulicher ausfällt als in Lady Macbeth).
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Jeanne erkennt nach und nach das wahre Wesen ihres Gatten, wobei man als Zuschauer bestimmte Zusammenhänge früher erkennt als die noch unerfahrene Ehefrau am durch den erzählerischen Rahmen abgesteckten »Anfang ihres Lebens«. Wenn etwa das Dienstmädchen Rosalie, mit dem Jeanne zusammen aufwuchs (auf wikipedia nutzt man dafür den mir zuvor nicht vertrauten, aber sich selbst erklärenden Fachbegriff »Milchschwester«), plötzlich schwanger wird und Rosalie partout nicht über den Vater reden will, während Julien sie wegen der unschicklichen Situation (»Das ist ihr Problem!«) am liebsten entlassen wörde, so bedarf es kaum der mit einer höbschen kleinen Ellipse erzählten »Auflösung«.
Durch den durchweg präsenten »Rückblick« der Erzählerfigur wird die vielleicht nicht mehr unbeschwerte, aber beinahe durchweg sonnendurchflutete »gute alte Zeit« nachträglich etwas dunkler gefärbt. Aber man kann die beiden Zeitebenen immer leicht unterscheiden - und somit ist es nur gerecht, dass man die Flashbackstruktur in ihrer Komplexität noch ausbaut. So erinnert sich etwas die gerade gemaßregelte Dienstmagd Rosalie an die Zeit, als sie mit ihrer Herrin ausgelassen durchs Gras tollte. Es gibt zusätzliche Zeitsprünge, in einer Montage behält man die Tonkulisse (ein Gebet) längere Zeit bei, während man ganz andere Szenen sieht - und all dies zeugt zwar von einer gewissen Restambiguität, bringt einen als Zuschauer aber zu keinem Zeitpunkt durcheinander.
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Ich will über die Handlung der letzten zwei Drittel des Films nicht zu viel verraten, aber bis auf zwei oder drei Einstellungen (teilweise mit Vogelgesang zusätzlich markiert und auf eine fehlerhafte Wahrnehmung hindeutend) behält man die Gruppierungen »jung / glücklich / gutes Wetter« und »älter / zerknirscht / bewölkt, kalt oder nass« jeweils bei.
Die sich im Verlauf ihres Lebens veränderte Jeanne verliert ihre Naivität und droht daran zu zerbrechen, dass erschreckend viele Personen in ihrem Umfeld lügen. Bei einer Beichte drängt sie dann auch noch ein Geistlicher, sich anders als die Gesellschaft um sie herum zu entscheiden und mit der Wahrheit herauszurücken - auch, wenn sie befürchtet, dadurch noch mehr Unheil zu beschwören. Vielsagendes Fazit des zu schwarz-weiß denkenden »Ratgebers«: »Gott verabscheut die Wollust, aber Lögen sind ihm noch mehr zuwider« (da wüsste ich gern mal, an welcher Stelle in der Bibel das stehen soll...).
Zur »Orientierung« in der umherspringenden Narration, die man eher intuitiv wahrnehmen sollte, statt sich in Details zu verlieren, trägt neben dem »Peter-Andrews-Effekt« (vergleiche die farbig markierten Passagen in Soderbergh-Filmen wie Traffic) auch der wiederholte Einsatz von Cembalo-Musik bei. Der schon mit seinem letzten Film La loi du marché / Der Wert des Menschen positiv aufgefallene Regisseur Stéphane Brizé überzeugt auf ganzer Linie durch seine Virtuosität der filmischen Mittel, die er zielbewusst und ohne viel Chichi einbringt (wie etwa das auffallend schmale Bildformat, das wie in Saul fia einen leicht klaustrophobischen Effekt mit sich bringt).
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Une vie ist ein Film, der mal wieder zeigt, wie man eine Literaturverfilmung angehen sollte: Es geht darum, sondern den Kern einer Geschichte zu erfassen und diese, damit die Verfilmung überhaupt einen Sinn hat, mit den Mitteln des filmischen Mediums zu erzählen. Wenn man an jedem Buchstaben der Vorlage festhängt wie mit Sekundenkleber, wird der Sprung zwischen den unterschiedlichen Künsten schnell zur Zerreißprobe.
Nichtsdestotrotz erscheint es mir so, dass die Geschichte von Une vie sich von der Tonart und der Erzählgeschwindigkeit eher als Lektüre eignet und die einst bahnbrechende künstlerische Erneuerung mittlerweile einiges an Patina angesetzt hat. Doch wer ein Faible für jene literarische Phase hat (selbst, wenn man womöglich immer nur BBC-Verfilmungen schaut, statt die alten Wälzer zu durchblättern), der wird ganz sicher auf seine Kosten kommen.