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24. April 2019 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
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Originaltitel: De chaque instant, Frankreich 2018, Kamera, Schnitt: Nicolas Philibert, 105 Min., Kinostart: 2. Mai 2019
Nicolas Philibert ist für mich so was wie der Großmeister des Dokumentarfilms (noch vor beispielsweise Frederick Wiseman, der für meinen Geschmack alles immer eine Spur zu groß aufzäumt). Ob Philibert Kinder (Être et avoir), einen Orang-Utan im Zoo (Nénette) oder einen Radiosender (La maison de la radio) beobachtet, man kann sich eigentlich darauf verlassen, dass das Ergebnis unterhaltsam, lehrreich und anrührend ausfällt.
Und, was für mich fast noch wichtiger ist: man hat immer das Gefühl, dass Philibert ohne vorgefasste Meinung an sein jeweiliges Thema herangeht und die Form des Films vom Erlebten mitformen lässt (so - und nur so - mag ich meine Dokus: die Visualisierung eines bereits existenten Sachbuchs etc. mag manche Zuschauer immens befriedigen, für mich steht die filmische Form immer an vorderster Stelle, die Vermittlung von Inhalten ist nicht unwichtig, aber sollte nicht das Hauptziel sein. Dann schaue ich lieber Die Sendung mit der Maus - und das ist nicht despektierlich gemeint).
Diesmal geht es um Auszubildende und Studierende in der Krankenpflege. Inn vergleichbaren Dokus, in denen es um diese Lernphase im Berufsleben ging - etwa Zwischen den Stühlen (Lehrer), Die Prüfung (Schauspieler) oder Dirigenten - Jede Bewegung zählt - hat es sich durchgesetzt, eine überschaubare Zahl von Personen (3, 5 oder so) zu begleiten, Philibert nimmt seine Protagonisten eher als Gruppe wahr, arbeitet dafür aber die Wegmarkierungen der Ausbildung konkreter aus.
Vielleicht hängt das auch damit zusammen, das der Pflegeberuf generell eine gewisse Anonymität mit sich bringt (ein Pfleger, der nicht auffällt, ist schon mal generell schlechtes Beispiel für seinen Beruf, bei Dirigenten, Schauspielern oder Lehrern würde ich das nicht ohne weiteres unterschreiben). Jedenfalls geht es zwar im Film um die Pfleger als sich, aber in ihrem Beruf geht es vor allem um die Erfüllung ihrer Aufgaben.
Bei den ersten selbstgesetzten Spritzen hat man eher das Gefühl, dass im Schnitt bevorzugt die Problemfälle ausgewählt wurden, aber De chaque instant bietet oft einen umfassenden Querschnitt durch die zahlreichen Anwärter: die glücklichen wie die Depressiven. Bei einer dreijährigen Ausbildungszeit mit 90 Schülern pro Jahrgang ist die Herangehensweise auch produktionstechnisch nachvollziehbar, und ich persönlich hatte kein Problem damit, jetzt nicht den konkreten Ausbildungsverlauf einzelner Personen verfolgen zu können, der »universelle« Approach war ebenso spannend.
Die Inspiration für den Film war übrigens Philiberts Erfahrung mit einer Embolie, er versteht den Film als einen Tribut an die Pflegekräfte.
Die beackerten Themenkomplexe sind umfassend, Ethik-Probleme, psychologische Betreuung oder Hauptregeln der Hygiene (»steril« ist besser als »sauber« und kann durch eine Berührung einen Downgrade erfahren). Hier und da wird aber etwas auch nur kurz angerissen. Wenn etwa mal erwähnt wird, dass die Gesetze für die Palliativmedizin sich »regelmäßig ändern« und man immer wieder überprüfen müsse, was einen die Ärzte so auftragen, denn regt dies meine Neugier an, das Problemgebiet wird aber nicht weiter untersucht. Das ist zwar abermals produktionstechnisch nachvollziehbar, aber hier und da auch etwas enttäuschend. Ähnlich wie beim neuen Film von James Marsh stehe ich zu meiner qualitativen Grundeinschätzung, muss aber zugeben, dass die anderen Philibert-Filme mich stärker erreichten. Vielleicht spielen hierbei auch das Alter des Regisseurs (Jahrgang 1951) oder eine gewisse »Routine« beim Dreh eine Rolle.
Ein guter Film, aber keiner, der mich vom Hocker reißt.
Originaltitel: En guerre, Buch: Stéphane Brizé, Olivier Gorce, Mitarbeit: Xavier Mathieu, Ralph Blindauer, Olivier Lemaire, Kamera: Eric Dumont, Schnitt: Anne Klotz, Musik: Bertrand Blessing, mit Vincent Lindon (Laurent Amédéo), Mélanie Rover (Mélanie), Jacques Borderie (Fabrik CFO), David Rey (CFO), Oliviere Lemaire (SIPI-Gewerkschaftler), Martin Hauser (Vorstandsvorsitzender Dimke-Gruppe), Jean Grosset (Grosset, Elysee-Sonderberater), 113 Min., Kinostart: 25. April 2019
Es beginnt schon alles eine Spur zu prätentiös. Mit dem wohl bekanntesten Brecht-Zitat (natürlich im Original-Klingo... äh, -Französisch): »Wer kämpft, kann verlieren [etc.]«
Der französische Arbeitskampf, den man so umfassend durch den deutschen Idiotentitel ausmerzte, vollzieht sich zunächst bei einer hitzigen Diskussion zwischen streikenden Gewerkschaftsführern und Führungspersonal einer Firma, die aus rein ökonomischen Gründen geschlossen werden soll. Der Chef: »Wir sitzen alle im selben Boot«, die Basis: »Wenn wir im selben Boot sitzen, dann sitzen sie oben auf dem Sonnendeck und wir unten mit den Ratten und der Scheiße...«
Die Kommunikation ist nur bedingt möglich (»Das wird jetzt immer weniger konstruktiv, schade...«), das vorherrschende narrative und inszenatorische Prinzip betont immer wieder: Es geht nicht voran und wird irgendwann eskalieren.
Im Prinzip nicht schlecht oder uninteressant, aber von Regisseur Stéphane Brizé (La loi du marché, Une vie) erwarte ich mehr. Man sieht etwa Aufnahmen einer mit mittelprächtigen Statisten-Budget aufgenommenen Streik-Demo, bei der die Bilder eine sehr entspannte Situation offenbaren, während man durch extreme Wackelkamera und verzerrter E-Gitarre Bürgerkriegs-Atmo suggeriert. So was nervt mich, wenn ich als Zuschauer für blöd erklärt werde.
Das ist alles gut beobachtet und umgesetzt, zermürbt einen als Zuschauer aber ähnlich. Und zwar ohne den meines Erachtens positiven Effekt »Kunst muss weh tun« à la Ayka. »Der Vorsitzende schickt uns, wir werden ihre Nachricht übermitteln...« Wenn man das ähnlich oft durchlebt wie ein typischer und aufopferungsbereiter Streikender (hier stellvertretend: Vincent Lindon), wird man immer zorniger. Ich gehe aber vorwiegend nicht ins Kino, um Zorn zu verspüren - und wenn ich diesen Zorn auf den Film projiziere, fällt es schwer, das Werk zu lobpreisen.
Wenn dann nach ungeheuer lang empfundener Zeit jene unumgängliche Eskalation folgt, inszenatorisch eher banane wirkt, und die nachgeschickte Messitsch nur in Maßen das retten kann, was zuvor vermurkst wurde, leidet der Gesamteindruck.
Ich erkenne ja, dass alles ganz gut durchdacht ist, aber echauffiere mich immer wieder über die Details, etwa den Umstand, dass der Film mit deutlich mehr Kameragewackel und Unschärfen arbeitet als notwendig und von der inszenatorischen Herangehensweise her vertretbar wäre. Klug deduzierte Slogans wie »Wir sind keine Anpassungsvariablen der Aktionäre« gehen verloren inmitten der absichtlich klischierten Argumentationen, Arbeiterführer, die auftreten wie Fußballtrainer oder Henry V, wirken schnell etwas lachhaft. Und dann ist die narrative Auflösung auch noch ähnlich frustrierend wie der Streik-Alltag.
Das Hauptproblem könnte sein, dass das Anti-Kriegsfilm-Prinzip deshalb nicht funktioniert, weil sich die allermeisten Menschen darüber einigen können, dass man auf Krieg gerne verzichten könnte. Während der Arbeitskampf (erinnert euch an das Brecht-Zitat) natürlich wichtig und notwendig ist. Und wenn beiden dann parallelisiert und diskreditiert werden, funktioniert das unterschiedlich gut.
Wobei man noch im Hinterkopf behalten muss, dass einige deutsche Kinozuschauer, die vielleicht nie realisieren, wie dieser Film im Original heißt, diese Parallelisierung nicht in der intendierten Deutlichkeit wahrnehmen werden. Mein Fazit: Scheitern auf hohem Niveau, aber dabei kein positives Erlebnis (ich bin Donaldist, Scheitern ist für mich teil der Lebensphilosophie), sondern eher Zorn und Kopfschmerzen erzeugend.
Deutschland / Belgien 2018, Ursprünglicher Titel: Marnies Welt, Buch: Christoph & Wolfgang Lauenstein, Musik: Andreas Radzuweit, mit den deutschen Stimmen von Alexandra Neldel (Marnie), Axel Prahl (Elvis), Santiago Ziesmer (Eggbert), Erik Borner (Mambo Dibango / Anton), Linus Kraus (Paul), Gabi Franke (Rosalinde), 92 Min., Kinostart: 18. April 2019
Ich bin ein Old-School-Fan der Lauenstein-Brüder, weil ich mit deutlicher Animations-Affinität und ihrem Oscar-Gewinner Balance (1989) aufgewachsen bin.
Okay, damals war ich schon volljährig, aber hatte gerade erst mein Abi gemacht und meine Filmbegeisterung war noch am Wuchern, ehe sie sich irgendwann auf einem gewissen Level einpendelte und sich mittlerweile etwa so artikuliert wie bei einem Alki, der auf seine tägliche Flasche billigen Schnaps nicht mehr verzichten will, aber schon »etwas mehr« braucht, um richtig in Stimmung zu kommen.
Nach einer längeren Phase in der Werbebranche landeten die Lauensteins (aus unerfindlichen Gründen spreche ich die immer englisch aus, also »-stiens«) wieder beim Animationsfilm und weil die Erstellung solcher Werke (ob Stop-Motion oder Computer-Animation) so ihre Zeit braucht, wurden Louis and the Aliens und Die sagenhaften Vier fast gleichzeitig fertig, wobei mich die Aliens sowohl vom Humor, der Geschichte als auch der Animation mehr begeisterten (ich benutze dieses Wort in vollem Bewusstsein, da ich wenig erwartet hatte, hat mir der Alien-Film wirklich viel Spaß gemacht, so auf dem Level von einer Flasche Müller Fruchtbuttermilch Ananas-Kokos versetzt mit einem halben Liter Wodka).
Zwischenbemerkung: ich schreibe diesen Text übrigens stocknüchtern und trinke im Jahr etwa so viel Alkohol wie Harald Juhnke einst in einer guten Woche, aber Kinderfilme sollte man ruhig mal mit einer »erwachsenen« Herangehensweise behandeln. (Spätestens jetzt sind sich alle Leser sicher, dass ich durchgedreht bin...)
Aber zurück zum Film. Wie schon Luis and the Aliens ist Die sagenhaften Vier ein Film, der ein wenig an meinen festen Vorsätzen rüttelt, keine blöden deutschen Synchros zu schauen. Da ich aber nicht punktgenau entscheiden kann, inwiefern, wie stark und in welcher Reihenfolge deutsche wie internationale Sprecher die Produktion beeinflussten und schon der »Originaltitel« Marnies Welt erstaunlich deutsch klingt, habe ich mir das mal gefallen lassen.
Und nun kommt der vielleicht schockierendste Einwurf meinerseits: Mit Axel Prahl als Sprachtalent habe ich kein Problem (etwa jüngst als Rabe in Die kleine Hexe oder öfters mal als Märchenopa beim Sandmännchen), aber das man auf dem Plakat dick und fett mit Alexandra Neldel (Verliebt in Berlin, Die Wanderhure, Einfach Rosa) wirbt, während man eine der am einfachsten zu erkennende deutsche Synchronstimme, die von Santiago Ziesmer, einfach unterschlägt, fand ich schon etwas seltsam. Wer jetzt mit dem Herrn nichts anfangen kann, sollte mal an Spongebob Schwammkopf, Ferkel aus den Winnie-Puuh-Filmen, Urkel aus Alle unter einem Dach, Seth Green in Buffy, Steve Buscemi, Clint Howard oder Tony Cox denken, dann könnte sich in den Gehörgängen eine Stimme materialisieren, die man nicht unbedingt gerne hört, die aber hier für den etwas größenwahnsinnigen Hahn Eggbert großartig passt, während die Neldel als Katze Marnie kein wirkliches Profil entwickelt und einfach nur einen auf naiv-sympathisch macht.
Aber offensichtlich sind für die PR des Films weniger die Animationsfans interessant als die Muttis, die über das Kinobudget ihrer Kinder entscheiden. Damit muss man leben.
Die Mischung aus deutschem und internationalem Anspruch begleitet den Film an jeder Ecke. Man sieht zwar das typisch deutsche Post-Signet (schwarzes Horn auf gelbem Grund), aber der Ort, in dem die Geschichte spielt, heißt Drabville (Exit Brumblesnore). Kaum ein Zuschauer wird darüber nachdenken, dass man die Hälfte der Buchstaben von »Brumblesnore« wegstreichen kann, den Rest etwa umsortiert und daraus Bremen wird.
Die sagenhaften Vier sind vier Tiere, die weggejagt wurden bzw. die Flucht ergriffen und bei einem wilden Road Movie Abenteuer erleben. Der Hund Elvis (Prahl), die Katze Marnie, der Hahn Eggbert und ... äh ... das Zebra Mambo Dibango?!? Die Inspiration durch das Grimm-Märchen von den Bremer Stadtmusikanten ist nicht zu übersehen, hier und da gibt es sogar konkrete Zitate (»Etwas besseres als den Tod findest du überall.«)
Besonders märchenhaft ist der Film aber nicht, eher so eine Mischung aus Wir können auch anders und Kim Possible. Passend zum Namen der Hauptfigur Marnie gibt es ein paar Hitchcock-Anleihen (To Catch a Thief, North by Northwest), versetzt mit kindlichem Humor (eine »Zirkusnummer voller Magie und Poesie« kulminiert in gerülpsten Seifenblasen etc.) und ein paar »Fernsehen contra Realismus«-Gags à la Being There, die dann aber eher actionbetont wie in Bolt umgesetzt werden (Möchtegern-Agentin Marnie nötigt etwa den motorisierten Hund zu einem Wettrennen mit einem Zug: »Elvis, gib' Gas, ich hab' das schon tausend mal im Fernsehen gesehen, das klappt immer!!«).
Für erwachsene Betrachter ist die Geschichte etwas simpel gestrickt (bei der Figur Paul erkennt man etwa auf den ersten Blick, dass es sich hier um den Bösewicht handelt - als würde Christopher Walken Count Olaf spielen), und beim Timing der Handlung hat man dadurch gegen Ende einen deutlichen Hänger. Aber verglichen mit durchschnittlichen deutschen Animationsfilmen stechen die Lauensteins auch ohne Anstrengung hervor. In diesem Fall reicht das nur nicht ganz bis in die Kategorie der Filme, die man guten Gewissens empfehlen kann.
Deutschland 2019, Buch: Robert Gold, Jens-Frederik Otto, Christian Zübert, Lit. Vorlage: Ferdinand von Schirach, Kamera: Jakub Bejnarowicz, Schnitt: Johannes Hubrich, Musik: Ben Lucas Boysen, Kostüme: Gioia Raspé, Production Design: Josef Sanktjohanser, mit Elias M'Barek (Caspar Leinen), Alexandra Maria Lara (Johanna), Franco Nero (Fabrizio Collini), Heiner Lauterbach (Richard Mattinger), Manfred Zapatka (Hans Meyer), Pia Stutzenstein (Nina), Peter Prager (Bernhard Leinen), Jannis Niewöhner (Hans Meyer, jung), Hannes Wegener (Aicke), Rainer Bock (Oberstaatsanwalt Reimers), Catrin Striebeck (Vorsitzende Richterin), Stefano Cassetti (Nicola Collini), 118 Min., Kinostart: 18. April 2019
Marco Kreuzpaintner ist ein einst in Deutschland positiv aufgefallener Regisseur (Sommersturm), der den Sprung über den Teich in die USA versuchte (Trade). An der Grundqualität seiner Filme änderte dies zunächst kaum etwas, in den Staaten ist der Bedarf an »kleinen« Filmen nur noch geringer und dadurch vermutlich der Erfolgsdruck größer. Mit Krabat (2008) schuf er dann einen veritablen Erfolgsfilm back in Germany, der vermutlich auch mit internationalem Absatz liebäugelte.
Ich persönlich habe dann den Kontakt zu Kreuzpaintners Karriere größtenteils verloren. 2009 gründete er seine eigene Produktionsfirma »Summerstorm« (spürt ihr das globale Flair?), die dann 2014 die »Kinokomödie« (das Presseheft präsentiert dies wie ein ganz besonderes Genre) Coming In realisierte. Es folgten noch eine Polizeiruf-Folge, die komplett indiskutable Komödie Stadtlandliebe (mit Tom Beck!) und die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Amazon-Prime-Serie Beat. Ich bin leider so gar kein Streaming-Fan und kann da nicht mitreden.
Bei Der Fall Collini wunderte ich mich kurz darüber (ich hatte Krabat irgendwie verdrängt), ob es sich um eine deutschsprachige oder internationale Produktion handelt, denn auf imdb handelte man den Film auch als »The Collini Case«. Franco Nero wurde hier als international bekanntester Darsteller als erster aufgeführt, bei seinen Kollegen Elias M'Barek oder Alexandra Lara Marie bildete ich mir eine gewisse Kompetenz im Englischsprachigen ein, aber als ich dann las, dass auch noch Heiner Lauterbach, Manfred Zapatka oder Rainer Bock mitspielen, erschien es mir doch eher fraglich, dass die alle einen auf Englisch machen, wo eigentlich nur Franco Nero wirklich international auftritt.
Diese meine Herangehensweise hat den Film für mich vermutlich auch stark gefärbt. Die Story beginnt mit dem deutlich angedeuteten, aber nicht im Detail ausgeführten (bei einem Gerichtsdrama ist die Spannung schnell weg, wenn man das Verbrechen bereis im Detail zeigt) Mord des betagten Italieners Collini (Nero) am deutschen Industriellen Meyer (Zapatka). In einem Hotelzimmer. Danach lässt sich Collini, mit blutigen Schuhen und einem Schuhabsatz, der stark gelitten hat (wichtiges Detail) in der Hotellobby teilnahmslos, fast apathisch abführen.
Elias M'Barek als unerfahrener Pflichtverteidiger (ungefähr so glaubhaft wie einst Julia Roberts in The Pelican Case, aber durch die Naivität der Rolle kaschiert man das etwas) übernimmt den Fall, wobei er erst mit Verspätung realisiert, dass es sich beim Mordopfer Jean-Baptiste Meyer eigentlich um seinen Quasi-Zeihvater Hans Meyer handelt, was als Drehbuch-Twist, der die eigentliche Geschichte überhaupt nur möglich macht, schon ziemlich die Glaubwürdigkeit strapaziert.
An dieser Stelle möchte ich beichten, dass auch ich Vorurteile hege. Ich hatte zuvor nie eine der mittlerweile in der Anzahl zunehmenden Verfilmungen von Stoffen von Ferdinand von Schirach gesehen, und auch keine seiner Kurzgeschichten gelesen. Gestützt auf sehr lückenhaftem Halbwissen war mir der Kerl aber irgendwie immer suspekt. Das passiert schon mal, wenn man mir in den Medien immer wieder suggeriert, dass ich über diese wichtige Persönlichkeit doch Bescheid wissen müsse, ich den Namen aber eher nur vage verorten kann. Das selbe Phänomen kenne ich auch von Kim Kardeshian (sorry, falls ich das falsch geschrieben haben sollte) oder manchen superreichen Rappern. Ist halt so. Ich entwickle eher Hochachtung vor unbekannten kleinen Regisseuren, die mal durch eins, zwei Filme mir gegenüber ihr Talent beweisen konnten (beispielsweise auch Marco Kreuzpaintner, wobei der bei dieser Produktion auch etwas in meinem Ansehen gelitten hat).
Zurück zum Film. Es ist unbestritten, dass Franco Nero auch ohne viele Worte einen großen Eindruck hinterlässt, aber in diesem Fall habe ich mir den zu verteidigenden reuelosen Killer, der laut Rolle deutsch spricht, aber dabei auffallend schweigsam bleibt, mal ganz genau angeschaut und es mir in den ersten zwei Dritteln des Films zur Aufgabe gemacht, alle Dialogbeiträge Collinis niederzuschreiben.
Im Verlauf des Films zeigt sich zwar, dass Satzbruchstücke wie »Lebt er noch, ihr Vater?« und »Sie sollten ihn mehr sehen!« zwar mit Bedacht ausgewählt wurden, aber die ganze Kiste, dass Collini Deutsch spricht, aber immer nur kurze Brocken absondert, während der Strafverteidiger für seine Recherche mal nebenbei leidlich Italienisch lernt und Collini dann zum Höhepunkt des Films auf Italienisch deutlich gesprächiger wird, wirkte jeweils nur den Produktionsumständen des Films verpflichtet, keinesfalls der erzählten Geschichte. Zugegeben, Franco Nero lockt vermutlich ein paar Zuschauer ins Kino (»Das ist doch der aus diesem Tarantino-Film ...«) und mit dieser Besetzung kann man aus einer zunächst fast stummen Figur einiges an verborgenen Emotionen ins Spiel bringen, aber aufgrund dieser Umstände kam ich nie auch nur ansatzweise hinein in die Geschichte.
Auch die in Flashbacks erzählte Familiengeschichte von Hans Meyer wirkt an den Haaren herbeigezogen und arg konstruiert, und ohne auf die zentralen Ideen des Films im Detail zu sprechen zu kommen, ist dies ein roter Faden, der sich durch den ganzen Film zieht. Dass es im Fall Collini um einen veritablen historischen Justizskandal geht, der im deutschen Volksbewusstsein viel zu unbekannt ist, würde ich gerne unterschrieben, von mir aus auch mit meinem eigenen Blut, aber die Art und Weise, wie man über eine schrecklich zurechtgeschnippelte Geschichte den »Aha-Effekt« erst gegen Ende des Films durchblicken lässt (wer sich öfters als 2-3 mal im Jahr ins Kino verirrt, wird aber die allermeisten »Überraschungen« schon von weitem kommen sehen), versaut den Eindruck schon umfassend.
Ein weiteres Detail hat den Collini-Film bei mir schonungslos durchfallen lassen: Ich sah Der Fall Collini an einem Abend und am folgenden Morgen den Film Das schönste Paar (meine Kritik dazu findet man in der Mai-Ausgabe des Münchner Kulturmagazins Applaus). Meine aktuell häufigste Kino-Begleitung bei Pressevorführungen war schlichtweg entsetzt darüber, dass ich Collini mies fand und Das schönste Paar zwar problematisch, aber gelungen. Das liegt an unterschiedlichen Gründen, aber im direkten Vergleich fiel mir vor allem auf, dass beide männlichen Hauptdarsteller (M'Barek bzw. Maximilian Brückner) hier Männer spielen, die als Hobby auch mal Boxen gehen. In Das schönste Paar wird das clever in die Geschichte eingebaut und hat Konsequenzen für den Verlauf der Geschichte. In Der Fall Collini sieht man gefühlt drei Minuten Filmmaterial, in denen M'Barek größtenteils auf einen Sandsack einschlägt - und es hat absolut gar nichts mit der Geschichte zu tun, wird einfach nur immer mal wieder als Füllmaterial eingebaut. Und das hat mich schon beim ersten Film unglaublich genervt, aber als ich dann am Folgetag Das schönste Paar sah, hätte man es kaum besser arrangieren können, um zu zeigen, wie man es besser macht. Die alleinige Rechtfertigung, dass man keinen Elias-M'Barek-Film drehen sollte, in dem er seinen Luxuskörper nicht dauerhaft unter Talaren verbirgt (zwei, drei aufgesetzte Sexszenen gibt es auch), reicht für mich einfach nicht aus.
Fazit: Es dürfte möglich sein, diesen Film gut oder zumindest akzeptabel zu finden. Mir persönlich ist es nicht einmal im Ansatz gelungen. Und ich befürchte, dass Leute, die diesen Text vor der Filmsichtung lesen, auf die selben Problemstellungen hingewiesen werden. Sorry!
Deutschland 2018, Buch: Armin Hofmann, Mohammad Farokhmanesh, Frank Geiger, Kamera: Marcus Winterbauer, Schnitt: Andrew Bird, Frank Geiger, Habiba Laout, Musik: Siegfried Friedrich, mit Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Sigrid Schüßler, Martin Sellner u.v.a., 85 Min., Kinostart: 9. Mai 2019
Ein Satz, den man leider viel zu oft an den Beginn von Filmrezensionen stellen könnte lautet »Gut gedacht ist nicht immer gut gemacht.« Kleine Germanen besteht aus zweieinviertel Teilen, die gemeinsam wirken sollen. Der eine Teil sind für einen Dokumentarfilm typische Interviewschnipsel, in denen politisch Rechte und Kenner der Szene über diverse Themen, unter anderem auch die Kindererziehung sprechen. In einem animierten Teil wird die Geschichte von Elsa erzählt, die einst ihrem Opa zuliebe (ein Altnazi) Mein Kampf auswendig lernte, aber später als Mutter eines behinderten Kindes zunehmend an der rechten Ideologie zweifelte und aus diesen Kreisen ausbrechen will. Ein kleinerer »Viertel«-Teil (rein rechnerisch eher ein Neuntel) bietet zu Voice-Over-Schnipseln aus den Interviews gerne Zeitlupenaufnahmen vermeintlich »germanischer« Kinder, die auf sehr suggestive Art eine Verbindung herstellen, die nicht immer gegeben ist.
Es gibt Kritikerkollegen, die offenbar glauben, dass man für eine Doku durch ein paar Tricks genau die Soundbites finden kann, die bestimmte Aussagen unterstreichen, die dokumentieren, wie sich suspekte Gesprächspartner »selbst entlarven«. Das ist zwar möglich, aber wenn man kein außerordentlich hohes Budget hat (oder Interviewpartner, die sich besonders gut manipulieren lassen), wäre es eine meines Erachtens absurde Taktik, mit solch einer Herangehensweise eine Doku zu drehen. Für mich sollte eine Doku so funktionieren, dass man recherchiert und / oder interviewt und dann aus dem Material (über das Mittel der Montage) das herausarbeitet, was dem Material innewohnt (für mich wäre es dabei übrigens auch wichtig, nicht schon im Voraus über die Richtung entschieden zu haben, die der Film später einnimmt).
Die Interview-Teile des Films Kleine Germanen erfüllen im Großen und Ganzen meine Ansprüche an das Dokumentar-Genre. Zwar wirkt das Material für sich genommen nicht sehr fokussiert, aber ich habe den Interviews gerne gelauscht und auch versucht, meine eigenen Schlüsse aus den Statements zu ziehen.
Die »Entlarvung« der gutsituierten, oft redegewandten Vorzeigerechten bestand für mich manchmal schon in einer Einblendung, die wie »verheiratet, sieben Kinder« eine implizite Aussage einbrachte, die schon wieder von der halbwegs objektiven, in verschiedene Richtungen deutbaren Textfülle deutlich abwich, mich aber durchaus erheiterte. Offensichtlich legen die Rechten nach wie vor Wert darauf, durch besondere Fruchtbarkeit der »Islamisierung des Abendlandes« gegenzuwirken. Bei »Zucht und Ordnung« spielt die Zucht eine große Rolle.
Mein Problem bei dem Film besteht zum einen in der suggestiv-manipulativen Kombination der drei Teile, am Fehlen eines wie auch immer anonymisierten »Quellenhinweises« zu den animierten Spielsequenzen und nicht zuletzt an einem inszenatorischen wie visuellen Konzept dieser Szenen.
Okay, man hatte nicht besonders viel Geld zur Verfügung stehen, und Animation kostet eine Stange Moneten. Aber alle Nase lang musste ich nicht nur wegen der suboptimalen Umsetzung der Animation mein weises Haupt schütteln, sondern auch wegen fragwürdiger Entscheidungen. Elsas Alptraum von einer Ratte mit jüdischen Schläfenlocken hätte über Illustrationen aus dem Buch, das ihr Opa ihr vorlas, erklärt werden müssen, der Wutausbruch mit der Klavierklappe wirkt überzogen, noch schlimmer ist die Schlußszene mit der umgefallenen Blumenvase (und Hermanns für alle Fehler der Synchronregie stellvertretendes »Häh?«). Am besten versucht man in so einem Fall reale Szenen nachzustellen (oder liefert von mir aus auch mal wie in Waltz with Bashir Traumszenen, die dann aber über das Voice-Over legitimiert werden). Aber für mich tritt es den dokumentarischen Ansatz mit Füßen, wenn man sich in klischierten Symbolismen verliert, die oft auch noch hilflos wirken (closure per Berg-Sonnenuntergang à la Heidi).
Offenbar gibt es laute, bei denen der emotionale Impetus der Animationssequenzen funktioniert, ich fühlte mich gerade durch die manipulative Herangehensweise sehr distanziert vom eigentlich hochspannenden Thema und habe mich über das Propagandahafte des Films sehr aufgeregt. Und jetzt soll mir bloß keiner mit dem Spruch »Man muss sie mit ihren eigenen Waffen schlagen« kommen...
Ein paar gute Ansätze, aber für mich filmisch leider komplett inakzeptabel.
Demnächst in Cinemania 202 (Stalker und andere Psychos):
Kinostarts Mai, darunter vermutlich All my Loving (Edward Berger), Das Ende der Wahrheit (Philipp Leinemann), Fighting with my Family (Stephen Merchant), Greta (Neil Jordan) und Im Netz der Versuchung (Steven Johnson).
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