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Saline Grace:
Border Town Shades
(Deeper Water Records)
Es gibt nichts Schlimmeres als den Faux Pas der uninspirierten Musikrezensenten, die melancholische Musik ausschließlich mit Herbst assoziieren und daraus schlussfolgernd ins verbale Trudeln geraten, die entsprechende Platte in den Frühlings- oder Sommermonaten anzupreisen. Schluss damit! Schließlich kommt niemand auf die Idee, Kafka nur in geschlossenen Räumen und mit Beklemmungen zu lesen oder in Bukowski nur mit einer Buddel in der Hand zu schmökern. Nach Bukowskis Alter Ego Chinaski benannte sich der (Gast-) Drummer von Saline Grace. Weitere literarische Bezüge finden sich zum Beispiel in dem von Dostojewskij inspirierten Track „Nightly Song“. Das Duo Berliner Duo Saline Grace spielt dunkel angehauchten Pop, der bisweilen gern mit Nick Cave verglichen wird. Noch so ein Faux Pas. Zwar sind sich dessen Timbre und die des Grace-Frontmannes Ricardo Hoffmann in der Tat entfernt ähnlich, jedoch beschreitet die Band musikalisch eigene Wege: So finden sich auf dem Album Anklänge osteuropäischen Folks, Cold-Wave-Einsprengsel und Elemente, die an die jazzigen Parts Badalamentis in David-Lynch-Filmen erinnern. Bisweilen gelingen Saline Grace sogar Momente der Synästhesie, der Erzeugung von Bildern mittels Akkustik (Anspieltipp: „Stumbling Mary and the Tree at the Dry Riverbed“). Das Herz der 17 Stücke bildet das Titelstück „Border Town Shades“, das den Besuch des lyrischen Ichs in seiner Heimatstadt schildert. Statt Wiedersehensfreude reflektiert sich der Rückkehrer lediglich als Bedrohung des Stillstandes einer Geisterstadt, deren allmählicher Verfall lange Schatten wirft. Entfremdung bildet den roten Faden, der sich durch das musikalisch facettenreiche Album zieht, das natürlich vollkommen unabhängig von irgendwelchen Jahreszeiten zu begeistern weiß.
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Dornenreich:
In Luft geritzt
(Prophecy Productions)
Dass sich die österreichische Formation von ihren metallischen Wurzeln entfernt, deutete sich bereits auf dem 2005er Album „Hexenwind“ an. Die aktuelle Veröffentlichung basiert ausschließlich auf akustischen Instrumenten und hat doch so rein gar nichts mit den gängigen Folk- oder Neofolk-Veröffentlichungen gemein. Die Stimme Evigas erinnert an die fulminanten Rezensionen Kinskis: flüsternd, beschwörend, schwirrend, bisweilen mit unterschwelliger Aggression beseelt. Der Text hingegen wurde zum Instrument. Die Songs erzählen keine Geschichten mehr, sondern fungieren als Klangkörper (wortwörtlich: „In die Luft geritzt“) oder öffnen Assoziationsräume, die individuell gefüllt werden: Ähnlich wie in Sarah Kanes letztem Theaterstück „4.48 Psychose“ dominieren Wortfetzen und Monologfragmente, die Akustikgitarre und Violine begleiten. Auf das absolute Minimum reduziert agieren Percussions. Trotz des Minimalismus erklingen sämtliche zehn Stücke unheimlich kraftvoll und dynamisch. Ein ungewöhnliches, mutiges und faszinierendes Werk.
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Transit: Decent Man
on a Desperate Moon
(Karmakosmetix)
Der Begriff der Avantgarde stellte für den französischen Philosophen Jean-François Lyotard ein zweischneidiges Schwert dar. Denn einen Terminus, der ursprünglich dem militärischen Vokabular entlehnt wurde, stelle auf Kunst bezogen ein Problem dar. Jedoch nehme die künstlerische Avantgarde (eben die „Vorhut“) eine wichtige Funktion ein, da sie das Heterogene betone. Das Akzeptieren der Diversität schaffe erst die Voraussetzung für eine moderne Gesellschaft. Dies lässt sich auch auf einen Ausschnitt der Gesellschaft interpolieren – quasi von der Kultur auf die Subkultur. Metal stellte traditionell eine konservative Subkultur dar, mit festen Codes und (musikalischen) Regeln, deren Brechung stets kritisch beäugt wurde. So kam die künstlerische Avantgarde dieses Bereichs auch nicht vom klassischen Metal, sondern eben vom Black Metal. Bands wie Ulver oder In The Woods... sprengten die ästhetischen Korsetts und agierten (im positiven Sinne) komplett eklektisch. Die späten In The Woods... inspirierten den Sound von Coldplay und Muse. Acht Jahre nach der Auflösung legt Sänger Jan Transit sein erstes Soloalbum vor. Die zehn Songs sind das Destillat des Transitschen Klangkosmos mit einer durchdachten Dramaturgie. Gleich die ersten Takte der Platte swingen: „Estrangeiro / New Man“ und das darauf folgende „Bleed On Me“ gehen sofort ins Ohr und in die Beine. Ruhigere Stücke wie „Damned If You Don’t“ beweisen die Songwriter-Stärke Transits, der gekonnt Gefühl in seine Kompositionen überträgt ohne ins peinlich Balladeske abzugleiten. Von einer ganz anderen Seite zeigt sich das Ende der Platte, das aus dem dreiteiligen „Ad Anima“ besteht und höhere experimentelle Anteile als die übrigen Songs enthält.
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Stille Opprør: S.o2
(Karmakosmetix)
Ex-In The Woods... die Zweite! Deren ehemaliger Gitarrist Christer André Cederberg, der auch die Sechssaitige auf Jan Transits Debütalbum bedient, gründete bereits 2001 seine Band „Stille Opprør“, die mit zahlreichen Session-Musikern aus dem Umfeld seiner früheren Band agiert. Nach fünf Jahren erscheint das zweite Album. Cederberg ließ sich bewusst Zeit und erschuf ein herausragendes Album mit verträumten Songs in Überlänge. Irgendwo zwischen Indie-Pop, Progressive Rock und Jazz angesiedelt, klingt „S.o2“ wie die logische Fortführung von In The Woods..., die sich nie wiederholten und in keine Schubladen fügten. „L tune“ bildet den ebenso melodischen wie fragilen Auftakt. Das deutlich sphärischere „Meanwhile“ beweist die Komplexität des „Stille Opprør“-Klangkosmos. Als Höhepunkt des Albums erweist sich das knapp elfminütige Titelstück, in dem nicht nur die Stimme Jan Transits zu hören ist, sondern das mit epischen Passagen und Dynamik verzaubert und nahtlos an Klassiker wie „Yearning The Seeds Of A New Dimension“ oder „299 796 km/s“ anschließt.
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Ralf Hildenbeutel:
Lucy’s Dream
(Rebecca & Nathan)
Ralf Hildenbeutel gilt als einer der renommiertesten deutschen Produzenten. Er setzte im Trance-Bereich Maßstäbe, produzierte in den 90ern die Erfolgsplatten von Sven Väth, remixte u.a. Anne Clark, Yello und arbeitete als erster Techno-Act bei Auftritten mit Live-Percussions. Seit einigen Jahren schreibt Hildenbeutel auch Filmmusiken (z.B. „Hommage à Noir“, „Be.Angeled“). Das Instrumental-Album „Lucy’s Dream“ hat mit all dem jedoch nichts zu tun. Hildenbeutel wandte sich der analogen Musik zu, bestehend aus Flügel und Streichern. Die klassische Klavier- und Kompositionsausbildung, die der Frankfurter Musiker genoss, entfaltet sich auf „Lucy’s Dream“ in voller Pracht und entwickelt ihre stärksten Momente in der Reduktion auf das Piano, das eine ebenso intime, wie auch spannungsgeladene und vor allem sinnliche Atmosphäre erzeugt.
» www.ralfhildenbeutel.com