Lars von Trier hatte die Idee, zu den neuerdings 25 Mitgliedsstaaten der EU, 25 Regisseure dieser Länder Filme drehen zu lassen. Wie bei den 99 Euro-Films war das Budget vorgegeben (definitiv mehr …), wie bei Ten Minutes Older die (maximale) Länge (5 Minuten), das Thema "Europa" wurde aber sehr unterschiedlich interpretiert. So gibt es als Negativbeispiel den Beitrag aus Lettland, der wenig einfallsreich Teile der Landesbevölkerung vorstellt (immerhin mit interessanten Schattenspielen), die meisten Filme sind eher pessimistisch (der letzte Beitrag aus Spanien gibt aber einen hoffnungsvollen Ausblick), unterschiedlichste politische Themen werden angesprochen (Umweltverschmutzung, Landwirtschaft, die Unterschiede zwischen Arm und Reich, und natürlich die Probleme von Einwanderern), aber auffallend ist beispielsweise, daß zwei der gelungensten Beiträge sich mit religiösen Themen befassen.
Der polnische Beitrag Crossroad (Regie: Malgorzata Szumowska) zeigt an einer einsamen Kreuzung einen gekreuzigten Jesus, der sozusagen gemeinsam mit dem Zuschauer die verschiedensten Vorgänge an einem trostlosen Ort registriert, darunter Pinkelpausen und Schäferstündchen. Schließlich wird das schon ziemlich mitgenommen aussehende Jesulein vom Kreuz abgenommen und durch einen (womöglich durch Eurogelder finanzierten?) besser aussehenden Nachfolger ersetzt. Diese Prozedur muss man gesehen haben …
In The Miracle (Martin Sulik, Slowakei) wird ein 16jähriges Mädchen in einer Kirchenküche vom ansässigen Pfarrer und den Eltern verhört. Sie behauptet, das Opfer einer jungfräulichen Empfängnis zu sein - eine Schande für die Eltern und die gesamte katholische Kirche! Vorsichtshalber ("Für alle Fälle …") rät der Geistliche aber, das Kind auszutragen.
Den leisen Humor dieser Beiträge findet man auch in den Abenteuern einer Flugpassagierin, die von Schalter zu Schalter gejagt wird (Estland) oder dem mit Eurovisions-Fanfare angekündigten Euroquiz aus den Niederlanden, wo eine unerfahrene Moderatorin mehr aus dem Leben einer Kandidatin erfährt, als ihr und dem Publikum lieb sein kann (Sie vermisst unter anderem die "romantischen" Ausflüge, die sie mit ihrem Exmann nach Sobibor, Auschwitz oder Bergen-Belsen unternahm).
Auch recht witzig sind die Bemühungen in Europe does not exist, dem dänischen Film von Christoffer Boe (Reconstruction), einem älteren Funktionär die englische Aussprache von "Europe" beizubringen. Im luxemburgischen Beitrag (The Language School von Andy Bausch) besuchen gar Ostblock-Prostituierte eine Sprachschule, um ihre Freier in Letzeburgisch anbaggern zu können, während nebenan Touristen Schimpfwörter lernen, mit denen sie sich gegen Strafzettel wehren können.
Einer der prominentesten Regisseure des Episodenfilms ist der Brite Peter Greenaway, der in seinem European Showerbath viele nackte Männer und Frauen, die mit Nationalflaggen bemalt sind, unter einem kleinen Duschstrahl zusammenrücken lässt. Interessant wird dieser Beitrag auch durch das Quiz der Landesfarben, wobei insbesondere Frankreich, Luxemburg und die Niederlande für Verwirrung sorgen (Bei Luxemburg ist das Blau heller …).
Die Filme: 1 Jan Troell / Schweden / THE YELLOW TAG 2 Christoffer Boe / Dänemark / EUROPE DOES NOT EXIST 3 Laila Pakalnina / Lettland / IT’LL BE FINE 4 Fatih Akin / Deutschland / DIE BÖSEN ALTEN LIEDER 5 Teresa Villaverde / Portugal / COLD WA(TE)R 6 Martin Sulik / Slowakei / THE MIRACLE 7 Francesca Comencini / Italien / ANNA LIVES IN MARGHERA 8 Sharunas Bartas / Litauen / CHILDREN LOOSE NOTHING 9 Constantine Giannaris / Griechenland / ROOM FOR ALL 10 Béla Tarr / Ungarn / PROLOGUE 11 Aisling Walsh / Irland / INVISIBLE STATE 12 Malgorzata Szumowska / Polen / CROSSROAD 13 Tony Gatlif / Frankreich / PARIS BY NIGHT 14 Theo Van Gogh / Niederlande / EUROQUIZ 15 Christos Georgiou / Zypern / MY LIFE ON TAPE 16 Peter Greenaway / Großbritannien / EUROPEAN SHOWERBATH 17 Arvo Iho / Estland / EUROFLOT 18 Barbara Albert / Österreich / MARS 19 Kenneth Scicluna / Malta / THE ISLE 20 Stijn Coninx / Belgien / SELF PORTRAIT 21 Andy Bausch / Luxemburg / THE LANGUAGE SCHOOL 22 Damjan Kozole / Slowenien / EUROPA 23 Sasa Gedeon / Tschechische Republik / UNISONO 24 Aki Kaurismäki / Finnland / BICO 25 Miguel Hermoso / Spanien / OUR KIDS |
Die früheren Ostblock-Staaten verstehen sich insbesondere in der atmosphärischen Ausleuchtung (neben Crossroad sehr auffällig im von Brauntönen durchzogenen litauischen Beitrag), Béla Tarr aus Ungarn hat für seine kleine Kamerafahrt in Prologue sogar den international bekannten Kameramann Robby Müller engagiert, was sich auszahlt. Aus einer kleinen Idee werden meist die größten Filme. Darunter kann man auch den Beitrag aus Slowenien sehen (Europa von Damjan Kozole), in dem zwei Bauarbeiter an der Grenze ein neues in blau gehaltenes Schild mit dem typischen gelben Sternenkreis aufbauen, und sich über einen mickrigen Grenzfluß hinweg mit einem Bauern aus der Republik "Hrvitzka" (Kroatien?) unterhalten, der auch gerne mit seinem Land in der EU aufgenommen worden wäre, dafür aber die Slowenen neidisch auf den Auftritt seines Landes bei der Fußball-EM macht.
Es gibt noch vieles zu entdecken unter den 25 Filmen, die Beiträge aus Griechenland und Irland sind besonders politisch, die aus Malta und Frankreich eher kryptisch, man kann die tschechische Nationalhymne erlernen, Aki Kaurismäki stellt ein portugiesisches (!) Bergdorf vor, und Fatih Akin bietet mit Die bösen alten Lieder einen Text von Heinrich Heine, vertont von Robert Schumann, bearbeitet von Caspar Brötzmann und FM Einheit und gesungen von Idil Üner - ein gesamteuropäischer Videoclip, der gut zu Wim Wenders Zukunftssoundtrack aus Bis ans Ende der Welt gepasst hätte - auch die Europäischen Visionen überschreiten viele Grenzen.
Etwas negativ fällt allerdings die schludrige Post Production auf - in den Credits hat man den Titel des griechischen Beitrags verändert, der belgische Film läuft einfach unter "Title", und insbesondere beim litauischen Beitrag Children Loose Nothing würde es mich interessieren, ob die mangelhafte englische Orthographie ("to lose" heißt das Verb) ein Fehler der Filmemacher oder eher der Zusammensteller dieser Kompilation war.