Cinemania 25:
Berlinale Aperitif
[Alle Rezensionen außer The Aggressives von Thomas Vorwerk]
Camping sauvage
(Christophe Ali, Nicolas Bonilauri,
Panorama)
Frankreich 2005, Buch: Christophe Ali, Nicolas Bonilauri, Kamera. Jérôme Peyrebrune, Schnitt: Laurent Rouan, Musik: Dan Levy, Nicolas Baby, mit Denis Lavant (Blaise), Isild Le Besco (Camille), Pascal Bongard (Eddie), Jan Tregouët (Fred), Raphaëlle Misrahi (Laure), Emmanuelle Bercot (Florence), Jean-Michel Guerin (Antoine), 80 Min. Denis Lavant war mal Hauptdarsteller in mehreren Filmen von Leos Carax (z. B. bei
Les amants du Pont-Neuf), beide dürften einer neuen Kinogeneration heutzutage kein Begriff mehr sein. Isild Le Besco spielte die weibliche Hauptrolle in Cedric Kahns hierzulande nicht regulär gestartetem
Roberto Succo und führte sogar schon mal Regie beim umstrittenen (und selten gezeigten)
Demi-Tarif, aber auch sie dürfte für ein Großteil des deutschen Publikums eine Unbekannte sein. Schade eigentlich, denn diese beiden Darsteller, die ihre große Karriere noch vor sich (Le Besco) bzw. bereits hinter sich (Lavant) haben, tragen den zweiten Langfilm des französischen Regie-Duos Ali/Bonilauri fast alleine. Aber nur fast.
Schon das erste Bild des Films, Sterne funkeln schwarzweiß im Wasser, ist ganz großartig und erinnert an Charles Laughtons
Night of the Hunter oder zumindest das Björk-Video Isobel. Dann wird das Bild gedreht und farbig und wir lernen die 17jährige Camille (Isild Le Besco) und den für einen Sommerjob als Segel-Lehrer angeheuerten älteren Blaise (Denis Lavant) kennen, ihr erstes zufälliges Treffen wird über die sich kreuzende Kameraführung ganz ähnlich wie in Gus van Sants
Elephant inszeniert, bereits früh entsteht eine Art Suspense (Zeitungsschlagzeile: „Zwei leichen gefunden“), die für Frühwerke, die auf Campingplätzen spielen, außergewöhnlich ist. Für den Zuschauer ist es natürlich klar, daß zwischen Camille und Blaise etwas laufen wird, gerade weil sie so augenfällig unterschiedlich sind. Blaise sieht mit seinem zergerbten Gesicht ziemlich abgehalftert aus, früh deutet sich an, daß er Geldprobleme hat, und es ist offensichtlich, daß er den von seinem Schwager Eddie angebotenen Job nur solange behält, wie er nicht unangenehm auffällt. Camille hingegen ist trotz festem Freund ganz experimentierfreudige Spätpubertät, legt sich andauernd mit ihren Eltern an, und wird gerade durch die vielfachen Hinweise, daß Blaise nichts für sie ist, nur noch angestachelt. Das Ergebnis erinnert nicht nur an die Shakespeare-Tragödien
Othello und
Romeo & Juliet, sondern gleichzeitig auch das Western-Genre.
Der Campingplatz wird inszeniert wie eine nordamerikanische
community, Camille ist die Farmerstochter à la Grace Kelly, die man vor einem Außenseiter und potentiellen
Outlaw irgendwo zwischen Clint Eastwood und Klaus Kinski schützen muß, wobei natürlich der angedeutete Widerspruch zwischen klassischem Hollywood-Kino und Italo-Western für den Film keine Rolle spielt.
Wenn Camilles Vater Antoine mit seiner „Luger“ angibt oder der etwas schleimige Eddie Camille gegenüber damit provoziert, daß er „Vater und Mutter töten würde“, um in Freds Schuhen zu stecken, wird immer eindeutiger, daß ein Happy-End, bei dem Camille und Blaise gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten, unwahrscheinlicher und unwahrscheinlicher wird, da ist es nur programmatisch, daß die beiden sich im Mondenschein an jener Stelle des Ufers treffen, wo der See eigentlich abgesperrt sein sollte, weil hier mal jemand ertrank (ein schwuler Selbstmörder?).
Irgendwann heißt es dann, daß Blaise „eine Stunde hat, um den Campingplatz zu verlassen“, und wenn er während dieser Stunde auch noch an einer US-Flagge vorbeigeht, sind die Western-Parallelen unübersehbar, man wartet geradezu auf den Lynchmob, der plötzlich vorm Zelt auftaucht, auf ein Shootout mit Fred oder Eddie … doch dann kommt stattdessen Florence, die Frau in Blaises Leben, die wenig überraschend wie eine ältere Version von Camille aussieht.
Bis zuletzt bewahrt sich
Camping sauvage eine Sperrigkeit und Unvorhersehbarkeit, die sich manchmal auch in eigentümlichen Regieentscheidungen zeigt. Neben dem zeitweiligen Genre-Wechsel in ein Road-Movie, wenn die beiden durchbrennen wollen, oder dem magischen Moment, wenn die Kamera das Paar vor einem womöglich letzten Kuss in Zeitlupe umkreist (nicht wirklich neu, aber trotzdem eindringlich) gibt es gerade gegen Ende auch einige Stellen im Film, bei denen das Publikum halb verwundert halb genervt aufstöhnt, wenn die vorgebliche Tragik in eine peinliche Komik umschwingt, doch dieser Mut zum Risiko zeichnet den Film auch aus.
The Aggressives
(Jeong Jae-eun,
14plus)
Originaltitel: Tae-poong-tae-yang , Republik Korea 2005, Buch: Jeong Jae-eun, Kamera: Kim Byung-seo, Schnitt: Shin Min-kyung, Musik: Kang Ki-young, DJ Soul Scape, mit Kim Kang-woo (Mogi), Chun Jung-myoung (Soyo), Jo Yi-jin (Gappa), Lee Chun-hee (Hanjoo), 107 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger]
Nach
Take Care of My Cat (der 2002 im Forum zu sehen war) ist die junge koreanische Regisseurin Jeong Jae-eun mit
The Aggressives bereits das zweite Mal auf der Berlinale zu Gast. Ihr vielversprechender Debütfilm zeigte das Schicksal von fünf Freundinnen in Seoul, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen und mit ihren ersten Jobs langsam beginnen, sich auseinander zu entwickeln. Auch in
The Aggressives geht es um die Gefühle von Heranwachsenden, die noch nicht so genau wissen, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollen; diesmal stehen jedoch drei junge Männer und eine Frau im Mittelpunkt. Und anstatt auseinander zu gehen, kreuzen sich die Wege von Soyo, Mogi, Hanjoo und Gappa hier erst einmal in einem Punkt: in ihrer Faszination für Inlineskating. Der Film folgt Soyo, einem scheinbar ruhigen High School-Schüler, in seiner wachsenden Begeisterung für diesen energiereichen, jugendlichen Extremsport – denn die Jungs geben sich hier nicht eher zufrieden, als wenn sie mit ihren Skates erfolgreich über Treppengeländer gerutscht, durch Halfpipes gerollt und ordentlich durch die Luft gewirbelt sind. Die Geschwindigkeit und Waghalsigkeit dieser Stunts wird durch die rasant geschnittenen Bilder der fast ebenso beweglichen Kamera betont, so dass der Film tatsächlich ein wenig von dem Thrill vermittelt, den Soyo und die anderen auf ihren Skates empfinden müssen. Die lässige Hip-Hop-Musik, mit der die Action-Szenen unterlegt sind, macht die Eleganz und Coolness der Skater schließlich perfekt.
Während man am Anfang des Films noch denkt, man hätte es hier mit einer klassischen Sport-Erfolgs-Geschichte à la
Rocky oder
Billy Elliot zu tun, belehrt einen der Film schnell eines besseren. Obwohl
The Aggressives durchaus einige Elemente dieses Genres aufweist, steht hier nicht die Entwicklung Soyos vom Anfänger zum Profi im Vordergrund, sondern die komplexen Beziehungen innerhalb der ganzen Gruppe. Soyo fühlt sich von Beginn an nicht nur zum Skaten hingezogen, sondern ebenso zu Mogi, dem schimmernden Star der Gruppe, und zu dessen Freundin Hanjoo, die die Jungs bei ihren Luftsprüngen mit einer Digitalkamera festhält. Während Mogi ganz für den Moment lebt, und Hanjoo mit ihrem Glauben an das Können der Jungs der Gruppe Zusammenhalt verleiht, sorgt Gappa, der ernsthafte Anführer der Clique, dafür, dass die Anderen nicht zu weit vom Boden abheben. Er ist Manager eines Inline-Parks und organisiert Shows und Werbeaufträge für die Gruppe. Beim Dreh eines Werbespots jedoch kommt es zu einem Zwischenfall: der stolze, unabhängige Freigeist Mogi weigert sich, die verständnislose, professionelle Überheblichkeit des Regisseurs einfach hinunter zu schlucken. Die Gruppe droht, an dem Schaden, den er damit anrichtet, zu zerbrechen.
Auch wenn sich der Film am Ende auf Soyo konzentriert und einiges bewusst offen lässt, geht es in The Aggressives um die Dynamik der Gruppe, die für alle Beteiligten zu einer Art Ersatzfamilie wird; sie schöpft ihren Zusammenhalt aus einem starken, gemeinsamen Interesse, durch das sie sich von ihrer Umwelt abgrenzt. Doch auch innerhalb der Gemeinschaft prallen unterschiedliche Lebenseinstellungen aufeinander: Die einen möchten das Skaten als ihren Beruf, ihre Zukunft betrachten, für die anderen ist es eher eine Flucht vor dem Leben. Es ist Soyos Part, einen Weg zwischen diesen Extremen zu finden.
Wie
Take Care of My Cat entstand auch
The Aggressives an vielen Originalschauplätzen in Seoul, und die Stadt ist auch hier mehr als ein bloßer Hintergrund. Sie ist ein Spiegel für die Gefühle und Sehnsüchte der Figuren, etwa wenn Mogi davon träumt auf einer kleinen Insel im Han einen riesigen Inline-Park, nur für sich selbst, zu bauen. Seoul scheint eine unendliche Vielfalt an Schauplätzen zu bieten, und die Regisseurin weiß sich ihrer geschickt zu bedienen. Sie weiß eine zeitlose Geschichte von Selbstfindung, Rebellion und Freundschaft in einen ganz konkreten Punkt in Raum und Zeit zu versetzen, um ihr so zu neuer Glaubwürdigkeit zu verhelfen.
Paper Dolls
(Tomer Heymann,
Panorama Dokumente)
Originaltitel: Bubot Niyar, Israel / Schweiz, Kamera: Itai Raziel, Schnitt: Lavi Ben Gal, Musik: Eli Soorani, 80 Min.
Die
Paper Dolls sind eine Gruppe von den Philippinen stammende Transsexuelle, die in Israel als Altenbetreuer arbeiten, Niedriglohnjobs, für die nach dem Beginn der Zweiten Intifada (und den damit nicht mehr zur Verfügung stehenden Palästinensern) ausländische Gastarbeiter ins Land gelockt werden, die allerdings nur solange ein Visum besitzen, wie sie diese Jobs ausüben. Eine Entlassung oder ein verstorbener Arbeitsgeber kommt einem Landesverweis gleich.
Die alten, zumeist extrem orthodoxen Juden wissen nicht in allen Fällen, was ihre Pfleger(innen) so am freien Abend treiben, wie sie beispielsweise versuchen, einen Auftritt in der angesagtesten Disco Tel Avivs, dem „TLV“, zu organisieren. Die Kamera verfolgt die unterschiedlichen Charaktere vorbehaltlos, wenn auch die Szene des inmitten einer erzorthodoxen Sitzung über Walkman „The Winner takes it all“ hörenden Philippinos extrem nachgestellt wirkt. Die musikalischen Darbietungen der
Paper Dolls, vom über den Vorspann gelegten
Que sera sera, über das als Playback eingespielte
Venus von
Bananarama bis hin zum
Paper Dolls-Themensong (“Can you feel / can you see me at all / I’m not real / I’m a paper doll [ …] can you feel / I’m neither boy nor girl“) sind hierbei unwichtiger für den Film als die Einzelschicksale, die sexuelle Verortung, die prekäre Situation und die politische Notlage. Ist schon der soziale Status der Protagonisten „ganz unten“, werden sie für ihren Traum vom großen Auftritt auf perfide Weise sogar noch weiter erniedrigt. Mit einer eingeschränkten Besetzung sollen sie ausgerechnet als Geishas auftreten, und nach einem weiteren Privatauftritt wird ihnen einfach ins Gesicht gesgt, daß ihr Auftritt nicht professionell genug ist. Was soll man denn erwarten von hartarbeitenden Krankenpflegern, die ihr Hobby teilweise vor ihrer Umwelt geheimhalten müssen?
In Interviews mit Passanten erschließt sich manchmal ein verstörendes Hasspotential gegen Männer, die Frauenkleider tragen, was von Taxifahrern etc. teilweise wie eine Todsünde oder ein Landesverrat dargestellt wird. Da ist der sympathische Regisseur von einem ganz anderen Kaliber und so wie er fühlt man mit den Schicksalen der
Paper Dolls mit, verliebt sich geradezu in jenen einen Greis, der die Sexualität seines Pflegers akzeptiert hat, und sogar nachfragte, ob die männliche oder weibliche Anrede bevorzugt wird. Trotz teilweise amateurhaften Arbeitsumständen (der Filmcrew) wirkt
Paper Dolls spätestens durch die überzeugende Montage wie ein Film, den man ernst nehmen muß, und der einem Personen ans Herz wachsen lässt, über deren Existenz man vor diesem Film wahrscheinlich keinen Gedanken verschwendet hat. Nach dem Film ist dies anders, und das ist bereits eine bedeutende Leistung.
The Peter Pan Formula
(Cho Chang-ho,
Forum)
Südkorea 2005, Originaltitel: Peterpan-eui gongsik, Buch: Cho Chang-ho, Kamera: Kim Yong-chul, Schnitt: Kim Hyung-joo, Musik: Kim Myung-jong, mit On Ju-wan (Han-soo), Kim Ho-ung (In-hee), Ok Ji-young, Park Min-ji, 108 Min.
In vergangenen Berlinale-Jahrgängen waren koreanische Forums-Beiträge oft die Geheimtips (
Mil-ae, This Charming Girl), doch ebenso wie Host & Guest konnte mich auch dieser Debütfilm über das Coming-of-Age eines Schwimmtalents nicht völlig überzeugen.
Der 17jährige Han-soo hält von einer Karriere als Schwimmer ähnlich wenig wie der ältere Bruder der von Emile Hirsch gespielten Figur in
Imaginary Heroes, doch hier ist es nicht der Junge, sondern seine Mutter, die einen Selbstmordversuch unternimmt, was das Leben für Han-soo auch nicht einfacher macht. Nachdme er sich entschieden hatte, mit dem Schwimmen aufzuhören (“Ich werde nie mehr sein als einer der besten Schwimmer Asiens“), wird er nicht nur von seinem Trainer und den ehemaligen Teamkollegen bedroht, plötzlich scheint das Schwimmen auch der einzige Ausweg aus einer sich schnell andeutenden finanziellen Misere. Die Mutter hat zwar auf ihrem Abschiedsbrief die Adresse des Han-soo unbekannten Vaters notiert, doch diesen zu konfrontieren, dafür ist Han-soo noch nicht bereit. Wegen seiner im Koma liegenden Mutter wird er vom Unterricht befreit (für die ganze Schule scheint nur wichtig zu sein, daß Han-soo wieder schwimmt), und so verbringt er fortan viel Zeit zuhause und im Krankenhaus, am Bett der Mutter. Dabei wird er fast gleichzeitig auf die etwa gleichaltrige Tochter (Mijin) einer im selben Zimmer stationierten anderen komatösen Mutter und seine klavierspielende, verheiratete und etwas ältere Nachbarin (In-hee) aufmerksam, und fortan sind die sexuellen Verwicklungen des Films durchaus amüsant. Han-soo bekommt mit, wie sich Mijin für einen Quickie in Krankenhaus-Nähe verabredet, und findet später im Wald ihre Strumpfhose. Von der Wäscheleine der Nachbarin weht ein Schlüpfer herunter, das er als Masturbationshilfe benutzt, die Strumpfhose benutzt er später, um mit Überfällen auf Tankstellen etc. Geld für die Hospitalkosten aufzutreiben. Der leise Humor und die melancholische Stimmung des Films faszinieren, doch die letzten zwanzig Minuten sind offensichtlich nur zu verstehen, wenn man ein profundes Wissen über koreanische Symbole hat. Das erste Bild des Films zeigt einen Leuchtturm, irgendwann scheint Han-soo mal zu ertrinken (weder dramaturgisch noch in Bezug auf seine Person überzeugend) und am Schluß des Films schwimmt er dann auf jenen Leuchtturm zu. Soweit die verhältnismäßig leicht zu interpretierenden Details. Ich habe mich nach dem Film einfach rigoros (und etwas ignorant) dafür entschieden, die mysteriösen letzten zwanzig Minuten des Films als Traumsequenz zu deuten, was den Film noch halbwegs rettet. Das ist nur eine Notlösung, aber wer ähnliche Probleme mit dem Film wie ich hat, darf sie gerne übernehmen. Andererseits dürfen mir erleuchtete (oder koreanische) Besucher des Films, die die letzten 20 Minuten verstanden haben, aber auch gerne ihre Interpretation schicken, meine E-Mail-Adresse findet man im Impressum …
Der die Tollkirsche ausgräbt
(Franka Potente,
Perspektive Deutsches Kino)
Deutschland 2005, Buch: Franka Potente, Kamera: Frank Griebe, Schnitt: Antje Zynga, Kostüme: Ingrid Buhrmann, Maske: Monika Münnich, mit Emilia Sparagna (Cecilie), Christoph Bach (Punk), Justus von Dohnanyi (Vater), Max Urlacher (Alfred), Teresa Harder (Mutter), Regine Zimmermann (Köchin/Hausmädchen), Alexander Seidel (Theo), Stefan Arndt (Pfarrer), 40 Min.
Wie eine große Sensation wird das Regiedebüt von Franka Potente mitunter dargestellt, die größte Sensation aber ist es, daß Alfred Holighaus, Leiter der Perspektive Deutsches Kino, allen Ernstes für einen 40minütigen Film den vollen (und nicht eben günstigen) Berlinale-Eintrittspreis verlangt, während drei andere
Perspektive-Filme dreier weniger prominenter Regisseure mit Laufzeiten zwischen 25 und 36 Minuten drei Tage später für den selben Preis angeboten werden. Da es bei Filmen aber um Qualität und nicht Quantität geht (und ich die drei anderen Filme nicht gesehen habe), an dieser Stelle kein Vergleich, sondern nur einige Worte zu Frau Potentes schwarz-weißen Stummfilm mit Ton (der wahrscheinlich auch beim Vergleich mit Lukas Moodyssons
Container - ebenfalls noch nicht gesehen und mit 74 Minuten fast doppelt so lang - den (pun not intended) Kürzeren ziehen würde).
Der Film spielt im Jahre 1918 - und entspricht auch im Großen und Ganzen dem damals gängigen Stil. Vor dem Film werden die Figuren mit bewegten Bildern einzeln vorgestellt, die Kamera ist starr, das Make-Up kontrastreich, die Kostüme Klischees entsprechend, die Mimik (und Musik) theatralisch, der Humor slapstickartig und aus irgendwelchen Gründen soll das Filmmaterial auch so aussehen, als hätte es schon diverse Jahre hinter sich - auch wenn man sich hierbei mehr Mühe hätte geben können - Der (hier auch reichlich deplazierte) Computer ist halt doch nicht die Antwort auf
alle Fragen.
Die aus verarmten Landadel stammende Cecilie (Emilia Sparagna) soll den reichen, aber wenig ansehnlichen Alfred heiraten, doch am Tag vor der Hochzeit wird vor dem Haus aus einer eingebuddelten Mumie ein quicklebendiger Punk (Christoph Bach) ausgewickelt, der ganz selbstverständlich die (vorhandene) Tonspur benutzt, statt über Zwischentitel zu kommunizieren - eine Sensation, in die sich Cecilie wenig überraschend in Rekordzeit verliebt. Es folgen einige Irrungen und Wirrungen, bei denen gleich zweifach Zaubertränke und dunkle Mächte ins Spiel gebracht werden, eine der schönsten Ideen ist noch die Seelenverwandschaft des Pornographie mit sich führenden Punks mit Cecilies notgeilem Vater, der sich im Keller, angespornt durch Bondage-Zeichnungen eine veritable spanking machine gebastelt hat.
An manchen Stellen entwickelt der Film einen eigentümlichen Charme - etwa wenn wie in einer Murnau-Sequenz die mit extrem langen Fingernägeln verzierten Hände eines Dämonen ein Opfer in eine Erdspalte zerren, und das Ganze trotzdem recht lustig wirkt, doch leider werden wir einen nicht immer gelungenen Gag hier auch schnell die guten Vorsätze vergessen und spätestens, wenn man über den Sinn und Unsinn der zweimaligen Zeitreise nachdenkt, ist man eigentlich zufrieden, daß Der die Tollkirsche ausgräbt nur 40 Minuten geht - die guten Ideen hätten nämlich normalerweise nur für 25 Minuten gereicht, und bei einem Anderthalb-Stunden-Film hätte das Resultat wahrscheinlich qualitativ noch mehr gelitten. In nahezu jeder Kritik dieses Films fällt das Wort „Fingerübung“ - ich finde allerdings, daß dieser Begriff verharmlost, daß bei diesem Film für die Filmmusik niemand geringerer als das Filmorchester Babelsberg unter Führung von Musik-Professor Bernd Wefelmeyer (mein Schwiegervater in einem Paralleluniversum) engagiert wurde, X-Filme-Mitbegründer Stefan Arndt produziert und sogar mitspielt und Frank Griebe (
Lola rennt, Herr Lehmann, Good Bye, Lenin!) hinter der Kamera steht. Wenn das Resultat dann trotz einiger putziger Ideen und einer halbwegs gelungen Ehrerweisung an das Medium Stummfilm derart mittelprächtig ausfällt, kann auch der Verweis darauf, daß es sich ja „nur“ um ein Regiedebüt handelt, nicht als Entschuldigung herhalten - in ihren Jahren an der Seite von Tom Tykwer hätte Frau Potente einfach mal besser aufpassen sollen …
Auch ihre in Teamarbeit geleistete (etwas eindimensionale) Interpretationsarbeit im Tip-Interview, daß die Hauptfigur Cecilie ihrer Zeit voraus ist, und der Punk weniger für eine Lovestory steht, sondern die Stimme ist, die dieser Frau jetzt verliehen wird, kann dem Film keine wirkliche Bedeutung verleihen.
Tykwers Regiedebüt
Because (1990, 34 Minuten, Kamera: Frank Griebe) hat sicherlich sehr viel weniger gekostet und wirkt selbst heute noch trotz diverser kleiner Makel überzeugend, während von
Der die Tollkirsche ausgräbt (übrigens auch ein saubescheuerter Titel) in 15 Jahren sicherlich kein Hahn mehr kräht - ach ja, der ist ja auch in der Suppe gelandet …
Dead Run
(Sabu,
Panorama)
Int. Titel: Shisso, Japan 2005, Buch: Sabu, Lit. Vorlage: Kiyoshi Shigematsu, Kamera: Masao Nakabori, Schnitt: Tomoyo Oshima, Musik: S. E. N. S., mit Yuya Tegoshi (Shuji), Hanae Kan (Eri), Miki Nakatani (Akane), Ren Osugi (Nitta), Etsushi Toyokawa (Father Yuichi), 125 Min.
Seit sein Regiedebüt
Dangan Runner 1997 im Panorama lief, kommt Hiroyuki Tanaka alias „Sabu“ immer wieder gerne zur Berlinale, wo seine Filme ebenso wie seine witzigen Auftritte immer wieder ein begeistertes Publikum finden. Nachdem sein letzter Film
Hard Luck Hero eine verspielte Inszenierung einer bekannten japanischen Boygroup war, hat er sich nun einer Romanverfilmung angenommen, und das Resultat unterscheidet sich explizit von den sonst so quirligen Filmen des Regisseurs.
Mit einer Erzählperspektive, die lange Zeit verwirrend scheint, wird vom Coming-of-Age des 15jährigen Shuji berichtet. Als Zehnjähriger hatte Shuji mal eine Panne mit seinem Rad und wurde im Auto des berühmt-berüchtigten Yakuza Demon-Ken mitgenommen, der wenige Tage später tot und mit zerstochenen Augen im Wald gefunden wird. Dies macht auf den Knaben ähnlich viel Eindruck wie die sexuellen Eskapaden, die „Demon-Ken“ während der Autofahrt mit seiner Freundin Akane andeutet.
Während Shuji sich für eine neueröffnete christliche Kirche in der Nähe interessiert - und ganz nebenbei auch für seine neue schnucklige Klassenkameradin Eri, die ihre Eltern bei einem Doppelselbstmord verlor und seitdem Zeit in der Kirche verbringt, hat Shujis älterer Bruder Shuichi (die Namensähnlichkeit wird ein Grund für meine Verwirrung während des Films gewesen sein) die These entwickelt, daß es sich bei Father Yuichi, dem Oberhaupt dieser Kirche, um einen Mörder handelt, dessen seltsamer Fall früher mal viel Aufregung verursachte. Bei einer Konfrontation mit dem Geistlichen erzählt dieser aber die ganze Geschichte, bei der wiederum Yuji, der Bruder des Priesters, eine wichtige Rolle spielt. Soweit ist das Handlungsgerüst mit seinen Parallelsträngen recht nachvollziehbar. Und auch die Darstellung des Schulalltags mit der aufsäßigen Eri, deren lange Haare gegen die Schulordnung verstoßen, ist präzise, interessant und manchmal sogar spannend. Den Prolog mit dem Yakuza hat man schon fast wieder vergessen, als plötzlich erpresserische Gangsterbanden Grundstücke aufkaufen wollen, und es sowohl Eri als auch Shuji nach Tokyo verschlägt, wo sich weitere Verbrechen und Verbrecher auftun. Eris doppelter Hilferuf „Please someone kill me“ / „Please someone live with me“ scheint an irgendeiner Stelle auch auf den Film überzugehen, dessen zweistündige Laufzeit trotz immer wieder gelungener Passagen im zuschauer eine ähnliche Ambiguität hervorruft. Um mir wirklich ein Urteil über diesen Film erlauben zu können, muß ich entweder den Roman lesen oder den Streifen zumindest nochmal anschauen - streng genommen habe ich aber auf beides keinen Bock.
Big River
(Funahashi Atsushi,
Forum)
USA / Japan 2005, Buch: Eric Van Den Brulle, Funahashi Atsushi, Kamera: Eric Van Den Brulle, Schnitt: Steve Hamilton, Musik: Janek Duszynski, mit Joe Odagiri (Teppei), Kavi Raz (Ali), Chleo Snyder (Sarah), 105 Min.
Besonders stolz ist man unter den Berlinale-Programmmachern, wenn ein „ehemaliges Talent“ (Original-Ton Cathy Rohnke bei der Pressekonferenz), d. h. ein früherer Besucher des
Berlinale Talent Campus, den Aufstieg in eine der Berlinale-Programm-Rubriken vollbringen konnte. Man erinnere sich nur an die Vorschusslorbeeren des letztjährigen Forums-Eröffnungsfilm Lost and Found - ob dem Publikum das Resultat auch gefällt, scheint hier mitunter Nebensache.
Big River ist so eine multinationale Zusammenarbeit eines japanischen „ehemaligen Talents“, das zusammen mit einem offenbar aus den Niederlanden stammenden ehemaligen „Starphotographen“ als
Director of Photography und Co-Autor, und als Darstellertriumvirat dem vorgeblichen „japanischen Superstar“ Joe Odagiri, einer jungen amerikanischen (und natürlich gutaussehenden und in
hot pants und Bikini auftretenden) Schauspielerin und dem bereits recht erfahrenen Inder Kavi Raz (u. a.
Pet Sematary, Star Trek-Folge
Lonely Among Us) in der Wüste Arizonas die Schauplätze ehemaliger John Ford-Western abklappert und bis zum Vorspann des Films bereits die straighte, aber unglaubwürdige Prämisse eines
Road Movies, bei dem zwei sehr unterschiedliche Figuren im selben Auto landen, abgekurbelt hat.
Der japanische Ruchsacktourist Teppei stolpert mit mangelhaften Wasservorräten über den mit seinem Auto feststeckenden Pakistani Ali, repariert kurz dessen Auto, schnappt sich eine Flasche Wasser vom Rücksitz und ist bereits der neue Mitfahrer des seine abspenstige Frau suchenden Moslems. In der Nähe eines Trailerparks gabeln die beiden dann noch Sarah auf, die natürlich mit dem jungen Japaner eine Art Affäre / Lovestory beginnt, und schließlich geben sich die beiden oft aneinander vorbeiredenden und in Beziehungsfragen offensichtlich überforderten Männer gegenseitig Ratschläge, wie man mit Frauen umzugehen hat - was sich irgendwo zwischen den Extremen
casual sex und lebenslangen Besitzansprüchen abzuspielt.
Wenn Ali und Teppei im Trailer-Park schief angeschaut werden (Japaner und Araber, traditionelle und moderne Feindbilder rotten sich zusammen) oder sich eine Routine-Polizeikontrolle zu einer fremdenfeindlichen Anti-Terrorismus-Kampagne entwickelt, deutet sich auch mal kurz eine politische Brisanz an, doch im Endeffekt wirkt der Film dann doch nur wie eine multikulturelle Studenten-Version eines schlechten Wenders-Films, inspiriert womöglich durch
Paris, Texas und
Land of Plenty.
Neben einigen üblichen Filmstudenten-Vergehen wie der im Kofferraum installierten Kamera nerven vor allem die sich immer wieder in den Vordergrund spielenden Postkarten-Ansichten des
Death Valley, die aber immerhin vom Film selbst bei einem noch ziemlich gelungenen Assoziationsspiel mit dem
Marlboro Country in Verbindung gebracht werden (“desert“ - „cigarette“). Die beiden überforderten jungen Darsteller (Kavi Raz überzeugt als einziger) verlieren sich schließlich irgendwo im improvisierten Drehbuch, das offensichtlich um die bevorzugten
Locations drapiert wurde - für Studentenfilme an sich legitim, doch der von Wenders übernommene Habitus eines „Schweinchen Schlau“ funktioniert natürlich nur, wenn der Zuschauer tatsächlich von der Profundität des Themas und der Dramatik der Narration gefangengenommen wird - wovon dieser Film allerdings meilenweit entfernt ist.
Vier Fenster
(Christian Moris Müller,
Perspektive Deutsches Kino)
Buch: Christian Moris Müller, Kamera: Jürgen Jürges, Schnitt: Maja Stieghorst, Musik: Chandra Fleig, Annette Focks, mit Thorsten Merten (Vater), Margarita Broich (Mutter), Frank Droese (Sohn), Theresa Scholze (Tochter), 80 Min.
Die erste Einstellung dieser Koproduktion zwischen HFF München und HFF Potsdam ist noch besonders verwegen. Die Kamera ist offensichtlich in einer Fahrstuhlkabine fest in Bauchhöhe installiert und man sieht (so die Tür offensteht) aus dieser Kabine heraus auf den Hausflur. Bis dann mal wieder Menschen einsteigen, die Tür sich schließt und der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt, wo er seine Fahrgäste wieder entlässt. Da
Vier Fenster nur 80 Minuten geht und diese erste Einstellung schon eine Zeitlang gehalten wird, dachte ich anfangs tatsächlich, dies wäre das erste von vier Fenstern und sinnierte, ob man auf diese Art wohl einen narrativen Film konstruieren könnte. Doch dann beginnt irgendwann der eigentliche Film, bevor dann sogar der Zwischentitel „1“ folgt, und man damit das erste „Fenster“ markiert ahnt.
Die titelgebenden Fenster des Films sind die unterschiedlichen Perspektiven vierer Personen, die nie einen Namen erhalten und auch in den Stabangaben nur als „Mutter“, „Vater“, „Sohn“ und „Tochter“ aufgeführt werden. Spätestens im dritten Kapitel merkt man, daß die vier Kapitel nicht chronologisch aufeinanderfolgen, sondern jeweils den selben Tag beschreiben, ähnlich wie bei Tarantino oder Jarmusch.
Durch die Perspektivverschiebung wird auch immer wieder der Akzent der Geschichte neu gesetzt, und man bekommt nach und nach mehr Hintergrundinformationen, wofür ich jetzt ein konkretes Beispiel geben könnte, doch das problem des Films ist leider, daß die Geschichten trotz einiger absichtlichen Provokationen wenig erzählenswert sind und insbesondere der narrative Kniff schlichtweg nur ins Leere führt. Ein wiederkehrendes Motiv des Tages jeder der vier Familienmitglieder ist die Begegnung mit potentiellen Sexualpartnern, sei es auf der Straße, in der U-Bahn, im Hausflur oder im Pornokino. Doch wenn selbst die Anekdoten darüber, wie die Cutterin das Pornomaterial (“oh yeah, baby!“) zusammentragen mußte, spannender sind als der eigentliche Film, und auch die teilweise bekannten Darsteller (Thorsten Merten ist der Radiomoderator aus Halbe Treppe, Frank Droese der
angry young man aus
alaska.de) seltsam farblos erscheinen, fragt man sich nicht nur, was die komplizierte Erzählkonstruktion, sondern vor allem, was der ganze Streifen soll.
Coming soon in Cinemania 26 (Berlinale Marathon):Ein wahnwitziger Rekordversuch: acht Filme an einem Tag (und dann auch noch einem Sonntag):
Der Kick (8:20),
Knallhart (10:00),
1:1 (En til en) (11:50),
Leonard Cohen I’m Your Man (13:30),
Wuji (The Promise) (16:00),
The Science of Sleep (18:30),
Wittgenstein (21:00) und
Fucking Åmal (22:45).