Cinemania 29:
Berlinale Sake
[Alle Rezensionen außer zu Strange Circus von Thomas Vorwerk]
Strange Circus
(Sono Sion,
Forum)
Originaltitel: Kimyo na sakasu, Japan 2005, Buch und Musik: Sono Sion, Kamera: Otsuka Yuichiro, Schnitt: Itou Junichi, mit Miyazaki Matsumi (Sayuri/Taeko), Ishida Issei (Yuji), Kuwana Rie (Mitsuko), Oguchi Hiroshi (Gonzo), Taguchi Tomorowo, 108 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger] Ähnlich wie Yonfans
Colour Blossoms im Panorama des letzten Jahres ist Strange Circus eine extrem stilisierte, allegorische Sex- und Gewaltfantasie, die mit verschiedenen Realitätsebenen spielt und ein Verwirrspiel mit dem Zuschauer treibt. Und auch
Strange Circus wird die meisten Zuschauer wohl eher vor den Kopf stoßen (oder langweilen) als begeistern. Aber im Unterschied zu Yonfans Film, dessen Screening im Zoo Palast etwa ein Drittel des Publikums vorzeitig verließ, ist Strange Circus keine Leere Hülle, die nach Belieben und Gutdünken vom jeweiligen Betrachter mit Bedeutung aufgefüllt werden kann – oder eben auch nicht. Die Geschichte von Strange Circus lässt sich trotz aller dramaturgischen Kniffe und Wendungen und allen inszenatorischen Exzesses auf einen einfachen Kern reduzieren: die Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Tochter nach dem Missbrauch der 12-Jährigen durch den Vater, die von Schuld, Verleugnung und dem Verlangen nach Rache bestimmt sind.
Strange Circus konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die Schuld der Mutter – ein Aspekt, der in Geschichten von Missbrauch innerhalb der Familie oft vernachlässigt wird – ohne dabei jedoch die Schuld des Täter-Vaters zu mindern.
Was genau in der Psyche der Beteiligten vor sich geht, versucht der Film symbolisch zum Ausdruck zu bringen. So wird Mitsuko, die Tochter, zu Beginn des Films in einer surrealen Zirkusvorstellung auf die Bühne geholt, um guillotiniert zu werden. Sie kommentiert ihre Geschichte aus dem Off: „I was sentenced to death at birth.“ Der Zirkus erinnert an Travestie-Shows, an Variété, an Fasching, er ist vor allem bunt, skurril und ein wenig unheimlich; auch das Publikum steht den Artisten nichts nach in seiner Exzentrizität. Von dieser surrealen Einführung springt der Film zum Beginn der Geschichte, in die Vergangenheit: er schildert den Missbrauch, und zwar so wie Mitsuko ihn erlebt hat. Nachdem sie die Eltern zuerst zufällig beim Sex erwischt hat, macht der Vater sie zur Beobachterin, bezieht sie schließlich in das Liebesspiel der Erwachsenen ein. Rote Wände, mit Blut verschmiert, dienen als Symbol für Mitsukos verlorene Unschuld. Ein Ausweg für Mitsuko ist es, sich vorzustellen, sie nähme nach und nach immer mehr die Stelle der Mutter ein, die ihrerseits grausamerweise mit Eifersucht auf die Tochter reagiert.
Doch dann wechselt der Film erneut die Perspektive: man erfährt, dass Mitsukos Geschichte der Phantasie der Schriftstellerin Taeko entsprungen ist. Doch wer ist Taeko wirklich? Ist ihr neuester Roman autobiographisch? Und ist sie tatsächlich auf ihren Rollstuhl angewiesen? Der junge, asexuell wirkende Yuji versucht, Taekos Geheimnissen auf die Spur zu kommen, doch auch er ist von einer mysteriösen Aura umgeben. Er ist schweigsam und gefügig, und scheint viel mehr zu wissen, als er nach außen dringen lässt. Schließlich ist er es auch, der Taeko und die Zuschauer mit der Wahrheit konfrontiert
[Achtung: Spoiler Alert!]: Taeko ist nicht die gealterte Mitsuko, sondern Sayuri, ihre Mutter, die aus Unfähigkeit, mit ihrer eigenen Schuld umzugehen, in eine andere Realität geflohen ist, in der sie den Platz des Opfers, ihrer Tochter, einnimmt. Diese verlangt nun endlich von der Mutter, dass auch sie sich ihrer Schuld stellt. Der Zirkus und die Guillotine tauchen am Ende des Films ebenso wieder auf wie viele andere Motive der Gewalt und der seelischen Zerstörung, die in ein spektakuläres Finale der Grausamkeit münden.
Damit die Allegorie funktioniert, darf die Inszenierung nicht völlig den Bezug zur Realität, zugunsten der Symbolik, verlieren; die extreme Darstellung kann nur als Ausdruck ebenso extremer Konflikte und Emotionen gerechtfertigt werden, sonst gleitet sie ins Sinnlose, Lächerliche ab. Und wenn dies in
Strange Circus gelingt, so ist das größtenteils das Verdienst der Schauspieler: von Miyazaki Matsumi als Taeko und Ishida Issei als Yuji. Sie bestechen vor allem in den Situationen, in denen noch alles in der Schwebe ist – solange man noch nicht weiß, welche Schuld tatsächlich auf der Mutter lastet und welche Schuld die Tochter vielleicht noch auf sich laden wird. Die vorherige leise Andeutung einer tiefen Wunde ist es, die dem gewalttätigen Ausbruch von Emotionen Macht verleihen kann. Und auch, dass der Film am Ende so offen konstruiert ist, dass sich jeder Zuschauer letztlich seine eigene Auflösung denken kann, trägt zum Eindruck des Films bei.
Auch wenn
Strange Circus noch weit entfernt ist von einer so eindringlichen Reflexion über Gewalt, wie sie etwa in Takashi Miikes
Audition zu finden war (an den
Strange Circus stellenweise durchaus erinnert), so graben sich seine ebenso düsteren und abstoßenden wie teilweise auch faszinierenden Bilder doch tief ins Gedächtnis ein.
Parineeta
(Pradeep Sarkar,
Forum)
Indien 2005, Buch: Pradeep Sarkar, Vidhu Vinod Chopra, Dialoge: Vidhu Vinod Chopra, Rekha Nigam, Lit. Vorlage: Saratchandra Chattopadhyay, Kamera: S. Natarajan Subramaniam, Schnitt: Hemanti Sarkar, Musik: Shantanu Moitra, Kostüme: Subarna Ray Chaudhuri, Art Direction: Keshto Mondal, Pradeep Sarkar, Tanushree Sarkar, mit Saif Ali Khan (Shekhar Rai), Vidya Balan (Lolita), Sanjay Dutt (Girish Babu), Sabyasachi Chakravarthy (Nabin Ray), Achyut Poddar (Gurucharan Das), Diya Mirza (Gayatri Tantia), Raima Sen (Koel), Rekha (Sängerin im „Moulin Rouge“), Meghna Kothari (Sängerin bei Hochzeit), 129 Min. Noch vor drei, vier Jahren war das „Internationale Forum des jungen Films“ innerhalb der Berlinale eine der wenigen Möglichkeiten,
überhaupt Bollywood-Filme zu sehen, doch inzwischen haben selbst Provinz-Videotheken eine eigene Bollywood-Ecke und auf RTL-Plus oder arte laufen die indischen Musical-Melodramen fast regelmäßig. Deshalb diesmal auch nur einmal Bollywood im Forum, noch dazu mit nur 129 Minuten eher ein „Kurzfilm“.
Die in Indien wohlbekannte (und bereits mehrfach verfilmte) Geschichte eines Romans von Sarat Chandra Chattopadhyay wurde diesmal von 1913 nach 1962 verlegt, wodurch die männliche Hauptfigur, der Komponist Shekhar (Saif Ali Khan) sogar für Elvis schwärmen kann (hier exemplarisch der Song
Heartbreak Hotel). Shekhar ist der Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmanns, und hat seine Kindheit gemeinsam mit Lolita (Vidya Balan) verbracht, einer Waisen, die von der Familie ihres Onkels, einem ebenfalls wohlhabenden Nachbarn von Shekhars Familie, aufgenommen wurde. Über die Jahre verbindet die beiden ein beiderseitiges Vertrauen und eine Freundschaft, aus der natürlich mehr wird, auch wenn sich dem jungen Glück mal wieder einige Intrigen und sämtliche denkbaren und undenkbaren Zufälle in den Weg stellen.
Auffallend an
Parineeta sind zunächst die in goldenen Sepia-Tönen gehaltenen Bilder des Kalkutta von 1962, bei dem man zunächst von einer kleinen Rückblende ausgeht, doch die nostalgische Einstimmung steht für den ganzen Film. Das
Production Design ist oft auffallend und verschwenderisch, dafür fehlen die Bollywood-typischen Tanzszenen fast völlig. Bis zum Sehnsuchts-Song im Zug (etwa zwanzig Minuten vor Ende des Films) haben sämtliche Songs eine diegetische Verankerung im Narrativ, was oft positiv wirkt (die gemeinsamen Kompositionen des unglücklichen Paares, die auch viel über ihre Liebe sagen), manchmal aber insbesondere für ein westliches Publikum sehr eigentümlich, denn die alte Frau, die den typischen Hochzeit-Song trällert, entspricht ebensowenig gängigen Schönheitsidealen wie die Nachtclubsängerin, die wie eine abgetakelte Mischung aus Dorothy Vallens aus
Blue Velvet und der „Wicked Witch“ aus
The Wizard of Oz anmutet.
Die oft dunkle Atmosphäre wird auch durch einige kaum verzeihliche Aktionen Shekhars verstärkt, der teilweise wirklich ganz der Sohn seines Vaters, der bösen „Hitler Rai“ genannten Geschäftsmanns, zu sein scheint.
Ebenfalls sehr westlich ist, daß einige Szenen für Bollywood-Verhältnisse fast pornographisch wirken. Wo sonst sogar ein simpler Kuss verpönt wird, gibt es hier zwei nur geringfügig kaschierte Kussszenen und sogar eine „Bettszene“, die zwar nur andeutet, aber selbst dies ist man in Bollywood, wo nur geschmachtet aber nicht gerammelt wird, einfach nicht gewöhnt.
Was ich aber alles nicht unbedingt negativ bewerten möchte, denn jede Besonderheit ist bei einem so rigide nach bestimmten Regeln ablaufenden Genre eine Erfrischung. Im Gegensatz zu den hässlichen Sängerinnen wirkt das Liebespaar des Films diesmal übrigens außergewöhnlich gutaussehend. Saif Ali Khan hat vielleicht noch nicht das Charisma und die Routine eines Shah Rukh Khan, aber besser aussehen tut er allemal. Vielleicht gehört ja auch der Kontrast zwischen dem Erscheinungsbild unterschiedlicher Figuren zum Konzept des Films. Der in Indien recht bekannte Sanjay Dutt als Girish wirkt so mit seinen Wurstfingern ebensowenig als ernstzunehmende Alternative für Lolita wie die zwar gutaussehende, aber schier unerträgliche Gayitra, die Shekhar ehelichen soll …
Close to Home
(Dalia Hager & Vidi Bilu,
Forum)
Originaltitel: Karov la bayit, Israel 2005, Buch: Dalia Hager, Vidi Bilu, Kamera: Yaron Scharf, Schnitt: Joelle Alexis, Musik: Yontan Bar Giora, mit Smadar Sayar, Naama Schendar, Irit Suki, Katia Zimbris, Ami Weinberg, Danny Geva, 90 Min. Close to Home ist ein Film, der es sich zunächst einmal unnötig schwer macht, ernst genommen zu werden, denn jener Gang mit einigen Kabinen für die Zolldurchsuchung sieht erstmal nach nicht sehr überzeugenden Kulissen aus, die dann auch noch in wenig inspirierter 1970er Jahre Art ausgeleuchtet sind. Wenn man bedenkt, wieviel überzeugender spätere Außenaufnahmen wirken, oder an die Art und Weise denkt, wie in diesem Film etwa eine Bombenexplosion trotz geringem Budget recht überzeugend inszeniert wird, fragt man sich, warum die Macher sich ausgerechnet bei den ersten Bildern des Films so wenig Mühe gaben.
Doch die etwas konstruierte, aber dennoch interessante Geschichte des Films täuscht den Betrachter über diese frühen Mängel hinweg.
Close to Home schildert den Alltag zweier zunächst sehr unterschiedlicher israelischer Soldatinnen, die durch ihre unterschiedliche Dienstauffassung zunächst aneinander geraten. Während Smadar bereits geschult darin ist, ihre Vorgesetzte auszutricksen, um den täglichen Patrouille-Gang in einen Spaziergang mit etwas Shopping zu verwandeln, macht die neue Mirit es gleich klar, daß sie ihren Dienst streng nach den Regeln durchzuführen gedenkt. Da die beiden zusammen eingeteilt werden, machen sie es sich gegenseitig unnötig schwer (worauf die Vorgesetzte Dubeck nur gehofft hat). Möglichst viele Verdächtige, die „wie Araber aussehen“, sollen einer Personenkontrolle unterzogen werden, der dazugehörige Fragebogen gibt Auskunft darüber, wie „fleissig“ die jeweilige Gruppe war. Doch während Mirit durch akkurat geführte Berichte positiv auffallen will, will Smadar allenfalls den Anschein wahren und keinen Stress mit zumeist harmlosen Passanten haben.
Zwei Dinge verändern das Verhältnis zwischen den zwei jungen Frauen. Zum einen der junge Mann, auf den Mirit während einer Patrouille ein Auge geworfen hat, und bei dessen Kennenlernen Smadar gerne behilflich wäre, zum anderen die eingangs bereits erwähnte Bombenexplosion, die sich natürlich mitten im „Revier“ der beiden Protagonistinnen ereignet.
Mir widerstrebt es, zuviel über den Ausgang der Geschichte zu verraten, abgesehen von einigen nicht unbedingt als „subtil“ zu bezeichnenden Darstellerleistungen (das erste Auftauchen des vermeintlichen „Märchenprinzen“) überzeugt der Film durch seinen leisen Humor und nicht übermäßig politische, aber dennoch sehr aktuelle Geschichte. Man fühlt sich erstaunlich heimisch in dieser Geschichte.
Offside
(Jafar Panahi,
Wettbewerb)
Iran 2006, Buch: Jafar Panahi, Shadmehr Rastin, Kamera: Mahmood Kalari, Schnitt: Jafar Panahi, Musik: Korosh Bozorgpour, mit Sima Mobarak Shahi (Erstes Mädchen), Safar Samandar (Soldat aus Aserbaidschan), Shayesteh Irani (Rauchendes Mädchen), M. Kheyrabadi (Soldat aus Mashad), Ida Sadeghi (Fußballspielerin), Goldaz Farmani (Frau mit Schador) Mahnez Zabihi (Soldatin), Nazanin Sedighzadeh (Junges Mädchen), M. Kheymed Kabood (Soldat aus Teheran) Mohsen Tanabandeh (Kartenverkäufer), Reza Farhadi (Alter Mann), 88 Min. Einer der zwei mit dem „Großen Preis der Jury“ ausgezeichneten Filme stammt aus dem Iran, der andere aus Dänemark. Diese Verbrüderungsgeste der Jury nach dem auch noch während der Berlinale viel Staub aufwirbelndem „Skandal“ um eine Mohammed-Karikatur in einem dänischen Provinzblatt kann man wohl kaum offensichtlicher gestalten, ohne dabei auch noch die letzte
credibility (hier sollen Filme ausgezeichnet werden!!!) zu verlieren.
Immerhin haben beide Themen die Emanzipation (Bei
En soap im übertragenen Sinne) zum Thema. Im Iran (im Gegensatz zu Dänemark für die Fußball-WM qualifiziert) gibt es natürlich auch weibliche Fußballfans, doch der Zutritt zu mit fluchenden Männern gefüllten Stadien bleibt ihnen verwehrt. Da gilt es, sich zu verkleiden, wenn man das letzte und entscheidende WM-Qualifikationsspiel gegen Bharain sehen will. Die männlichen Zuschauer haben auch meistens kein Problem damit (solange es nicht die eigene Schwester, Tochter oder Frau ist, die durch den schädlichen Einfluß der Männer für alle Zeiten „verunreinigt“ werden könnte), wie weit es allerdings mit der Gleichberechtigung her ist, merkt man spätestens, wenn die Schwarzhändler vorm Stadion auf die ohnehin überteuerten Karten bei Frauen schnell noch mal einen Aufschlag draufsetzen.
Die allesamt namenlosen Heldinnen im nicht nur symbolischen „Abseits“ dieses Films sind nicht jene Frauen, die das Spiel zu sehen bekommen, sondern einige bemitleidenswerte Kreaturen, die irgendwo erwischt wurden, und nun in einer improvisierten Abzäunung, die von einigen Soldaten bewacht wird, darauf warten, abgeführt zu werden. Eine Tortur, die jeder Fußballfan nachvollziehen kann: Man befindet sich im Stadion, die Atmosphäre und Lärmkulisse ist allgegenwärtig, doch der Blick auf den Rasen ist einem verwehrt, und wenn ein fußballunkundiger Soldat immerhin eine Art „Mauerschau“ intoniert, wird die Folter nur noch schrecklicher.
Wie die Filmemacher hier bereits während des betreffenden Spiels einige Einstellungen vor und im Stadion drehten, die dann mit dem später gefilmten Material vereint wurden, das ist definitiv Weltmeisterniveau. Die eigentliche Story des Films ist zwar ein wenig simpel, und die Dialoge zwischen den Frauen und (teilweise mitfühlenden) Soldaten überzeugen auch nicht durchgehend, aber schon durch die sich auf den Film übertragende Atmosphäre des Länderspiels gewinnt auch der Film an Spannung. Daß die Auflösung keineswegs besonders emanzipatorisch ist und es am Schluß definitiv zuviel Hurra-Patriotismus gibt, ist hingegen Kreisklasse.
Die sich noch am interessantesten gestaltende Backstory des Films dürfte in ihrer schwammigen Ambiguität und vielleicht aufgrund der Untertitelung vielen Zuschauern sogar entgangen sein. Jenes Mädchen, das wir bereits zu Beginn des Films begleiten, sagt mal, daß sie sich gar nicht für Fußball interessiert, aber ihr „friend“ (Die Untetitel waren auf Englisch) war eine der sieben Personen, die bei Tumulten bei vorigen Qualifikationsspiel starben. Gegen Ende des Films zündet sie mal exakt sieben Wunderkerzen an, jedermann dürfte der Symbolgehalt aufgefallen sein. Was allerdings nicht so explizit rüberkam, ist, daß von den sieben Verstorbenen nach dem Spiel nur sechs Namen veröffentlicht wurden. Es geht das Gerücht, daß die siebte Person weiblich war. Und da fragt man sich natürlich, ob ihr „friend“ auf Farsi ebenso geschlechtslos ist wie in der englischen Übersetzung. Ich persönlich verschwendete während des ganzen Films keinen Gedanken an die Idee, daß jener „friend“ weiblich gewesen sein soll, aber es macht für den Film natürlich einen Riesenunterschied. Da es im Iran aber nicht so einfach ist, bestimmte Themen in einem Film direkt anzusprechen (der von mir kritisierte Hurra-Patriotismus war wahrscheinlich notwendig, um den Film durchzubringen), gehe ich fast davon aus, daß im Original ein weibliches Opfer nicht ausgeschlossen wird, es aber auch nicht explizit so ausgedrückt wird. Über die Bonusinformationen im Presseheft kann man so im Ausland Themen zum Film gesellen, die ohne Hintergrundwissen schwer oder gar nicht nachzuvollziehen sind.
Trotz mancher Schwächen kann aber ein Film nicht wirklich schlecht sein, bei dem solch detailierte Fragen offen bleiben, die den Film innerlich wie äußerlich zu einem Politikum machen. Ach ja, und um es noch kurz zu erwähnen, trotz (Fußballentzugs-)Folter und Politik ist Offside vor allem eine Komödie.
Invisible Waves
(Pen-ek Ratanaruang,
Wettbewerb)
Thailand / Niederlande / Republik Korea / Hong Kong / China 2005, Buch: Prabda Yoon, Kamera: Christopher Doyle, Schnitt: Padmanadda Yukol, Musik: Hualampong Riddim, Production Design: Saksiri Chantarangsri, mit Asano Tadanobu (Kyoji), Gang Hye Jung (Noi), Komono Kuga (Seiko), Eric Tsang Chi Wai (Monk), Maria Cordero (Maria), Toon Hiranyasup (Wiwat), Mitsuishi Ken (Lizard), Hideki Jitsuyama (Kyojis Vater), Sano Hiro (Hideki), 115 Min. Ähnlich wie im letzten Berlinale-Jahrgang bei
Dumplings ist auch
Invisible Waves ein Film, bei dem Kameramann Christopher Doyle (Dauergast beim Talent Campus, bekannt wegen seiner Arbeiten für Wong Kar-Wei) wahrscheinlich mehr Anziehungskraft auf das Publikum hatte als der relativ unbekannte thailändische Regisseur oder der in einer Minirolle eingesetzte Eric Tsang.
Und auch für
Invisible Waves hat Doyle zusammen mit dem
Production Designer interessante Bilder entworfen, die sich aber nicht so wie bei
Dumplings (der natürlich auch von seiner Hauptdarstellerin Bai Ling lebte) in den Vordergrund spielen. Statt farbenfroher Tapeten wirkt hier vieles schäbig, abgenutzt, und eher vorgefunden als erbaut.
Die Story wird vor allem Kennern des ostasiatischen Kinos wie ein Amalgam aus längst bekannten Versatzstücken vorkommen. Auch dadurch, daß vieles zunächst rätselhaft erscheint, wird die Mär vom aus Japan stammenden Küchenangestellten Kyoji nicht besser, der auf Macao eine Affäre mit Seiko, der Frau seines Chefs hat, die er dann für diesen vergiftet, wofür er mit einer Schiffsreise nach Phuket belohnt wird, die er ob seines schlechten Gewissens und des immer wieder auftauchenden Brechreizes nicht wirklich genießen kann.
Die Schiffsreise selbst ist hierbei der interessanteste Teil des Films, den ich mal wohlwollend mit Franz Kafka und Jacques Tati vergleichen will. Zwar mangelt es mitunter an Subtilität bei der inszenatorischen Ausführung, und auch der älteste Witz der Welt, daß unter anderem Lichtschalter, Klospülung und Duschbrause jeweils andere Apparaturen an- und ausschalten, kann bei der vierten Wiederholung kaum mehr jemanden zum Schmunzeln verführen, aber gerade dadurch, daß der Anfang und das Ende des Films so karg und mitunter verstörend wirken, weiß man die Schelmenstücke im Mittelteil besonders zu schätzen.
Einige Szenen des Films sind übrigens eine eigentümliche Hommage an Stanley Kubricks
The Shining. Am auffallendsten und plakativsten, wenn das Word „Redrum“ auftaucht, allerdings mit der Spiegel-Lösung im sofortigen Anschluß, weitaus subtiler bei einer Barszene, bei der der Barkeeper dann auch kurz darauf für die Herrentoiletten zuständig ist, und somit zwei Szenen aus
The Shining gemischt werden. Ferner gibt es die schmalen Gänge der Fähre, die an das Innere des
Overlook Hotels erinnern, und last but not least die Befreiung aus der eigenen Kabine, die an die Befreiung aus der Speisekammer erinnert - eine der wenigen Szenen im Film Kubricks, die sich ohne „übernatürliche“ Einwirkung schwer erklären lassen. Man muß allerdings schon ein großer Fan von Kubrick oder King sein, um anhand solcher kleiner Einsprengsel ein verstärktes Interesse an
Invisible Waves aufzubauen.
Auch bei
Dumplings waren die Reaktionen sehr gegensätzlich, doch im Gegensatz zu
Invisible Waves kann ich bei
Dumplings immerhin noch die Energie aufbringen, den Film gegen seine Feinde zu verteidigen. Bei
Invisible Waves habe ich mich zwischenzeitig ganz nett amüsiert, aber wenn jemand diesen Film nicht mag oder sogar verabscheut (weil er nicht wirklich neues Terrain betritt), so kann ich das ohne große Probleme nachvollziehen.
Big Bang Love, Juvenile A
(Takashi Miike,
Panorama Special)
Originaltitel: 46 oku nen no koi, Japan 2006, Buch: Masa Nakamura, Lit. Vorlage: Ato Masaki, Kamera: Masahito Kaneko, Ausstattung: Nao Sasaki, mit Ryuhei Matsuda (Jun Ariyoshi), Masanobu Ando (Shiro Kazuki), Ryo Ishibashi, Renji Ishibashi, Kenichi Endo, 85 Min. Der japanische Vielfilmer Takashi Miike hat wie schon im Vorjahr (
One Missed Call) wieder einen neuen Film im Panorama, doch trotz diverser guter Ideen scheinen seine Streifen immer mehr „heruntergekurbelt“, Filme, die innerhalb eines Vierteljahres entstehen, sind wohl nur in Ausnahmefällen, wie bei Kim Ki-Duks
Bin-Jip, etwas „besonderes“, allerdings würde man auch wohl kaum von einem Regisseur vier mal im Jahr etwas „besonderes“ verlangen, und so liegt es vor allem an Miike selbst.
Eine Liebe von 4,6 Milliarden Jahren, also wahrscheinlich seit dem Urknall (das habe ich jetzt nicht recherchiert, sondern anhand bruchstückhaftem Japanisch und dem internationalen Titel des Films zusammengesetzt) wird in diesem Film höchstens mal angedeutet, die gesamte Story präsentiert sich wie in Puzzle-Teilen. Da finden die Wärter eines in der Ausstattung allenfalls angedeuteten Gefängnisses zwei Insassen, die am selben Tag (dem 24. 12., auch einer Art Urknall!) eingeliefert worden waren. Der eine ist gerade damit beschäftigt, den anderen zu erwürgen, als der Würger zusammenbricht und der Gewürgte sagt: „I did it.“ Noch Fragen?
Der Gewürgte heißt Jun Ariyoshi und sitzt dafür ein, daß er mal als Angestellter einer Schwulenbar von einem Kunden abgeschleppt wurde, und sich gegen ein „
date rape“ dadurch zur Wehr setzt, daß er seinen Angreifer ersticht. Reue zeigt er danach keine.
Der Würger heißt Shiro Kazuki, und über ihn ist zunächst sehr viel weniger bekannt. Er ist am ganzen Körper von Tätowierungen überzeugen und setzt sich im rohen Gefängnisalltag durch besondere Stärke und außergewöhnliche Gewaltbereitschaft sehr schnell durch. In den Pressematerialien steht auch noch, daß er mit Blicken töten kann, im Film ist mir das nicht aufgefallen.
Die Handlung des Films im herkömmlichen Sinne besteht aus den Ermittlungen (größtenteils Befragungen) der eingangs beschriebenen Szene, die in ähnlich aseptischen Kulissen wie bei
Der Kick stattfinden. Überhaupt hat Miike besonders viel Sorgfalt auf die Kulissen verwandt. Außerhalb des Gefängnisses gibt es eine unwirkliche Science-Fiction-Welt mit (Low Budget-) Raketen, Planeten und anderen Himmelskörpern, im Knast gibt es seltsam achteckige Räume, die wie Origami-Faltübungen aussehen, munter verstreute gelbe Sitzwürfel oder einen Zellentrakt, der mit seinen mit Kreide auf den Boden gemalten Zellenwänden wie eine Parodie auf Lars von Triers
Dogville aussieht.
Ähnlich symbolträchtig geht es auch in einem Prolog zu, bei dem einem CGI-Schmetterling wahrscheinlich ähnlich viel Bedeutung wie den diversen erwähnten Lichtjahren beizumessen ist. Doch ebenso, wie die Ermittlungen im beschriebenen Fall sich mit ihren Fragen nach dem „Warum?“ spätestens in der unbefriedigenden Auflösung in Wohlgefallen auflösen, bleiben auch der Schmetterling, der dreifache Regenbogen und der gesamte Film seltsam „ungreifbar“ und damit auch enttäuschend. Nun gehört das Rätselraten zu den Besonderheiten des fernöstlichen Kinos - doch ich habe schon Filme gesehen, bei denen ich weitaus weniger verstanden habe (die Eckdaten des plots werden im Film so oft wiederholt, daß sie sich geradezu beim Zuschauen einbleuen), die mir aber trotzdem viel mehr gebracht haben. Unter anderem auch Spaß. Das Positivste, was ich über diesen Film sagen kann, ist, daß er mir ein wenig wie eine (schrecklich esoterische) Gefängnisstrafe vorkam, und sich die 85 Minuten vielleicht nicht wie 4,6 Milliarden Jahre angefühlt haben, aber definitiv wie mehr als zwei Stunden. Aber immer noch besser als Izo (siehe unten), der tatsächlich über zwei Stunden ging und sich für mich zumindest über Monate hinzog. Vielleicht muß man wirklich vier Filme im Jahr drehen, um etwas völlig neuartiges über die Zeitwahrnehmung aussagen zu können.
DVD-Veröffentlichung:
Izo (Takashi Miike,
bei rapideyemovies)
Japan 2004, Buch: Shigenori Takechi, Schnitt: Yasushi Shimamura, Musik: Kôji Endô, mit Daisaku Akino, Chisato Amate, Mikkî Kâchisu, Ken'ichi Endou, Daijiro Harada, Ryuuji Harada, Renji Ishibashi, Tsurutaro Kataoka, Hiroshi Katsuno, Kirin Kiki, „Bîto“ Takeshi, Masato, Ryuuhei Matsuda, Hiroki Matsukata, Ryôsuke Miki, Kaori Momoi, Hiroyuki Nagato, Kazuya Nakayama, Mari Nakayama, Ken Ogata, Mitsuhiro Oikawa, Masumi Okada, Bob Sapp, Tokitoshi Shiota, Haruna Takase, Susumu Terajima, Kazuki Tomokawa, Yuya Uchida, Taro Yamamoto, Joe Yamanaka, 128 Min. Nimmt man die Jahre 2000-2004 als Beispiel, so hat Takashi Miike pro Jahr vier Kinofilme gedreht, Fernsehfilme oder gar Miniserien nicht mitgezählt. Das wenige, was davon nach Deutschland gekommen ist, kann man fast ausschließlich rapideyemovies verdanken, von
Audition über
Visitor Q,
Dead or Alive bis hin zu
Graveyard of Honor.
Verglichen mit dem Tempo, in dem Miike seine Filme dreht, ist die Zeit, die ich zum Schauen eines seiner Filme brauchte, fast schon peinlich. Im Oktober 2005 war es glaube ich, als ich vorhatte, zwei damals brandaktuelle DVDs für satt.org vorzustellen. Auf dem Papier hörte sich das alles ganz nett an. Eine werkgetreue Neuveröffentlichung von John Woos Hong-Kong-Klassiker Hard Boiled zusammen mit dem (damals) neuen Miike-Film, bei dem auch noch sein Fast-Namensvetter Takeshi Kitano mitspielt. Doch so eine DVD ist nicht dasselbe wie ein Kinobesuch, immer wieder dräut die Stop-Taste. Damals hatte ich noch gar keinen DVD-Player (habe ich mir im November geleistet), und zunächst begann ich den Film auf dem DVD-tauglichen PC meiner Eltern. Beim ersten Mal schaffte ich zwanzig Minuten, Wochen später dann etwa 35 Minuten. Zu Besuch bei Kathi schafften wir fast eine Stunde, und sie hat seitdem nicht ein einziges Mal nachgefragt, ob sie denn auch die zweite Hälfte des Films zu Gesicht bekommen würde. Aber nun habe ich es vollbracht!
Als „Splatter-Movie für Intellektuelle“ wurde
Izo teilweise angepriesen, offensichtlich bin ich aber weder intellektuell genug noch ausreichend Splatterfan. Womöglich entwickelt der Film für Japankundige, die sich mit den Kulturepochen, politischen Vorkommnissen etc. auskennen, eine ungeahnte Tiefe, für mich handelt der Streifen nur von einem rachesüchtigen Dämonen, der in zwei Stunden eine gut dreistellige Anzahl von Personen massakriert.
In einer Kreuzigungsszene wird er eingeführt, und schon wird er für gut anderthalb Stunden von einer Zeit in eine andere geworfen, er durchschreitet Wände, fällt von Dächern, überwindet mal die Schwerkraft, um dann wieder in einem sich plötzlich materialisierenden (oder eher entmaterialisierenden?) Loch im Boden zu verschwinden. Er misst sich teilweise im Zweikampf, auch mal gegen eine übermächtige Anzahl von Gegnern, zeigt aber sehr bald auch keine Gewissensbisse mehr, wehrlose niederzustrecken. Und so sterben in lockerer Folge an unterschiedlichen Orten, und teilweise auch mit unterschiedlichen filmischen Mitteln in Szene gesetzt: Yuppies, Göttinnen, hohe Geistliche, Generäle, tote Soldaten, Schülerinnen, Vampire, Schwertkampfkünstler, Yakuza-Gangster, Zivilisten und Kinder. Bei der ersten Kinderschar, in der er sich plötzlich wiederfindet (mitten im Grundschulunterricht), entfernt er sich noch leise und verneigt sich sogar später bei der Lehrerin, doch wenn zum zweiten Mal Kinder auftauchen, zieht er bereits sein Schwert, nur um zu sehen, daß zu seinen Füßen ein kleines Mädchen seine Schwertspitze in den Händen hält. Blut rinnt zwischen ihren Fingern herab, während sie ihn aus großen Kulleraugen anblickt. Und zack: Schnitt auf diverse Kinderleichen, die die Kamera wie in einem Musik-Video abfilmt, während ein Musiker, der wie ein Aspekt von Izos Persönlichkeit immer wieder auftaucht (es gibt auch einen „weiblichen Teil seiner Seele“), dazu auf seine Akkustikgitarre einschlägt, und mit einer Stimme, die sich wie eine Mischung aus zerberstendem Glas, einem Hustenanfall und Brechreiz anhört, einige hochtrabend poetische Worte von sich gibt. Gähn!
Das kleine Mädchen ist, obwohl ich es nicht viermal sah wie die ersten zwanzig Minuten des Films, eines der wenigen Bilder, die sich beim Betrachter festsetzen. Wahrscheinlich soll das Übermaß an sinnloser (und auch nicht besonders überzeugend choreographierter oder von realistischen Spezialeffekten begleiteter) Gewalt genau diesen Eindruck beim Zuschauer erzeugen. Darauf hätte ich aber auch verzichten können.
Immerhin hat der Film auch so etwas wie ein Ende, das Experten deuten können wie einst bei Kubricks
2001, doch wenn Izo schließlich das ewige Moebiusband seines Höllen-Trimmtrabs durchschneidet, und er zu einer gewissen Ruhe findet, war für mich nur wichtig, daß ich diese Tortur auch überstanden hatte.
DVD-Veröffentlichung:
Hard Boiled (John Woo,
bei e-m-s)
Originaltitel: Lashou shentan, Hong Kong 1992, Buch: Barry Wong, Kamera: Wing-Heng Wang, Schnitt: Jack Ah, Kit-Wai Kai, John Woo, David Wu, Musik: Michael Gibbs, mit Chow Yun Fat (Yuen / Tequila), Tony Leung Chiu Wai (Tony / Alan), Teresa Mo (Teresa Chang), Philip Chan (Superintendant Pang), Philip Kwok (Mad Dog), Anthony Wong Chau-Sang (Johnny Wong), Hoi-Shan Kwan (Mr. Hui), Wei Tung (Foxy), 126 Min. (geschnittene Version: 92 Min.) In der niedersächsischen Provinz aufgewachsen, habe ich mich 1992 noch wenig um Nationalfilmographien aus Südostasien (oder beispielsweise auch Skandinavien) gekümmert. Natürlich kannte ich einige der Klassiker von Kurosawa und hatte als Comicfan Otomos
Akira (1987) gesehen, aber Takeshi Kitano habe ich beispielsweise erst nach
Hana-Bi (1997) wahrgenommen und mein erster Zhang Yimou-Film war
Leben! / Huozhe (1994).
John Woo hingegen konnte im Jahr 1992 bereits auf anderthalb Jahrzehnte als Regisseur zurückblicken. Sein
Hard Boiled wird von vielen Kritikern als eine Art "Best of" gewertet, als eine Zusammenfassung seiner bisherigen Karriere, die natürlich auch als Visitenkarte funktionieren soll und ihm - wie wir inzwischen wissen - den Weg nach Hollywood ebnete. Wie viel Woo für
Hard Boiled aus seinem persönlichen Schatzkästchen geplündert hat, kann ich nicht festmachen, aber aus Hollywood-Action-Reißern wie
Lethal Weapon (1986),
Die Hard (1987) oder
Terminator 2 (1990) hat er für
Hard Boiled ausgiebig "Motive" übernommen.
Inspector Yuen, genannt Tequila (Chow Yun Fat, noch sehr jung und schlank) verliert bei einem Waffenhandel in einem Teehaus seinen Partner und guten Freund, einen
plot twist, wie wir ihn aus unzähligen, nicht unbedingt gelungenen Actionstreifen (man denkt an Jerry Bruckheimer und Steven Seagal) kennen. Leider hat sich John Woo nicht die Zeit genommen, diesen Freund oder dessen Familie besonders vorzustellen, und somit bleibt ein Großteil der emotionalen Tragweite dieses Verlustes für den Zuschauer schlichtweg auf der Strecke. Nach einer knappen Viertelstunde gibt es eine nett fotografierte Beerdigung ohne wirkliche Bedeutung, Woo konzentriert sich ganz auf die Action, wie man es ja auch aus seinen Hollywood-Filmen wie
Face / Off, Broken Arrow oder
Mission Impossible 2 kennt, bei denen man teilweise aber zumindest die Bemühung erkennt, das Drehbuch interessanter zu gestalten.
Hard Boiled könnte zwar auch als Vorreiter von
Infernal Affairs gelten, doch die Unterschiede zwischen diesen zwei modernen Klassikern des Hong Kong-Kinos sind offensichtlich:
Hard Boiled ist geradliniger, action-betonter, in gewisser Weise schlicht naiver, was aber einem typischen Actionkino-Publikum, das bei
Infernal Affairs kritisieren würde, daß "zuwenig passiert", womöglich sogar recht sein könnte …
John Woo reiht ähnlich wie James Cameron einen Actionhöhepunkt an den nächsten, wobei die Kamera oft zunächst in langen Einstellungen die ausgefeilten Schauplätze liebkost, in denen dann später die Gewaltorgien in exzessiver Zeitlupe stattfinden: Ein Teehaus, ein Lagerhaus, zum Abschluß ein Krankenhaus, in dem die bösen Tiraden Kranke und sogar Babys als Geiseln nehmen und schließlich das gesamte Gebäude mit einigen gutplazierten Bomben in ein Inferno verwandeln wollen - nur schade, daß die Motivation der Gangster hinter dem Blutbad nicht wirklich klar wird. Wenn die Bösewichte hinterrücks Passanten abknallen (auch schon im Teehaus), sagt dies weniger über
deren schändliche Gesinnung aus, sondern über den Filmemacher, der für ein paar nette Blutfontänen auf Logik, Anstand oder ein überzeugendes Drehbuch verzichtet. Teilweise wirkt der Film wie ein Ego-Shooter: Yuen und sein späterer Partner, der Undercover-Agent "Alan" (Tony Leung) ziehen etwa schwerbewaffnet durchs Krankenhaus und knallen nahezu alles über den Haufen, was seine Nase blicken lässt. Wem explodierende Motorräder, Schrotflinten und Handgranaten als "Inhalt" eines Films genügen, der wird an
Hard Boiled seine helle Freude haben. Wer aber gerne mehr über die ins Straucheln geratene Beziehung zwischen Yuen und seiner Kollegin Teresa erfahren hätte, wem es um moralische Dilemmas und psychologischen Tiefgang geht, den dürfte der Film trotz der Legende, die sich um ihn bildete, enttäuschen.
Coming soon in Cinemania 30 (Berlinale Rootbeer):Berlinale-Filme aus englischsprachigen Ländern wie Australien, England, Kanada und den USA:
Brothers of the Head, Candy, Find Me Guilty, The Notorious Bettie Page, The Road to Guantanamo, Snow Cake.