Cinemania 42:
Vier Hochzeiten und ein Todesfall
[Berlinale 2007, Teil IV]
[Rezensionen von Kathi Hetzinger und Thomas Vorwerk]
Klopka (Srdan Golubovic, Forum)
Int. Titel: The Trap, Serbien / Deutschland / Ungarn 2006, Buch: Melina Pota Koljevic, Srdjan Koljevic, Kamera: Aleksandar Ilic, Schnitt: Marko Glusac, Dejan Urosevic, Musik: Mario Schneider, mit Nebojsa Glogovac (Mladen), Natasa Ninkovic (Marija), Miki Manojlovic (Kosta Antic), Marko Djurovic (Nemanja), Bogdan Diklic (Dr. Lukic), Anica Dobra (Jelena), Dejan Cukic (Petar Ivkovic), Boris Isakovic (Moma), Vuk Kostic (Petars Bruder), Vojin Cetkovic (Vlada), 105 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk] Ein Mann verlässt seine Wohnung, steckt noch eine Pistole ein, und im Off-Kommentar erfahren wir, daß er “das Richtige tun will”. Er besteigt ein Treppenhaus und drückt einen Klingelknopf. In einer unklaren Interviewsituation beginnt er dann, uns die gesamte Geschichte zu erzählen, ein narrativer Kniff, wir man ihn bei vielen (zumeist zu späten) “Geständnissen” in Filmen der “Schwarzen Serie” erlebt hat.
Klopka ist ein Film voller Symbolik, und das ist für den Zuschauer unübersehbar. Eine der frühesten Einstellungen des Films zeigt Mladen, die Hauptfigur, wie er in seinem roten Renault 4 an einer Kreuzung steht. Aus seiner Sicht Sicht links, aus der Zuschauersicht rechts von ihm steht ein anderes, offensichtlich teureres Auto, ein kleiner Junge wäscht zunächst dort, dann bei Mladen die Fensterscheiben, sagt noch: “Das geht auf mich”. An dieser Stelle wird durch den Blick Mladens bereits klar, daß ein anderer Junge in diesem Alter eine wichtige Rolle im Film spielt, aber noch interessanter ist, daß man diese Kreuzung im Verlauf des Films noch öfters sieht. Zunächst ist das “andere Auto” immer ein teureres, dann steht nebenan tatsächlich mal ein noch viel ärmlicheres Auto, schließlich steht Mladen auch mal nachts im Regen allein an dieser Kreuzung, bleibt dabei an der grünen Ampel stehen, oder fährt bei Rot los. Die Kreuzung ist gleichzeitig ein Indikator der wirtschaftlichen Lage Mladens, spiegelt aber auch seine Unentschlossenheit in vielen Situationen. Aber zurück zur Geschichte.
Mladen bringt seinen Sohn Nemanja zur Schule, fährt dann zu seiner Arbeitstelle, einem noch staatlichen Baubetrieb, bei dem des Nachts hin und wieder tonnenweise Material verschwindet und die öfters “streikenden” (d. h. faulenzenden und trinkenden) Arbeiter darauf warten, daß eine belgische Firma den Betrieb kauft, und sie über ihre Anteilscheine an der Gewinnausschüttung teilhaben können. Hier wird die wirtschaftliche Stagnation des ganzen Landes durch einen Kran symbolisiert, der von unzähligen Vögeln “besetzt” ist. Doch plötzlich flattern alle Vögel auf. Mladen hat einen Anruf erhalten, sein Sohn ist während des Sportunterrichts zusammengebrochen.
Es stellt sich heraus, daß Nemanja einen Herzschaden hat, der am besten schnellstens operativ behandelt werden müsste. Allerdings ist das örtliche Spital dafür nicht ausgerichtet, man müsste schon nach Experten in Berlin fahren, und die Operation (die die Versicherung nicht trägt) würde 26.000 Euro kosten. Mladen und seine Frau Marija, eine Lehrerin, sehen keine Chance, soviel Geld zusammenzubekommen, gegen Mladens Bedenken schaltet Marija sogar eine Anzeige, in der sie um Geld bittet, doch in den Zeitungen wimmelt es nur so von solchen Anzeigen. Dennoch ruft jemand an, und Mladen trifft sich am nächsten Tag mit diesem Mann, der ihm das komplette Geld geben will, wenn Mladen dafür jemanden “verschwinden” lässt, “ohne den die Welt ein besserer Platz” sei.
Als wäre die Situation nicht schon kompliziert genug, stellt sich dann noch heraus, daß das potentielle Mordopfer der Mann einer Frau ist, mit deren Tochter Nemanja schon öfters auf dem Spielplatz herumtollte. Während sich Nemanjas Gesundheitszustand verschlechtert, scheint sich keine andere Hoffnung abzuzeichnen, die Ehe scheint an dem Konflikt auch zu zerbrechen.
Klopka verbindet eine fatale Kriminalgeschichte, die mich ein wenig an
Mystic River erinnerte (vielleicht auch, weil der Hauptdarsteller wie eine Mischung aus Jeff Goldblum und Tim Robbins aussieht), mit leichter Sozialkritik und einem Familiendrama shakespeareschen Ausmasses (Touches of
Macbeth, wirtschaftlicher / gesellschaftlicher Aufstieg, der über Leichen geht). Die oft unübersehbare Symbolik (Neben den bereits erwähnten Stellen sind auch die Auto- (und andere) Farben auf- und sinnfällig: rot, schwarz, weiß) stört hier aber nicht, denn sie wird geschickt in die Entwicklung der Geschichte integriert. Wie das Ganze ausgeht, mag nicht jeden erfreuen, aber wer wie ein
film noir beginnt, kann nicht wie eine
soap opera enden.
Schau mir in die Augen, Kleiner
(André Schäfer, Panorama Dokumente)
Internationaler Titel: Here’s Looking at you, Boy, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Finnland 2007, mit John Waters, Stephen Frears, Gus Van Sant, Tilda Swinton, Wieland Speck, Rosa von Praunheim, Joseph Lovett, Craig Chester, Guinevere Turner, Olivier Ducastel, Jacques Martineau, 90 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger]
Nach
The Celluloid Closet und
Fabulous! The Story of Queer Cinema im letzten Jahr kann man dieses Jahr also wieder eine Dokumentation über schwul-lesbisches Kino auf der Berlinale sehen.
Schau mir in die Augen, Kleiner wurde jedoch von Arte in Auftrag gegeben und hat einen stärkeren europäischen bzw. deutschen Fokus als die beiden US-amerikanischen Filme. So kommen etwa neben den obligatorischen Figuren wie Gus van Sant oder John Waters auch Olivier Ducastel und Jacques Martineau von
Crustacés et Coquillages, Rosa von Praunheim oder Wieland Speck zu Wort; es geht um
Die Konsequenz (Wolfgang Petersen, 1977), um Fassbinder und um
Coming Out (1989), der am Abend des Mauerfalls in Ostberlin (natürlich im Kino International) seine Premiere hatte; und auch der Teddy darf nicht fehlen – man erhascht hier sogar einen Blick auf den „originalen“ Teddybär, den Pedro Almodovar und Gus van Sant 1987 als erste Preisträger zugeschickt bekamen. Außerdem zeigt der Film Ausschnitte aus einigen eher unbekannten internationalen Filmen von Constantinos Giannaris (
From the Edge of the City, Griechenland 1998), Stewart Main (
50 Ways of Saying Fabulous, Neuseeland 2005) oder Onir (
My Brother … Nikhil, Indien 2005) und vergrößert damit den von den Vorgängerfilmen begonnenen Filmkanon des schwul-lesbischen Kinos (das man inzwischen vielleicht besser als LGBT-Kino bezeichnet – für lesbian, gay, bisexual, transgender).
Ansonsten geht der Film, wie seine Vorgänger, grob chronologisch vor; er beginnt mit der Schwulenbewegung der 70er Jahre, als das Kino eine direkte Reaktion auf die reale Diskriminierung war, und endet mit
Brokeback Mountain, bei dem das Thema gewissermaßen dadurch „dignifiziert“ wird, dass alle Beteiligten heterosexuell sind (und den John Waters, im selben, wenn auch ins positive gewendeten Sinn wie die amerikanische Rechte, als „gay recruitment film“ bezeichnet). Er vollzieht damit nicht nur die kinematographische, sondern auch die allgemeine Geschichte des schwul-lesbischen Kampfes für Gleichberechtigung nach, von einer Zeit, in der Sex aufgrund der gesetzlichen Diskriminierung automatisch politisch war, bis zur heutigen Zeit, wo dies – zumindest in weiten Teilen Europas und Nordamerikas – glücklicherweise nicht mehr der Fall ist. Er dokumentiert die großen Veränderungen, die die Verbreitung von AIDS mit sich brachte, wodurch schwul-lesbische Filme eine neue bzw. andere Dringlichkeit erhielten. So etwa bei Derek Jarman, der seine HIV-Infizierung bewusst nutzte, um Geld für seine Projekte zu bekommen – jedes neue konnte ja sein letztes sein. Wie in diesem Fall illustriert
Schau mir in die Augen, Kleiner die schwul-lesbische Filmgeschichte vor allem mit persönlichen Anekdoten; Gus van Sant etwa erzählt, wie er kurz vor der Jahrtausendwende bereits einmal versucht hatte, das Drehbuch von
Brokeback Mountain zu verfilmen, mit den Stars Brad Pitt und Matt Damon in den Hauptrollen, was ihm jedoch (vielleicht zum Glück) nicht gelang.
Einen wunderschönen, nur leicht ironischen Abschluss für diesen kurzen, unterhaltsamen Überblick über das LGBT-Filmschaffen der letzten 30-40 Jahre liefert wiederum Gus van Sant: Mit all seinem Verkleiden, Geschminke und Geschichten-Erzählen sei das Kino an sich doch eigentlich eine sehr schwule Angelegenheit; LGBT-Filme sind so gesehen ein logisches Resultat aus über hundert Jahren Filmgeschichte.
Was am Ende zählt
(Julia von Heinz,
Perspektive Deutsches Kino)
Deutschland 2007, Buch: John Quester, Julia von Heinz, Kamera: Daniela Knapp, Schnitt: Florian Miosge, Musik: Matthias Petsche, mit Paula Kalenberg (Carla), Marie Luise Schramm (Lucie), Benjamin Kramme (Michael), Vinzenz Kiefer (Rico), Toni Osmani (Bert), Martin Ontrop (Dietmar), 95 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]
Beim letztjährigen Gewinner dieser Berlinale-Sektion,
Der Lebensversicherer, ist es mir aufgefallen, wie viele französische Details aufwies, und ich unterstellte den Filmemachern, damit die deutsch-französische Jury beeinflussen zu wollen.
Was am Ende zählt beginnt auch mit einem französischen Chanson, doch diesmal wird alles Französische bereits am Ostbahnhof zurückgelassen. Carla (Paula Kalenberg) ist von ihrem Vater weggelaufen, um mit dessen Ersparnissen in Frankreich Modedesignerin zu werden. Nur dumm, dass geschickte Taschendiebe sie innerhalb kürzester Zeit um ihr Hab und Gut, und sie schließlich ohne Geld und ohne Ticket auf das Wohlwollen zwielichtiger Gestalten wie Rico (Vinzenz Kiefer) angewiesen ist.
Bereits früh laufen sich die beiden Hauptdarstellerinnen dieses Films
fast über den Weg, doch erst am nächsten Morgen lernt Carla, nachdem Rico die Miete “in Naturalien” eingefordert hat, in dessen Schlafzimmer Lucie (Marie Luise Schramm) kennen. Und schon bald wird Carla “gerettet” und schläft fortan mit Lucie und deren gerade aus dem Knast zurückgekommenen Bruder Michael (Benjamin Kramme) in einem heruntergekommenen “Theaterschiff”, das Rico zu einer angesagten Szenelokalität umgestalten will.
Auf der Baustelle arbeiten Carla und Lucie, wobei Carla auf diesem Weg nur das Geld zusammenbekommen will, um dann doch - wie ihre Mutter – nach Frankreich aufbrechen zu können. Als Carla durch die ungewohnte Schlafsituation krank zu werden scheint, schickt Lucie sie mit deren Krankenversicherungskarte zum Arzt. Das Kind, das sie nach der einmaligen Aktion mit Rico nun erwartet, kann sie aber im vierten Monat nicht auch “auf Lucies Karte” abtreiben lassen, und so beginnt eine komplizierte Verschleierungstaktik, an deren Ende Lucie Carlas Baby übernehmen soll, und diese nicht - wie die Mutter – wegen einer ungewollten Schwangerschaft ihre Karriere aufgeben muß.
Wie der Film von der durchgestylten jungen Frau im Designerkleid innerhalb kürzester Zeit direkt in die Gosse absteigt, sich aber trotz aller Schicksalsschläge immer eine gewisse Kameraderie bewahrt, ist genauso ein Balanceakt wie das zwischen Tragödie und (Galgen-)Humor pendelnde Drehbuch. Marie Luise Schramm
(Mein Bruder, der Vampir, Bin ich sexy?, Die Bluthochzeit, Komm näher) hat sich als eine der wichtigsten und besten deutschen Nachwuchsdarstellerinnen längst etabliert, Paula Kalenberg, die zuvor höchstens in
Die Wolke aufgefallen war, zeigt in diesem Film ebenfalls Potential, auch wenn die Rolle vielleicht nicht allzu viel von ihr fordert.
Ein solides Debütwerk, das trotz einiger Unwahrscheinlichkeiten (die Sache mit der Karte …) voll überzeugt.
Tuli (Auraeus Solito, Forum)
Int. Titel: Tuli – The Circumciser, Philippinen 2005, Buch: Jimmy Flores, mit Desiree del Valle (Daisy), Vanna Garcia (Botchok), Carlo Aquino (Nanding), Bembol Rocco, Eugene Domingo, 113 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger]
Nach nur einem Jahr gelingt es dem philippinischen Regisseur Auraeus Solito – dem letztjährigen Teddy-Gewinner und Gewinner des Preises der
Internationalen Jury des Kinderfilmfestes/14plus – bereits mit seinem zweiten Film wieder auf die Berlinale zurückzukehren. Doch die Messlatte ist nach
Maximo Oliveros blüht auf recht hoch; gelingt es ihm auch, die Erwartungen zu erfüllen?
Der Vergleich der beiden Filme bringt vor allem Unterschiede zu Tage – zwar handelt es sich wieder um eine Geschichte der (persönlichen wie sexuellen) Selbstfindung eines heranwachsenden Teenagers (dieses Mal eines jungen Mädchens in der philippinischen Provinz); doch die Mittel sind zum Teil völlig andere. Zwar ähneln die Aufnahmen der digitalen Handkamera an den ebenfalls leicht dokumentarisch wirkenden Stil
Maximos, aber die Kamera ist hier viel stärker bewegt, die Schnitte schneller und abgehackter. Die Szenen sind meist mit auffälliger, oft kontrapunktischer Musik unterlegt. Und vor allem ist die Symbolik des Films weitaus aufdringlicher als in Solitos Erstlingswerk, wo gerade die Unauffälligkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit der filmischen Mittel begeistern konnte. Zudem tappt die Handlung hier lange Zeit mehr oder weniger im Dunkeln, erst nach etwa der Hälfte des Films wird klar, worauf der Film erzählerisch hinaus will. Dieser Umstand verdankt sich wohl dem Wunsch der Filmemacher, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern auch noch ein quasi-dokumentarisches Abbild des Lebens im philippinischen Regenwald, bzw. einen Kommentar dazu, zu verfassen.
Hier, fern von größeren Städten wie Maximos Heimat Manila, teilen sich drei oder vier Familien eine Bambuskapelle, es steht schon im Kindesalter praktisch fest, wer mal wen heiratet, und die titelgebende Beschneidung findet am etwas abgelegenen Bach mithilfe einer selbstgebastelten Apparatur aus Holz und einem Rasiermesser statt. Durchgeführt wird sie von Manteng, dem Vater der Hauptfigur Daisy. Gleich in der ersten Szene des Films verlangt Manteng von Daisy (hier noch ein Kind), dass sie ihm bei der Beschneidung der Dorfjungen hilft – ihre schamvollen Bedenken wischt er mit der Feststellung weg, früher oder später werde sie sowieso mal einen Penis in der Hand halten. Man muss es wohl auch als konsequente Fortsetzung der Rebellion gegen einen trinkenden, tyrannischen Vater verstehen, wenn Daisy später genau dies ablehnt. Sie wendet sich stattdessen ihrer Freundin Botchok zu, die ihre Zuneigung erwidert – auch sie hat negative Erfahrungen mit Männern gemacht. Doch trotz dieser etwas fragwürdigen Erklärung von Homosexualität ist die keineswegs einfache Emanzipation Daisys – nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von den Normen und Vorurteilen des gesamten Dorfes – definitiv die große Stärke von
Tuli.
Eher eine Schwäche ist dagegen der zweite große Schwerpunkt des Films – die zeitraubend inszenierte Auseinandersetzung mit der örtlichen Religion, einer undurchsichtigen Mischung aus Katholizismus und Naturreligion bzw. Schamanismus. Der Zuschauer wird nicht nur Zeuge der Selbstgeißelung der männlichen Mitglieder der Gemeinde und einer Aufführung der Passionsgeschichte (bei der ausgerechnet der einzige unbeschnittene junge Mann des Dorfes den Jesus spielt); zu sehen bekommt man außerdem noch den Pompom-artigen Beschwörungstanz einer alten Schamanin sowie eine Art Initiationsritus ihres Enkels im mitternächtlichen Bananenhain. So aufschlussreich das alles sein mag, als bloße, zunächst kommentar- und zusammenhanglose Aneinanderreihung von Ritualen verliert man schnell das Interesse daran. Und auch die Verbindung zur Handlung, die dann doch noch hergestellt wird, wirkt erzwungen und übermäßig stilisiert. Gerade das, was an
Maximo Oliveros blüht auf so überzeugt hat, die Leichtigkeit der Inszenierung, fehlt Tuli leider völlig.
Moskva. Pride ’06
(Vladimir Ivanov, Panorama Dokumente)
Int.Titel: Moscow Gay Pride Festival, Russische Föderation 2006, 84 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger]
Im Mai 2006 wollte Nikolai Andreev die erste Gay Pride-Parade in Moskau veranstalten; seine Hoffnungen auf eine größere Präsenz und Akzeptanz der LGBT-Gemeinde (lesbian, gay, bisexual, transgender) wurde jedoch jäh enttäuscht als der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow den Marsch einige Tage vorher absagte – angeblich aus Sicherheitsgründen. Die Veranstalter entschieden sich, die Parade trotzdem abzuhalten; sie vertrauten auf die verfassungsmäßigen und in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Rechte der Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit (die gegebenenfalls auch gegen Gewalttäter durchgesetzt werden müssten). Die Aktivisten sahen sich dann allerdings nicht nur einer großen Gruppe von Gegendemonstranten gegenüber, sondern auch der Polizei. Auf beiden Seiten wurden Verhaftungen vorgenommen, das Ganze lief nicht ohne Gewalt ab.
Der Vorwurf der Diskriminierung, den Andreev an die öffentlichen Stellen Moskaus richtet, ist sicherlich nicht ganz an der Nase herbeigezogen. Einer der Organisatoren der anti-schwul/lesbischen Gegendemonstration, Nikolai Kuryanovich, war Duma-Abgeordneter und Mitglied in der Liberalen Demokratischen Partei Russlands; nachdem er am Tag der Parade, dem 27. Mai, öffentlich die Extremisten unterstützt hatte, ist er inzwischen von seiner Partei entlassen worden (siehe
www.gayrussia.ru). Er machte offiziell, was man sonst vor allem aus den grölenden Mündern der (z.T. rechtsradikalen) Demonstranten hört: dass Russland nicht Sodom ist und vor den Einflüssen des pervertierten Westen geschützt werden muss. Selbst den Bürgermeister hört man hier sagen, dass Homosexualität unnatürlich ist, und dass solche Paraden für bestimmte westliche Länder annehmbar sein mögen, für Moskau aber absolut inakzeptabel.
Die tatsächlichen Auseinandersetzungen und Gewalttätigkeiten nehmen in
Moskva. Pride ’06 allerdings nur einen kleinen Teil ein. Die Dokumentation – vollständig aus der Sicht der LGBT-Aktivisten erzählt – zeigt vor allem die der Parade vorausgegangene Konferenz anlässlich des “International Day against Homophobia” (IDAHO). Ein prominenter Besucher war hier z.B. der Enkelsohn von Oscar Wilde, Merlin Holland, der die russischen Übersetzungen zweier seiner Bücher über seinen berühmten, homosexuellen Großvater vorstellte. Der Film gibt einen guten Teil der Diskussionen der Konferenz (über ihre Deklaration oder organisatorische Details der Parade) wieder, und wirkt dadurch ein wenig wie eine ausgesprochen lange Nachrichtensendung. Andererseits zeigt er die Vielfalt der Anwesenden und ihrer Interessen, und setzt die erste Moskauer “Schwulenparade” in eine Beziehung zu anderen Ländern, vor allem ehemaligen sowjetischen Ländern, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Neben all den Infos sind es aber letztlich die Bilder der Moskauer Straßenschlägereien, die den Film ausmachen; sie schockieren, da sie das Ausmaß der Kluft zwischen den Weltanschauungen und das enorme Konfliktpotential der Situation anschaulich werden lassen.
Es ist klar (und für einen Dokumentarfilm völlig legitim), dass dieser Film aus politischen Gründen auf der Berlinale gelandet ist, und nicht weil er künstlerisch oder ästhetisch besonders gelungen ist. Das Ziel der Filmemacher und der Programmmacher der Berlinale mit diesem Film muss es sein, die Aufmerksamkeit auf die große Werte-Diskrepanz innerhalb eines Kontinents zu lenken, und möglicherweise ein Interesse an der zukünftigen Entwicklung zu wecken. Am Ende bleibt zwar die Frage stehen, wie sinnvoll bzw. ob es möglich ist, in diesem Jahr wieder eine Gay Pride-Parade in Moskau zu veranstalten; andererseits wird klar, dass die Situation von selbst kaum besser werden kann. Gerade durch seine relative Unaufdringlichkeit kann sich
Moskva. Pride ’06 seines Erfolges recht sicher sein: Er re-politisiert die hierzulande selbstverständlichen und längst als reine Partys verstandenen Christopher Street Day-Paraden.
Coming soon in Cinemania 43: Kurz und schmerzlos [Berlinale 2007, Teil V]:Neun von 16 Beiträgen des diesjährigen Kurzfilm-Wettbewerbs der Berlinale:
Annem sinema ögreniyor (My Mother learns Cinema), Bus, Decroche (Pick-up), La leçon de guitare (The Guitar Lesson), Mei, The Night before Christmas, Nihon no katachi: Shazai (The Japanese Tradition: Shazai), Raak (Contact), Rotten Apple …