USA 2012, Buch: James Vanderbilt, Alvin Sargent, Steve Kloves, Comic-Vorlage: Stan Lee, Steve Ditko, Kamera: John Schwartzman, Schnitt: Alan Edward Bell, Pietro Scalia, Musik: James Horner, Production Design: J. Michael Riva, Kostüme: Kym Barrett, mit Andrew Garfield (Peter Parker / Spider-Man), Emma Stone (Gwen Steacy), Rhys Ifans (Dr. Curt Connors), Denis Leary (Steacy), Martin Sheen (Ben Parker), Sally Field (May Parker), Irrfan Khan (Rajit Ratha), Campbell Scott (Robert Parker), Embeth Davitz (Mary Parker), Chris Zylka (Flash Thompson), Hannah Marks (Missy Kallenbeck), Jake Ryan Keiffer (Jack), C. Thomas Howell (Jack's Father), Leif Gantvoord (Cash Register Thief), Stan Lee (School Librarian), 136 Min., Kinostart: 28. Juni 2012
Der erste der drei Spider-Man-Filme von Sam Raimi stammt aus dem Jahr 2002. Damals war Tobey Maguire 26 Jahre alt, Kirsten Dunst war 20. Andrew Garfield, der neue Darsteller des Peter Parker, ist 28, Emma Stone 23. Die Verjüngung der Darsteller kann ich nachvollziehen, die Verpflichtung eines neuen Regisseurs ebenso. Brauchte die Welt aber bereits einen neuen Spinnen-Man, der die Leinwand auf und ab krabbelt? Es fällt schwer, einen überzeugenden Vergleich aufzustellen. Eine neue Verfilmung von The Lord of the Rings oder Harry Potter wäre absurd, denn die Buchvorlagen sind ausgiebig abgegrast worden, während 50 Jahre Spider-Man-Comics noch zahlreiche unausgeschöpfte Story-Vorgaben bieten. Im Bereich Comics (und sogar im Bereich Marvel Comics) gibt es einige Superhelden, die in vergleichbarer Zeit von mehr als nur zwei Darstellern personifiziert wurden: Bruce Banner (alias Hulk) 2003 von Eric Bana, 2008 von Edward Norton, 2012 von Mark Ruffalo, Frank Castle (alias The Punisher) 1989 von Dolph Lundgren, 2004 von Thomas Jane, 2008 von Ray Stevenson, 2014 soll der nächste folgen. Und bei den X-Men gab es nach drei Filmen auch eine Verjüngung, allerdings eine Jahrzehnte umfassende, was Prof. Xavier und Magneto angeht. Doch Spider-Man mit Xavier, Hulk oder dem Punisher zu vergleichen ist so, als vergleiche man Micky Maus mit Kommissar Hunter, Rudi Ross oder Pluto. Die offensichtlichen Comic-Ikonen, an denen man Spidey messen könnte, wären Superman oder Batman. Übrigens beides auch Beispiele, bei denen auch in grauer Vorzeit bereits Herren in langer Unterwäsche vor laufender Kamera umherstolperten, während ich mich doch eher auf moderne Superheldenfilme beziehe. Christopher Reeves als Superman (1978, 80, 83 und 87) war so etwas wie die erste ernstzunehmende Ausschöpfung des Potentials dieses Filmgenres, Bryan Singer lieferte dann eine Wiederbelebung mit dem Reeves ähnlichen Brandon Routh (2006), 2013 soll dann Zack Snyders Man of Steel mit Henry Cavill folgen. Bei Supies Kumpel Bats gab es zweimal Tim Burton mit Michael Keaton (1989 und 1992), zweimal (hier würde man die Geschichtsschreibung gern löschen) Joel Schumacher mit Val Kilmer (1995) bzw. George Clooney (1997), und dann folgte der Reboot von Christopher Nolan mit Christian Bale (2005, 2008 und 2012, demnächst in ihrem Theater). Es ist zu befürchten, dass, wenn Christopher Nolan genug vom Fledermaus-Mann hat, sofort ein neuer Batman nachgeschossen wird, das Franchise ist einfach zu erfolgreich, aber ungeachtet des ungebrochenen Interesses des Publikums an Superhelden-Filmen (zumindest einigen): Braucht die Welt alle drei Jahre den neuen Film mit Spidey, Supie und Bats – und alle zehn Jahre einen Neubeginn mit neuem Kreativ-Team? Nicht einmal zur Aufrechterhaltung des Interesses pubertärer Knaben an Comicheftchen scheint dies unumgänglich, mir erscheint dies teilweise wie die Ausbeutung guten Ackerlands, bis dann alle Nährstoffe für kurzfristigen Nutzen verbraucht wurden und nur noch ein toter Hektar Dreck zurückbleibt. Aber im Bereich »Event-Film« wird ja jeder Geldesel gemolken, bis nichts mehr herauskommt oder die Honorarforderungen der (austauschbaren) Stars zu ausufernd werden. Shrek, Ice Age, Madagascar, Transformers – die Zuschauer sind selbst schuld, wenn sie immer wieder den selben Burger runterwürgen, statt es auch mal mit einer Pizza, einem Döner, einer Currywurst – oder einem gesunden Salat zu probieren. Mittlerweile ist es ja so, dass selbst eine handfeste Enttäuschung an der Kinokasse den Folgefilm höchstens um zwei Jahre verzögert, über den Verkauf von DVDs, BluRays und wie auch immer das nächste Format heißt amortisieren sich selbst wahnwitzige Produktionskosten, solange das Franchise eine Art Sicherheitsnetz hat. Wie wäre die Filmgeschichte wohl verlaufen, wenn Terrence Malick vier Jahre nach Heaven's Gate ein Sequel dazu gedreht hätte und heutzutage jeder neben seiner Definitive-Collector's-Edition-BluRay-Triple-Box von Lord of the Rings die vier Western-Klassiker der 1980er und frühen 90er stehen hätte – und natürlich den Reboot von 2001, der dann zu eine neuen Trilogie anwuchs? Vier neue Back-to-the Future-Filme mit Justin Bieber (»Marty, wir müssen zurück in die Achtziger! Nach unserem letzten Aufenthalt ist dein Vater schwul geworden!«)? Alle zwei Jahre ein neues Abenteuer mit Roger Rabbit (natürlich immer in 3D)? Und natürlich die jeweils aktuellen Remakes von Basic Instinct, Striptease und Showgirls …
Die Filmbranche hat immer weniger mit der ihr zugrundeliegenden Kunstform zu tun, und darin sind nicht die Macher schuld, sondern das gehirngewaschene Lämmermeer, das ihnen dieses immer wieder durchgehen lässt. Aber nun zum Film.
Was zeichnet The Amazing Spider-Man aus, was kann den Erwerb einer Kinokarte rechtfertigen? Andrew Garfield und Emma Stone haben ein paar schöne, wirklich sehenswerte Szenen – größtenteils trägt Garfield dabei keinen roten Anzug. Martin Sheen und Sally Field sind ein Paar, das wir gerne Ende der Siebziger gesehen hätten – aber selbst heutzutage wünscht man ihnen ein paar mehr Minuten Leinwandzeit zusammen. Stan Lee hatte dieses Jahr bereits in The Avengers einen seiner besten Filmauftritte – der in The Amazing Spider-Man ist so großartig, dass man ihn später als bewegtes Hologramm auf seinem Grabstein installieren könnte.
Denis Leary bleibt leider hinter seinen Möglichkeiten, Rhys Ifans wird als Schauspieler zu wenig gefordert, die Szene mit dem Knaben im brennenden Auto kennt man bereits aus einem der Trailer, und – ach ja – wie sagt Regisseur Marc Webb ((500) Days of Summer) so schön im Presseheft? »And, of course, there's the Lizard, one of my favorite villains in comics.« Ich könnte wetten, dass Joel Schumacher damals dasselbe über Mr. Freeze gesagt hat. Und ihm habe ich auch nicht geglaubt.
Das große Problem von The Amazing Spider-Man ist, dass der Film versucht, etwas Neues, nie dagewesenes zu präsentieren. Damit hatte schon Spider-Man 3 seine Probleme. Es gibt nur soundsoviele Möglichkeiten, einen sich wie Tarzan an Lianen durch den (Großstadt-)Dschungel schwingenden und mit einem wildgewordenen »Dinosaurier« zu ringenden Supermenschen auf die Leinwand zu bannen. Die Erhöhung der Geschwindigkeit (so gut die in der großartigen Wecker-Einstellung funktioniert) reicht nicht, die »Erfindung« einer subjektiven Kamera, die den Zuschauer selbst am überdimensionalen Spinnennetz herumturnen lässt, gibt auch keinen neuen Adrenalinstoß, insbesondere nicht in 3D. Ich weiß nicht warum, aber zu seinen Figuren und der Geschichte hat der Film kein wirkliches Vertrauen. Es ist durchaus interessant, dass Peter Parker diesmal nicht für den Daily Bugle (die Zeitung ist einmal zu sehen, die Redaktion niemals) arbeitet, und er sich für Wissenschaft mehr interessiert als für die Fotografie. Was dann auch fortgesetzt wird in den selbstgebastelten Web-Shootern, die außerdem (ein mehrfach vorgeführter Trick) blitzschnell das »Netzkabel« wieder einziehen wie ein Staubsauger. Statt MJ, MJ, MJ mal ein bisschen Gwen Stacy (und nicht nur als Grund für MJs Eifersucht wie in Spider-Man 3) ist auch erfrischend, und wenn sich Peter Parker schlussendlich als ein Held erweist, der auch Eier hat, ist das eine der schönsten Szenen des Films. Doch was ist mit Peters Problemen, die die Figur immer ausmachten? Statt J. Jonah Jameson macht ihm diesmal der Vater seiner Freundin das Leben zur Hölle – doch der Film macht nicht daraus. Der Lizard (immerhin in den letzten zwei Raimi-Filmen schon vorbereitet) könnte einen character arc durchmachen wie zuletzt »Doc Ock«, doch – trotz Rhys Ifans! – er ist ein wandelnder Spezialeffekt ohne nachvollziehbare Motivation, und wenn ein Computerbildschirm nebenbei mal erklärt, dass die Kraft und Größe des Lizards fast exponentiell zunimmt, so verläuft doch jeder der Kämpfe zwischen der Spinne und der Eidechse fast gleich – und ich will gar nicht erst darauf zu sprechen kommen, dass Peter beim letzten Kampf angeschossen wurde – eine Wunde, die (ohne Erklärung) fast so schnell zu heilen scheint wie bei Wolverine.
Emma Stone ist eigentlich fast immer einen Kinobesuch wert, aber hier läuft sie selbst im Laborkittel wie eine Bordsteinschwalbe herum (die »hooker boots« kommen glücklicherweise in einer anderen Szene) und man hat das Gefühl, dass sie größtenteils Gesichtsausdrücke »nachspielt«, die wir schon früher mal von ihr gesehen haben. Andrew Garfield weiß sich besser zu behaupten, aber seine Figur ist hier teilweise – insbesondere beim Entdecken, wie man sich selbst so als Bully macht – nicht so grundsympathisch wie Tobey Maguire, der selbst in seinen dunkelsten Momenten (also jetzt als Spider-Man, nicht bei The Good German!) immer noch mit den weit aufgerissenen Augen eines Knaben einiges rausreißen kann. Es gibt einfach viel mehr verschenktes Potential als Dinge, über die man sich freuen kann.
Und mein größter Vorwurf an den Film ist sein Erzähltempo. Da es diesmal ganz geheimnisvoll auch um Peters Vater geht (Fortsetzung folgt), wird nach einigen schönen Szenen mit Martin Sheen beispielsweise der Tod Uncle Bens (nebst der vorhergehenden Fehlentscheidung) in gefühlt anderthalb Minuten abgehandelt. Die Romanze mit Gwen? Geradlinig und ohne Probleme (incl. seiner Geheimidentität), man fragt sich später, warum sie nicht sofort übereinander hergefallen sind (stattdessen gibt es einen Ausflug über den Dächern von New York in etwa vier Sekunden – ultimative Romantik im Schnellwaschgang). Und wenn man sich dann fragt, wofür der Film die so »gesparte« Zeit verwendet? CGI-Eidechsen, die überall rumkrabbeln. Peter Parkers nicht eben tiefgreifende Freundschaften mit Flash Thompson und Missy Kallenback. Ein Fischessen bei Gwens Eltern (ein fahler Abglanz der entsprechenden Szene mit Willem Dafoe). Die Verfolgung des Mörders von Uncle Ben, die dann aber einfach ergebnislos »vergessen« wird. Oder kurz gesagt: lauter Nichtigkeiten. The Amazing Spider-Man ist kein wirklich schlechter Film, aber er ist erschreckend überflüssig. Um noch einen Vergleich mit der Filmgeschichte zu bemühen: Als wenn Disturbia vier Jahre nach Hitchcocks Rear Window ins Kino gekommen wäre. Naja, nicht ganz so schlimm, aber der Trend ist zu erkennen.