Anzeige:
     Anzeige:
Marc Degens: Fuckin Sushi




11. Mai 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 149:
Mängelexemplare



◊ ◊ ◊

  Whiskey Tango Foxtrot (Glenn Ficarra & John Requa)



Whiskey Tango Foxtrot
(Glenn Ficarra &
John Requa)

USA 2016, Buch: Robert Carlock, Buch-Vorlage: Kim Baker, Kamera: Xavier Grobet, Schnitt; Jan Kovac, mit Tina Fey (Kim Baker), Christopher Abbott (Fahim Ahmadzai), Martin Freeman (Iain Mackelpie), Margot Robbie (Tanya Vanderpoel), Billy Bob Thornton (Colonel Walter Hollanek, USMC), Alfred Molina (Ali Massoud Sadiq), Stephen Peacocke (Nic), Nicholas Brown (Tall Brian), Sheila Vand (Shakira Khar), Evan Jonigkeit (Andrew Coughlin), Josh Charles (Chris), Fahin Anwar (Jaheed), 112 Min., Kinostart: 2. Juni 2016

Wie arg eine Komödie über den Krieg in die Hose gehen kann, hat dieses Jahr schon Rock the Kasbah mit Bill Murray bewiesen. Und - was zum Henker!? - Whiskey Tango Foxtrot mit der ähnlich prominent gecasteten Tina Fey wirkt beim Betrachten des Trailers durchaus ähnlich.

Zwar bedient man sich auch hier einer »wahren Geschichte«, hat diese aber passgerecht auf die Hauptdarstellerin zugeschnitten. Wer die auch als Sarah-Palin-Doppelgängerin bekannte Fey in den sieben Staffeln ihrer Comedy-Serie 30 Rock als »Liz Lemon« kennengelernt hat, dem wird ihre Rolle als Kim Baker reichlich bekannt vorkommen: nicht mehr 35 (oder 40); nicht ganz so hübsch wie die weibliche Konkurrenz; auf der Suche nach der großen Liebe; aber gleichzeitig auch auf der Suche nach emanzipatorischer Bestätigung; jederzeit bereit, in Fettnäpfchen zu treten; und vor allem: trotz aller Neurosen eine Figur, die Männern und Frauen sympathisch ist.

Beim Abgleich des Filmstabs hat man das Gefühl, dass neben Drehbuchautor Robert Carlock auch ein Großteil der Produzenten direkt von 30 Rock übernommen wurden: Da wären neben Tina Fey und ihrem Mann Jeff Richmond (der zur Fernsehserie die Musik beisteuerte) Saturday Night Live-Erfinder Lorne Michaels oder Eric Gurian zu nennen. Und das Regiepaar Glenn Ficarra & John Requa (I love you, Phillip Morris, Crazy, Stupid, Love.) ist nicht nur komödienerfahren, sondern scheint auch ein paar »gute alte Freunde« mitgebracht zu haben. Etwa Billy Bob Thornton, für dessen prägende Komödien Bad Santa und Bad News Bears sie die Drehbücher schrieben, sondern neben dem Cutter und Kameramann aus ihrem letzten Spielfilm Focus auch noch gleich dessen Hauptdarstellerin Margot Robbie (The Wolf of Wall Street). Unterstützt wird diese gut miteinander bekannte Crew von Martin Freeman, der erst jüngst zusammen mit Thornton die erste Staffel von Fargo bestritt.

All diese Filmschaffenden passen auch vor der Kamera gut zusammen, aber noch viel wichtiger ist, dass WTF nicht die selben Fehler macht wie Rock the Kasbah. Als da beispielsweise wären: keine dramaturgische Geschlossenheit und eine lang anhaltende Verharmlosung des Kriegsinhalts, die man dann erst in der vorletzten Szene oder so zurechtzurücken versucht. In diesen beiden Kategorien überzeugt WTF. So gibt es vor dem Bergfest des Films schon einen ernsthaften Feindkontakt, der so gar wichtig für die Story ist. Und gegen Ende gibt es sogar eine durchaus dramatische Geiselbefreiung, bei der der Militäreinsatz mit Feuergefecht nicht ausgeblendet wird, sondern nur über den unpassend wirkenden und fast alle anderen Geräusche eindämmenden Soundtrack (Harry Nilssons Without you, mit dem uns Mariah carey die Gehörgänge begradigt hat) für den Zuschauer verharmlost. Außerdem gibt es auch mit Fahim (Christopher Abbott) zumindest eine Figur, aus deren nicht-amerikanischer Perspektive wir die Geschichte auch mitverfolgen können (wir ignorieren jetzt mal die Nationalität des Darstellers, das gesamte Kabul des Films wurde ja auch in Albuquerque nachgestellt).

Auf der Comedy-Ebene hat der Film eine gute Trefferquote, die durch das screwball-mäßige Tempo das Publikum kaum zur Ruhe kommen lässt. Die gröbste Kritik am Film bezieht sich auf das durchaus gelungene Ende, das aber in einer Hinsicht unangemessen wirkt. Die ich diesen Teil des Films jetzt im Detail durchnehmen werde, gibt es an dieser Stelle die nötige Spoiler-Warnung, denn ich plaudere durchaus detailliert über den Ausgang des Films. Zwischen der Fey-Figur und der von Martin Freeman gespielten Rolle gibt es eine etwas andere Love-Story, die am Schluss des Films zu einem Non-Plus-Ultra-Emanzipations-Happyend führt, denn diverse zuvor eingeführte Klischees werden umgedreht. Nicht nur ist Kim federführend an der Rettung ihres beau beteiligt, in genauer Umdrehung früherer Szenen scheint sie am Schluss diejenige, die ihn unter den Tisch trinkt, bzw. ihn nackt in ihrem Bett erwachen lässt, während sie sich am Morgen bereits die Zähne putzt. Und dann bietet sie ihm auch noch an, er könne ja ihr an den Ort ihrer neuen Betätigung folgen. Diese ausgedehnte Feminismus-Passage für Zuschauer, die so etwas bemerken bekommt dann sogar noch einen regionalen Anstrich, wenn Kims lokaler Scout Fahim gegen Ende erwähnt, dass er mittlerweile Vater von Zwillingen ist, und dabei betont »The boy is very strong«, wobei Tina / Kim nicht anders kann, als einzuwenden »I bet the girl is strong, too!« - gefolgt von Fahims Eingeständnis »She is stronger!« Diese kleine Dialog ist zwar in seiner Entwicklung relativ sinnfrei, passt aber ganz genau zu diesem Happyend. Was aber gleichzeitig etwas sauer aufstösst, ist das Detail, dass das Frauenbild des Films zuvor durchaus angreifbar war. Und zwar nicht nur, weil Tina Fey ihren Fettnäpfchen-Steptanz abzieht. So gibt es Witze auf Kosten einer arabischen Fahrschülerin, mehrere eigentlich überflüssige Lesbenwitze - und für einen Film, der sich so große Mühe gibt, im Titel ein Wort auszublenden, das man in der blitzblanken Fernsehwelt von 30 Rock nie ausgesprochen hätte, ist WTF im Gebrauch von swear words nicht eben zimperlich, wobei man beide abwertenden Begriffe für das weibliche Primärgeschlechtsorgan benutzt, sowohl das mit P als auch das wirklich derbe mit C am Anfang. Vielleicht ist das ja eine genau durchdachte Ambivalenz, die eben nicht PC sein soll, aber zur wirklich bis ins Detail designte Schlusssequenz passen die anderen Szenen zuvor (auf die Charaktereigenschaften der von Margot Robbie gespielten Reporterin mag ich gar nicht eingehen) nicht wirklich.

Aber trotzdem ist von den zwei based on a true story Geschichten über starke Journalistinnen, die an diesem Starttag anlaufen, der Tina-Fey-Film doch noch eine Spur gelungener als der mit Cate Blanchett. Auch und insbesondere bezogen auf die feministischen Themen.


◊ ◊ ◊

  Mängelexemplar (Laura Lackmann)



Mängelexemplar
(Laura Lackmann)

Deutschland 2016, Buch: Laura Lackmann, Lit. Vorlage: Sarah Kuttner, Kamera: Sten Mende, Schnitt: Gergana Voigt, Musik: Jan Weigel, mit Claudia Eisinger (Karo), Katja Riemann (Mutter Luzy), Barbara Schöne (Oma Bille), Laura Tonke (Anna), Maximilian Meyer-Bretschneider (Max), Maren Kroymann (Annette), Christoph Letkowski (Philipp), Detlev Buck, 112 Min., Kinostart: 12. Mai 2016

Claudia Eisinger (Wir sind die Neuen) schaut uns vom Plakat aus zweifach (jeweils angeschnitten) an. Links traurig-trotzig, mit verschränkten Armen in einer abweisend wirkenden Jacke, rechts mit der selben Armhaltung, aber optimistisch lächelnd und in einer seltsamen Kombi aus schulterfreiem T-Shirt und nicht ganz taufrischen Wollhandschuhen. Beide Claudias tragen eindeutig zu viel Augen-Make-up.

Karo (Eisinger) ist depressiv, und in dieser Bestseller-Verfilmung nach Sarah Kuttner (der Titel Mängelexemplar hat auf dem Buchmarkt eine gut funktionierende Doppelbedeutung, ich nehme an, dass ein internationaler Filmtitel - da braucht man den Buchbezug nicht - »Damaged Goods« lauten könnte) gibt sich Laura Lackmann, eine Debütantin in Sachen Spielfilmregie, viel Mühe, einerseits dem durchaus ernsten Thema gerecht zu werden, aber einem Kinopublikum auch irgendwie zu suggerieren, dass man so was wie »Unterhaltung« geboten bekommt. Fachbegriff: Tragikomik.

Die mitunter gelungene visuelle Umsetzung hat auch einige sehr quirlige Momente, aber der Multitasking-Job, sowohl einfühlsam etwas über psychologische Befindlichkeiten zu vermitteln, und gleichzeitig halbwegs in die alles beherrschende Romantic-Comedy-Schublade zu passen, führt zu einem Spagat, der den Film irgendwie zerreißt.

Dabei ist es durchaus bemerkenswert, wie der Film mit einem schockähnlichen Bild beginnt, es aber dennoch schafft, einen für die Hauptfigur einzunehmen. Wenn Karo gleich in der ersten Szene ihr »inneres Kind« loswerden will, in dem sie ein sich an ihr festklammerndes kleines Mädchen über das Brückengeländer in den Kanal wirft, wird augenblicklich klar, dass diese Frau ein Problem hat, bei dem man ihr nur schwer helfen kann. Im Roman wir das durch einen selbstgefällig Bionade schlürfenden Psychologen klar, der auch im Film für eine Rahmenhandlung übernommen wird (auch wenn man die Sponsoring-Unterstützung des Getränkeherstellers wohl nicht bekam, weil das Konsumenten-Klischee nicht unbedingt verkaufsfördernd wirkt), innerhalb derer die eigentliche Geschichte aus der dezidiert persönlichen Sicht Karos erzählt werden kann. Dieser Tonfall scheint die Buchvorlage zu prägen (auch wenn ich nur die vier Seiten Romanausschnitt aus dem Presseheft kenne, lege ich dafür meine Hand ins Feuer), bereitet aber dem Film einige Probleme, weil die ironische Brechung als Anstrengung erkennbar ist, aber meistens nicht funktioniert.

Es gibt zwar gerade zu Beginn des Films unterhaltsame Momente, die auf eine Kombination der unterschiedlichen Erzählansätze hoffen lassen (etwa wenn ein Verkäufer im Baumarkt angesichts Karo per Zahlencode Hilfe anfordert), aber wenn sie dann zum Kind einer anderen Kundin sagt »Kleine, fick deine Mutter!«, dann ist man eben nicht in der Innenansicht der Romanerzählerin, sondern betrachtet die Figur von außen - und bewahrt sich dadurch eine Distanz, die im Film nie überwunden wird. (Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dass das im Roman automatisch besser funktioniert hat - eine ziemliche Nervensäge scheint Karo da auch zu sein.)

Und dann werden einige Gemeinplätze des deutschen Kinos abgespult (z.B. der Soundtrack und mal wieder Detlev Buck) oder die zu sehr in Richtung der Hauptrolle gecastete Laura Tonke taucht auf (die in Hedi Schneider steckt fest vorgemacht hat, was hier weitaus weniger überzeugend umgesetzt wird). All dies drängt die innovativeren bzw. immerhin ambitionierten Aspekte (Schnitt, Zeitlupeneinsatz, visuelle Umsetzung der mentalen Probleme) irgendwie in den Hintergrund.

Und am schwersten wiegt für mich, dass das Drehbuch sich viel zu sehr an Beziehungserfolgen oder Misserfolgen orientiert. Man bekommt den Eindruck, dass nicht nur der Krankheitsausbruch, sondern auch die Therapierung (ob eigen- oder fremdgesteuert) letztlich über »den Freund« mitdefiniert wird, was den hippen, flapsigen Tonfall quasi ins viktorianische Zeitalter, zu Sigmund Freud und den hysterischen Frauen zurückwirft, die nur der starken aber liebevollen Hand einer patriarchalen Führung bedurften, um von ihren »Flausen« geheilt zu werden. Für einen Film mit so vielen Frauen in zentralen Rollen (ich zähle hier die Regisseurin und Romanautorin mit) hätte man sich insbesondere von solchen rückständigen Ansichten eine deutlichere Distanz gewünscht.


◊ ◊ ◊

  Die Poesie des Unendlichen (Matthew Brown)



Die Poesie des Unendlichen
(Matthew Brown)

Originaltitel: The Man who knew Infinity, USA / Großbritannien / Indien 2015, Buch: Matthew Brown, Lit. Vorlage: Robert Kanigel, Kamera: Larry Smith, Schnitt: JC Bond, Musik: Coby Brown, mit Dev Patel (Srinivasa Ramanujan), Jeremy Irons (Godfrey Harold Hardy), Devika Bhise (Janaki), Stephen Fry (Sir Francis Spring), Toby Jones (John Edensor Littlewood), Arundhati Nag (Komalatammal), Richard Cunningham (Hobson), Jeremy Northam (Bertrand Russell), Malcolm Sinclair (Professor Cartwright), 114 Min., Kinostart: 12. Mai 2016

Ohne nennenswerte Schulausbildung hat sich der 25jährige Srinavasa Ramanujan (Dev Patel aus Slumdog Millionaire) im kolonialen Indien des Jahres 1913 einen Job als Buchhalter erarbeitet, frönt nebenbei seiner Leidenschaft für die Mathematik und lernt seine Frau Janaki (Devika Bhise) kennen - natürlich nachdem die Ehe arrangiert wurde (»Don't worry, I will sleep on the floor.«).

Über einen prallgefüllten Briefumschlag kontaktiert er G.H. Hardy (Jeremy Irons), einen Professor in Cambridge, der uns als Erzähler einer Rahmenhandlung die gesamte Geschichte - inklusive einiger Fehlentscheidungen, die er im Nachhinein bereut - nahe bringt.

Die Vorurteile des akademischen Klüngels gegenüber dem dunkelhäutigen Naturgenie, das seine Einsichten eher eine Intuition verdankt, als sie über peniblen Regeln verpflichteten Beweisführungen zu autorisieren, steht im Zentrum des Films, in dem Stephen Fry und Toby Jones weitere Cambridge-Honoratoren darstellen. Hierbei sind die fakultativen Machtkämpfe, die sich häufiger um die eigene Stellung als um den Fortschritt im Studiengebiet drehen, nur ein Teil des Hintergrund-Soundtracks dieses Biopic, in dem es auch um die in Mitleidenschaft gezogene Ehe, eine ähnlich intrigant vorgehende Schwiegermutter und den Kriegsausbruch geht.

»I'm doomed like Galileo« fasst Ramanujan seine längst noch nicht ausformulierte Situation gleich zu Beginn des Films zusammen, und Film und Presseheft versichern einem, dass seine Rolle für die Mathematik (etwa für die Vorherbestimmbarkeit von Primzahlen) eine bedeutende gewesen sein muss.

Im Verlauf des Films kommt er dem akademischen Prozedere wie dem bevorzugten Auftreten durchaus näher, erringt auch Teilerfolge, aber irgendwie ist die Geschichte doch eher eine traurige, und in diesem Fall frage ich mich, ob ein Beharren auf biografische Details wichtiger ist als ein dramaturgischer Spannungsbogen, der im Film leider nur ansatzweise zu erkennen ist. Man kommt den Figuren nicht wirklich nahe, die Handlung bleibt fragmentarisch, und auch die Liebesgeschichte, die in erfolgreichen Vorbildern wie A Beautiful Mind, Proof oder The Invention of Everything die Anbindung an das Publikum ermöglichte, wirkt hier nur vage angerissen.

Von der »Poesie« des deutschen Verleihtitels oder der der Mathematik innewohnenden Ästhetik bekommt man auch nur kleine Schlaglichter vermittelt, es wirkt so, als wenn der Film viel zu viel auf einmal versucht, sich aber auf keinen seiner zahlreichen (durchaus interessanten) Teilaspekte wirklich konzentrieren kann. Stattdessen wird der Film durch Newton-Anekdoten, Kurzauftritte von Bertrand Russell oder einen pflichtschuldigen indisch klingenden Soundtrack noch zusätzlich aufgeblasen, aber letztlich erinnert mich das ganze an die Geschichtsstunden meiner Schulzeit (hier mag man als Leser auch ein anderes Fach einsetzen), als die Lehrkräfte nie jenen Enthusiasmus entfachen konnten, der eine wirkliche Beschäftigung mit den Themen hätte katalysieren können. Man erfährt in The Man who knew infinity etwas über Indien, über Rassismus, über die Liebe, über den ersten Weltkrieg, über Cambridge und die Mathematik, aber es bleibt kaum etwas hängen, weil alles nur oberflächlich angerissen wird. Die Unendlichkeit ist vermutlich auch ein undankbares Thema, wenn man sie in zwei Stunden nahe bringen will...

Was mich am meisten an dem Film verwundert: ich kann mir nicht wirklich klar werden, für welches Publikum man ihn erschaffen hat. Ich verstehe ansatzweise, welches Zielpublikum man ansprechen will, aber wer sich über ein anfängliches Interesse hinaus - oder eine »Neugier«, die zum Ticketkauf führen kann - im Nachhinein wirklich begeistern kann für diesen Streifen, das will mir nicht einleuchten. Und das ist oft die crux im Filmbusiness: man dreht zu selten Filme, die das Publikum verzaubern oder mitreißen sollen und können - und zu häufig Filme, deren Hauptaufgabe es ist, das Publikum überhaupt erst mal ins Kino zu locken. Und nicht einmal dabei bietet der Film eine überzeugende Leistung.


◊ ◊ ◊

  Tomorrow (Cyril Dion & Mélanie Laurent)



Tomorrow
Die Welt ist voller Lösungen
(Cyril Dion & Mélanie Laurent)

Originaltitel: Demain, Buch: Cyril Dion, Kamera: Alexandre Léglise, Schnitt: Sandie Bompar, Musik: Fredrika Stahl, mit Anthony Barnosky, Elizabeth Hadly, Vandana Shiva, Charles & Perrine Hervé-Gruyer, Olivier de Schutter, Thierry Salomon, Robert Reed, Jan Gehl, Rob Hopkins, Emmanuel Druon, Bernard Lietaer, David Van Reybrouck, Elango Rangaswarni, Kari Louhivuori, 118 Min., Kinostart: 2. Juni 2016

»We all felt we had to do something.« Die französische Schauspielerin Mélanie Laurent (Inglourious Basterds), der Aktivist Cyril Dion und einige Bekannte sitzen, größtenteils mit Kindern, an einem Tisch und beschließen, dem bevorstehenden Ende der Menschheit mit einem Dokumentarfilm entgegenzuwirken. Dafür gab es den César als beste Doku und 600.000 Zuschauer allein in Frankreich.

Vorweg: das Ansinnen ist ehrenhaft, man lernt durch den Film von allerhand Möglichkeiten, für die Erde und die Natur zu arbeiten anstatt sie aus kurzfristigen und engstirnigen kapitalistischen Gesichtspunkten kaputtzuproduzieren. Wenn man sich schon einmal mit dem Thema befasst hat (oder hin und wieder einschlägige Fernsehformate verfolgt), wird einem manches bekannt vorkommen, aber die Herangehensweise des Films ist es, quasi »bei Null« anzufangen und dem Problem (und möglichen Lösungen) auf die Spur zu kommen. Dafür hat man den Film in Kapitel aufgeteilt, die hübsch didaktisch jeweils durch eine kleine Zeichnung symbolisiert werden: Die Erkenntnis (der bevorstehende Zusammenbruch des Ökosystems im 21. Jhd.) - Landwirtschaft - Energie - Wirtschaft - Demokratie - Bildung. Und dann erfährt man über eine Menge Projekte in diesen Bereichen und auch einige niederschmetternde Statistiken werden bemüht. Beispielsweise, dass für jede Kalorie, die wir zu uns nehmen, zehn bis zwölf Kalorien an Brennstoffen in der Produktion verheizt werden. Oder dass in Frankreich die Energie von zwei Atomkraftwerken exakt dafür ausreicht, die auf »stand by« geschalteten Elektrogeräte zu vorsorgen. Und wie viel Energie die Monitore in den Pariser Metro-Stationen verpulvern, will auch keiner wissen.

Dabei kann man, so wird vorgeführt, auf 300 m² im Jahr eine Tonne Mischkultur-Agrargut wachsen lassen - aber aus der Sicht der Industrie ist groß und dumm eben »sinnvoller« als klein und clever. Weiterhin geht es um Stadtplanung für Radfahrer (Kopenhagen), Recycling (San Francisco), lokale Währungen zur Unterstützung regionale Geschäfte (England), funktionierende Demokratie (Indien) oder Schulbildung ohne Testdruck (Finnland). Mein Lieblingsbetrieb ist ab sofort die französische Briefumschlag-Produktionsfirma Pocheco, die nicht nur umholzt, sondern Bäume anpflanzt, sich ein neues System für den Transport einfallen ließ (ohne den ganzen typischen Müll). Man hat über Regenwasser einen eigenständigen Wasserkreislauf aufgebaut, nutzt die Wärme der Maschinen auch für die Heizung, behandelt die Angestellten so, dass ich dort sofort anfangen würde, nutzt die Dachbegrünung als natürliche Isolation, hat nebenbei noch Bienenstöcke und einen Obstgarten auf dem Firmengelände ... am liebsten hätte ich einen eigenen Dokumentarfilm nur über diese Firma gesehen.

Bei Demain ist aber nicht nur der Titel ein bisschen idiotisch (man erinnere sich an das alte Sprichwort »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«), trotz aller Unterhaltsamkeit und dem handverlesenen Soundtrack (What a wonderful world etc.) zieht sich der Film auch, erschöpft sich in einer gewissen Beliebigkeit und demonstriert, das Optimismus und Naivität aus der selben Familie stammen. Beim Schlusssprint des Films entblödet man sich noch nicht einmal, die gleichen Bilder abzuspulen, die man mittlerweile aus den Werbekampagnen von Coca-Cola oder Apple kennt.

Man darf das nicht verwechseln: Mein Job ist es nicht, die (vorhandene) gute Absicht abzufeiern. Wenn nur jeder fünfte oder hundertste Kinobesucher irgendeine Lehre aus dem Film zieht und danach eigenes Gemüse anpflanzt, dann begrüße ich das natürlich. Aber der Film an sich überzeugt mich nicht. Das ist zwar in etwa so, als wenn man bei einem Spendenaufruf, dessen Nutznießer man voll unterstützt, über die irgendwie misslungenen Plakate jammert. Oder einen blöden Rechtschreibfehler. Aber: während die Filmemacher hohe Ansprüche an die Lernfähigkeit der Menschen stellen, will ich vor allem gute Filme - und da ist bei Demain durchaus noch Platz nach oben frei.

Aber so lang kein besserer Film kommt: ruhig mal hingehen - insbesondere, wenn man nicht für den Film ins Kino geht, sondern für die Info und die Botschaft (da unterscheide ich mich stark vom durchschnittlichen Doku-Besucher).

Das dankbarste Publikum dieses Films wird vermutlich aus Leuten bestehen, die normalerweise nie für eine Doku ins Kino gehen.


◊ ◊ ◊

  Victor Frankenstein (Paul McGuigan)



Victor Frankenstein
Genie und Wahnsinn
(Paul McGuigan)

Originaltitel: Victor Frankenstein, USA 2016, Buch: Max Landis, Kamera: Fabian Wagner, Schnitt: Charlie Phillips, Musik: Craig Armstrong, Kostüme: Jany Temime, Production Design: Eve Stewart, mit Daniel Radcliffe (Igor Straussman), James McAvoy (Victor Frankenstein), Jessica Brown Findlay (Lorelei), Andrew Scott (Inspector Turpin), Freddie Fox (Finnegan), Charles Dance (Frankenstein sr.), Kinostart: 12. Mai 2016

Schon bei den ersten Worten dieses Films (»You know the story. A crack of lightning ...«) wird überdeutlich, dass es sich definitiv nicht um eine Literaturverfilmung handelt, denn nicht nur gibt es die Figur des Buckligen Igor (hier Daniel Radcliffe als Quasierzähler) nicht in Mary Shelleys Frankenstein, noch spielt die Elektrizität des Blitzschlags dort jene wichtige Rolle, die sie in den meisten Verfilmungen seit jener von James Whale (1931) übernahm. Und während des Films wurde mir dann auch schnell klar, dass diese reichlich überflüssige Mär um eine seltsame Männerfreundschaft allenfalls in der Kreisliga von flink zusammengefledderten »literarisch inspirierten« Action-Knallern wie Van Helsing oder Hansel & Gretel Witch Hunters spielt. Doch selbst diese (immerhin amüsanten) Machwerke sind Victor Frankenstein einiges voraus, denn hier bezieht man die Unterhaltung größtenteils aus der überkandidelten trashigen Idiotie, mit der man ohne Rücksicht auf Verluste eine halbgare Idee bis zum bitteren Ende durchexerziert.

Drehbuchautor Max Landis (Sohn von Regisseur John Landis, der neben Schlock eben auch ernstzunehmende Klassiker wie An American Werewolf in London schuf) hatte mich mit seinem Debüt Chronicle um einen etwas anderen Gebrauch von »Superkräften« noch einigermaßen überzeugt, aber schon der Nachfolger American Ultra hatte deutliche dramaturgische Schwächen. Bei Victor Frankenstein bestätigt sich das Vorurteil, dass ein guter Pitch (die Frankenstein-Geschichte aus der Sicht Igors, der aber gar kein Buckliger ist, sondern ein gutaussehender und hochintelligenter Jüngling) für die Finanzierung eines Filmprojekts oft wichtiger ist als eine wirklich stimmige Story.

Ich will hier nur einige der Narreteien nacherzählen, die der Film locker-flockig hintereinander hängt. Und gleichzeitig auch die zwei bis drei fast genialen Ideen, die bei diesem wüsten Brainstorm als Nebenprodukte entstanden, erwähnen.

Ein zunächst namenloser Buckliger, der von seinen Zirkuskollegen in der Rolle des Clowns würdelos verlacht wird und auch sonst einiges einzustecken hat, arbeitet nebenbei auch als Arzt der Truppe, denn in Sachen anatomischer Zusammenhänge ist er seinen Zeitgenossen (der Film spielt 1860) einiges voraus. Zwischendurch schaut er hinauf zur Trapezkünstlerin Lorelei (Jessica Brown Findlay), die ihm zumindest ein wenig Zuneigung zukommen lässt. Klingt schon mal stark beim Hunchback of Notre Dame abgekupfert. Dann kommt die schicksals-schwere Nacht, in der Victor Frankenstein den Zirkus Barnaby (lange Zeit sieht man immer nur die Anfangsbuchstaben »Barn«, auch hier ist die Inspiration offensicht-lich) besucht. Schon bevor die beiden Hauptfiguren sich treffen, zeigt man durch Überblendungen von anatomischen Zeichnungen über artistische Darbietungen, dass die beiden »gleich denken«. Und dann kommt wie vorprogrammiert der Trapezunfall Loreleis (immerhin ohne einen Sabotage-Akt, den man dann rächen müsste), und als der herbeieilende Dr. F den Fall schon als nicht zu retten abtut, kommt der Bucklige mit einer innovativen Idee, die er gemeinsam mit dem Arzt ausführt und das Mädchen rettet.

Wie Frankenstein dann entdeckt, dass der nach seinem abwesenden Mitbewohner Igor benannte Bucklige gar kein Buckliger ist - und in Nullkommanix ganz normal umherwandelt und sogar zum akzeptablen Gesellschaftstänzer wird, ist teilweise so unglaubwürdig, dass man seinen Augen kaum traut. Mit einem tierischen Prototyp des »Monsters« namens »Gordon« liefert man dann auch noch in Sachen misslungener CGI erschröckliches. Der Kommentar einer seltsamen Uni-Vorlesung fasst dies bestens zusammen: »Just an exquisite show of depraved lunacy. What's next? Perhaps a midget popping out of your rotting meat statue?« - Aber entsprechend aller Konventionen erwacht der scheußliche Schimpanse zum Leben - »it's alive!« - während der Film immer mehr zur Totgeburt gerät.

Beim ohnehin sehr langatmigen Handlungsverlauf werden nun noch zusätzliche Nebenfiguren für den Showdown eingefügt. Neben dem bereits zitierten Snob Finnegan aus der Vorlesung (Freddie Fox) vor allem einen irgendwie diabolisch erscheinenden Inspector (Moriarty-Darsteller Andrew Scott mit schwarzen Kontaktlinsen). Ungeachtet der immer wieder beschworenen bekannten Elemente der Geschichte erwartet man offensichtlich vom Zuschauer, dass dieser sich nun für diese Figuren, die nie wirklich Kontur gewinnen, interessieren soll. So wohnt man etwa einer Beurlaubung Inspector Turpins bei, die wohl nur deshalb nicht sofort bei den »deleted scenes« landete, weil die verwendeten Spezialeffekte (die nächste Lachnummer) zu teuer waren, um sie einfach zu entsorgen.

Während die Filmfiguren sich mehrfach bestätigen, wie genial sie sind, wird der Film immer dümmlicher, zieht sich wie ein Kaugummi, das längst allen Geschmack verloren hat, und ist eigentlich nur deshalb entfernt sehenswert, weil man einfach gesehen haben muss, wie durchgedreht dieser Mist ist. Nicht nur aufgrund des Affenmonsters hatte ich durchaus das Gefühl, dass Landis seinem Vater nachfolgen wollte. Oder Ed Wood und dem Erfinder der Killertomaten. Instant SchleFAZ! Wenn jemand voller Pathos »This is my destiny« ruft, hatte ich plötzlich Jennifer Rush im Ohr. Oder anders ausgedrückt: Wenn man so viel Whisky zu sich nimmt wie die beiden Wissenschaftler beim Kreieren ihres neuen Prometheus (das Effekte-Budget schien durch »Gordon« schon erschöpft), dann wird man durchaus seinen Spaß an diesem Film haben. Ich habe jedenfalls teilweise wirklich Tränen gelacht, wenn etwa Igor und der gemeingefährliche Gordon von einem Treppengeländer zu fallen drohen und Igor erst die Prioritäten richtigstellen muss: »Victor! Help me, not him!« Oder der deutlichste Hinweis darauf, dass eine Figur irre ist, die klar erkennbare feuchte Aussprache ist. Auf diesem Level bietet der Film wirklich das, was James McAvoy im Presseheft verspricht: »[...] unexpected dimensions of [...] entertainment.«

Ach ja, beinahe vergessen: der (wirklich!) genialste Moment des Films ist die wohl beste Technobabble-Filmerfindung seit dem »Flux-Kompensator«: die »Lazarus-Zange« (im Original »Lazarus fork«, ist aber definitiv keine Gabel). Dieses vielseitig verwendbare Werkzeug darf in keinem Reanimations-Labor fehlen!



Anfang Juni in Cinemania 150:
Caracas, meine Liebe (Lorenzo Vigas), Die Frau mit der Kamera (Claudia von Alemann), Lou Andreas-Salomé (Cordula Kablitz-Post), Ma ma - Der Ursprung des Lebens (Julio Medem) und Miss Hokusai (Keiichi Hara).