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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




21. Oktober 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 137:
Vierbeiner


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  Jonathan Strange & Mr Norrell (Toby Haynes)


Jonathan Strange & Mr Norrell
(Toby Haynes)

UK 2015, Buch: Peter Harness, Lit. Vorlage: Susanna Clarke, Kamera: Stephan Pehrsson, Lukas Strebel, Schnitt: Peter Christelis, Philip Kloss, Musik: Benoît Charest, Benoît Groulx, Kostüme: Barbara Kidd, Production Design: David Roger, Art Direction: Freddy Evard, Set Decoration: Jo Kornstein, mit Bertie Carvel (Jonathan Strange), Eddie Marsan (Gilbert Norrell), Marc Warren (The Gentleman), Charlotte Riley (Arabella), Enzo Cilenti (Childermass), Alice Englert (Lady Pole), Ariyon Bakare (Stephen Black), John Heffernan (Lascelles), Samuel West (Sir Walter Pole), Paul Kaye (Vinculus), Edward Hogg (Segundus), Vincent Franklin (Christopher Drawlight), Brian Pettifer (Honeyfoot), Ronan Vibert (Lord Wellington), Claudia Jessie (Mary), Lucinda Dryzek (Flora Greysteel), Clive Mantle (Dr Greysteel), Vernon Dobtcheff (Laurence Strange), Edward Petherbridge (King George III), Niall Greig Fulton (The Raven King), Thomas Morrison (Winespill), Dorian Lough (Hyde), Tetchena Bellange (Stephen's Mother), 3 DVDs mit 7 Episoden à 59 Min., DVD-Veröffentlichung: 8. Oktober 2015, auch als Blu-Ray und Video on Demand

England vor ziemlich genau 200 Jahren (laut Romanvorlage 1806-1817), zur Zeit von Napoleon, Lord Byron und King George III: zwei sehr unterschiedliche Zauberer wollen nach drei Jahrhunderten die Magie wieder nach England zurückbringen. Wer Susanna Clarke über tausend Seiten fetten Debütroman von 2004 kennt, liebt daran vermutlich die Jane Austen nicht unähnliche feine Ironie und die erst bei Patrick Rothfuss wieder so wissenschaftlich aufbereitete Seite der Zauberei (besonders deutlich, wenn die Fußnoten mal wieder für einige Seiten mehr Platz einnehmen als die eigentliche Geschichte). Den Jane-Austen-Tatsch erkennt man auch in der Verfilmung wieder, denn die kongeniale Besetzung der beiden Titelhelden könnte auch aus einer Pride & Prejudice-Verfilmung stammen: Eddie Marsan, immer wandlungsfähig, aber oft auf mausgraue schüchterne Figuren abonniert, spielt Mr Norrell, einen Bücherwurm, der seit jahrzehnten Zauberbücher ansammelt und meistens weiß, was man wo nachschlagen muss. Er erinnert an die Austen-Figur Mr. Collins, nur das Norrell noch schüchterner wirkt und an Frauen (oder Männern) so gar nicht interessiert ist. Wie der Tunichtgut Mr. Wickham ist auch Jonathan Strange (Bertie Carvel) ein gutaussehender junger Mann, wenn er auch etwas deutlicher für die Monogamie einsteht und bis über beide Ohren in seine Quasi-Nachbarin Arabella (Charlotte Riley) verschossen ist, die von ihm auch nur eines verlangt: dass er sich um einen Beruf oder eine Berufung bemüht. Wer konnte denn ahnen, dass er sich ausgerechnet für die Zauberei entscheidet?

In Buch wie Roman scheint es abgemachte Sache, dass die beiden Zauberer irgendwann gegeneinander antreten werden, aber der besondere Kniff besteht darin, dass sich die Geschichte oft ganz anders entwickelt als man angenommen hätte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass das Buch für eine Fernseh-Miniserie eigentlich wie geschaffen ist, denn es gibt eine ganze Menge Nebenfiguren, die für die Handlung immer wieder wichtig sind. Und Drehbuchautor Peter Harness und Regisseur Toby Haynes schaffen es auch ziemlich großartig, die Story von den im Buch drei Teilen auf sieben Episoden zu verteilen, so dass sich wie von selbst Spannungsmomente auf die Episodenenden verteilen und man durch die kurzen »Was zuvor geschah« sogar bei einer verpassten Folge halbwegs wieder im Bild sein sollte (nicht, dass das beim DVD-Schauen eine Rolle spielt, aber vielleicht kommt die Serie ja auch irgendwann ins Fernsehen, für Arte, 3Sat oder ZDF-neo scheint sie wie gemacht.

Ich sage das als Kritiker selten, aber es gibt kaum etwas, was mir an der Serie nicht gefallen hat. Der gesamte Look ist stimmig, es wirkt nicht so billig wie bei anderen Fernsehserien, die Effekte sind nicht allzu teuer, aber relativ spektakulär eingebaut, einzig die Szenen im House of Parliament mit den sich jeweils recht non-gentlemen-like aufführenden Politikern fand ich etwas plakativ und laut.

Am besten waren eigentlich immer die Effekte, die man nicht mal mitbekommen hat, wenn man nicht aufmerksam war. Das Verschwinden des Königs im Spiegel, Mr. Stranges Flucht aus einem Kerker oder die Feststellung, dass Lady Pole ihren Aufenthaltsort verändert hat. In der Zeit nach Harry Potter ist man da ja durchaus gefordert, manche Dinge neu visuell zu gestalten, und das gelingt den Machern aufs Vorzüglichste.

Für die DVD hätte ich mir höchstens noch ein bisschen Bonus-Material gewünscht. Ein paar Interviews hätten mir schon gereicht.

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  Rettet Raffi! (Arend Agthe)


Rettet Raffi!
(Arend Agthe)

Deutschland 2015, Buch, Produktion, Lit. Vorlage (Kinderbuch): Arend Agthe, Bettina Kupfer, Kamera: Thomas Benesch, Schnitt: Andrea Wenzler, Musik: Matthias Raue, Tierbetreuung: Carola Conrad, mit Nicolaus von der Recke (Samuel »Sammy« Wiese), Sophie Lindenberg (Molly Wiese), Henriette Heinze (Helene Wiese), Albert Kitzl (Roland »Rocky« Granach), Martin Dudeck (Andreas Muck), Philipp Schmitz-Elsen (Jochen Fahrholz), Bettina Kupfer (Miranda Kupfergeld), Claes Bang (Henry Wiese), Josef Ostendorf (Dr. Breuer), Dirk Martens (Pförtner), 90 Min., Kinostart: 22. Oktober 2015

Regisseur Arend Agthe arbeitet seit Mitte der 1970er vor allem im Bereich Kinderfilm und hat in Formaten wie Sesamstraße, Die Sendung mit der Maus, Das feuerrote Spielmobil, Löwenzahn oder Siebenstein für ganze Generationen von deutschen Kindern Kurzfilme geschrieben und inszeniert, sich aber auch immer mal wieder an Kinofilmen versucht (Flussfahrt mit Huhn, Küken für Kairo, Der Sommer des Falken). Für seinen neuen Film hat er mit Bettina Kupfer, die im Film eine mittelgroße Rolle hat, zunächst ein Kinderbuch geschrieben (2012 erschienen), das die beiden dann zu einem Drehbuch umarbeiteten.

Rettet Raffi! dreht sich um einen Goldhamster und sein Herrchen, den achtjährigen Sammy (Nicolaus von der Recke). Obwohl Raffi sich größtenteils wie ein normales Tier verhält (nur gegen Ende des Films liefert er einige Bravourleistungen, die von immenser Intelligenz oder einfach nur Zufall zeugen), ist schon in den ersten Einstellungen des Films klar, dass der Hamster (zusammen mit seinen 14 Doubles) ein gleichberechtigter Hauptdarsteller ist. Man hört Sammys Stimme zwar recht früh im Off, aber man sieht den Jungen erst in der elften oder zwölften Einstellung. Als Zuschauer wird man immer wieder in die Hamsterperspektive versetzt, mit Kamera in Augenhöhe des Nagers oder sogar Point-of-View-Shots aus einer Wurstdose o.ä.

Den Hamster mal beiseite, kann man die Figuren größtenteils in zwei Lager aufteilen: entweder geht's ums Herz oder um Kohle. Am deutlichsten zum Lager der Geldgierigen gehört der gerade aus dem Knast entlassene Rocky (Albert Kitzl), der auf der Suche nach einem Container voller Schmuggelzigaretten ist und mit dem bei einem Autodiebstahl aufgetanen Hamster nur dann etwas anfangen kann, wenn er dessen Fähigkeit zum Aufspüren von Nikotin (Sammys Vater hat früher öfters mal Zigaretten in der Wohnung versteckt) nutzen kann. Ansonsten ist ihm der »kleine Scheißer« reichlich schnuppe. Sammys 14jährige Schwester Molly (Sophie Linden-berg) wirkt zu Beginn des Films ähnlich oberflächlich und emotional kühl. Sie nennt ihren kleinen Bruder gerne »Hamsterbacke«, und als man erfährt, dass die Bypass-Operation für den herzkranken Hamster 700-800 Euro kosten würde, konstatiert sie pragmatisch, dass ein neuer Hamster doch nur 5-6 Euro kostet. Aber Sammys Mutter hat ein Herz für den Nager und willigt in die OP ein (vielleicht hat es auch geholfen, dass Sammy die 36,87 aus seinem Sparschwein sofort zu opfern bereit war). Molly schmollt, denn sie bekommt ja nicht mal jene Jeans, »die jetzt alle haben«. Und als die Mutter zu einem Zugeständnis bereit ist, schlägt Molly wie ein gewiefter Geschäftsmann zu: »Nicht nur eine Jeans – Klamotten im Wert von der OP!«

Nicht immer sind die Dialoge so gewieft wie hier, da die gesamte Geschichte sehr emotionalisiert ist (Musikeinsätze lang und schmutzig!), die Kinderdarsteller aber noch keine drei Oscars auf dem Kaminsims stehen haben, wirkt manches auch etwas plakativ (»Molly ist doof, aber du nicht, Raffi!«, »Mama liebt Papa! Sie braucht keinen neuen Mann!«), aber so sprechen die kleinen Scheißer eben mitunter, also meinethalben abgesegnet.

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  Picknick mit Bären (Ken Kwapis)


Picknick mit Bären
(Ken Kwapis)

Originaltitel: A Walk in the Woods, USA 2015, Buch: Rick Kerb, Bill Holderman, Lit. Vorlage: Bill Bryson, Kamera: John Bailey, Schnitt: Julie Garces, Carol Littleton, Musik: Nathan Larson, mit Robert Redford (Bill Bryson), Nick Nolte (Stephen Katz), Emma Thompson (Catherine Bryson), Mary Steenburgen (Jeannie), Nick Offerman (REI Dave), Kristen Schaal (Mary Ellen), R. Keith Harris (Sam Bryson), Randall Newsome (TV Host), Susan McPhail (Beulah), Valerie Payton (Waitress Raynette), John Kap (Beulah's Husband), Mimi Gould (Jeannie's Mother), 104 Min., Kinostart: 15. Oktober 2015

Mit Ausnahme von Rettet Raffi! kenne ich alle literarischen Vorlagen der Filme in diesem Cinemania, die so etwas haben, A Walk in the Woods war diesmal aber das einzige Buch, das ich mir konkret nach Filmsichtung angeschafft habe (so wie 2015 auch Karen Duves Taxi und Angelica von Arthur Phillips. Sowie (im Hausflur gefunden) Mara und die Feuerbringer. Bei The Diary of a Teenage Girl und The Martian habe ich mich immerhin über die Buchvorlagen informiert, waren mir aber (noch) zu teuer.

Was das Buch von Bill Bryson von allen anderen hier genannten unterscheidet: Es handelt sich sozusagen um »Reise-Memoiren« und nicht um einen klar fiktiven (oder bei Phoebe Gloeckner fiktivisierten) Stoff. Wovon man im Film aber nur wenig merkt. Die Filmintro ist beispielsweise komplett dazuerfunden. Da der von Produzent und Hauptdarsteller gespielte Bill Bryson nur schwerlich als 46 durchgeht (Redford war bei den Dreharbeiten etwa 77), hat man eine »Zurück aus dem Ruhestand«-Geschichte entwickelt, bei der man Bryson durch ein frustrierendes Interview (offenbar seine einzigen noch vom früheren Schriftstellertum inspirierten Aktivitäten) eine zusätzliche Motivation gab und die Figur seiner Frau, hier prominent mit Emma Thompson besetzt, etwas ausbauen konnte. Auch bei seinem Weggenossen auf dem Appallachian Trail, Stephen Katz, hat man sich eher von der Besetzung inspirieren lassen, und beispielsweise Nick Noltes Alkoholproblem deutlich der Filmfigur auf den Leib geschrieben. Nicht, dass Katz ein Kind von Traurigkeit war, aber im Film ist das schon reichlich dramatisiert.

Diese »Dramatisierung« prägt den Film. Der der deutschen Buchausgabe entlehnte deutsche Filmtitel »Picknick mit Bären« (ein anderes Bryson-Buch heißt hierzulande »Frühstück mit Kängurus«) ist eigentlich klarer Etikettenschwindel, weil im Buch zwar eines Nachts einige Wesen auftauchen, die in der Nähe der Zelte eine Menge Lärm machen und durchaus Merkmale von Bären aufweisen, aber nie ganz sicher dieser Spezies zugeordnet werden können. Im Film gibt man sich mit solchen Ambivalenzen nicht ab, ich musste dabei durchaus daran denken, dass Nick Nolte im Animationsfilm Over the Hedge ja tatsächlich mal einem Bären seine Stimme geliehen hat.

Und so läuft das den ganzen Film lang. Während im Buch Bryson oft seitenlang damit beschäftigt ist, Infos über die Geschichte des AT weiterzugeben, geht es im Film natürlich nur um eine dramaturgisch ausgearbeitete Geschichte, deren Höhepunkte sich nicht nach tatsächlichen Geschehnissen plazieren lassen. Die (neben dem Bärenzwischenfall) wohl spannendste Stelle des Buches dreht sich darum, dass Bryson Katz aus den Augen verloren hat und befürchten muss, dass der sich verirrt hat und vielleicht erst tot (oder nie) geborgen werden wird. Das ist aber für einen Film nicht dramatisch genug, und so gibt es hier einen kleinen Felsvorsprung, auf dem die beiden alten Wanderer landen und auf Rettung hoffen. Diese Passage hat zwar eine gewisse Inspiration im Buch, ist aber ungleich dicker aufgetragen. Weshalb leider auch die deutlichen Studioaufbauten und die eher hilflos eingesetzte Greenscreen dem Film unnötig schaden.

Dennoch funktioniert der Film auf seine Art, als Buddy-Komödie. In einer Szene landen die beiden Wanderer in einer überfüllten Herberge, bei der sie sich ein Etagenbett teilen – und ausgerechnet Katz / Nolte klettert nach oben, es knackt … und obwohl man als Zuschauer, ahnt, was kommen muss, ist das Timing so gelungen, dass man dennoch mitlachen muss. Dieser Humor ist die größte Stärke des Films. Dass die beiden im Buch in unterschiedlichen Betten schlafen, das von Katz zwar knackt, aber nicht zusammenbricht, ist die »wirkliche«, im Buch sicher genauso witzige Geschichte. Aber für den Film reicht das einfach nicht.

Nichtsdestotrotz, dafür, dass die Drehbuchautoren Neulinge sind (und einer davon offensichtlich deshalb den Job bekam, weil er bei den letzten drei Redford-Regiearbeiten Produzent war) und Ken Kwapis nicht der genialste Komödienregisseur ist (He just isn't that into you), war der Film eine positive Überraschung. Aber ich bin ja auch schon glücklich, wenn Kristen Schaal »Get Lucky« singt und die beiden Wandersleute nervlich mehr fertig macht als einst der Esel den Shrek.

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  Macbeth<br>
<small>(Justin Kurzel)</small>


Macbeth
(Justin Kurzel)

UK / Frankreich / USA 2015, Buch: Jacob Koskoff, Todd Louiso, Michael Lesslie, Lit. Vorlage: William Shakespeare, Kamera: Adam Arkapaw, Schnitt: Chris Dickens, Musik: Jed Kurzel, Kostüme: Jacqueline Durran, Szenenbild: Fiona Crombie, Ausstattung: Alice Felton, mit Michael Fassbender (Macbeth), Marion Cotillard (Lady Macbeth), Banquo (Paddy Considine), Jack Reynor (Malcolm), David Thewlis (Duncan), Sean Harris (Macduff), David Hayman (Lennox), Hilton McRae (Macdonwald), Lochlann Harris (Fleance), Elizabeth Debicki (Lady Macduff), Seylan Baxter, Lynn Kennedy, Amber Rissmann (Witches), Amber Rissman (Child Witch), Scot Greenan (Young Boy Soldier), 113 Min., Kinostart: 29. Oktober 2015

Ich bin noch immer nicht darüber hinweg, dass man in einer Pressemitteilung zu diesem Film Macbeth als »vermutlich bekanntestes Stück Shakespeares« bezeichnet hat. Weil von Hamlet und Romeo & Juliet ja auch nie jemand gehört hat. Noch ärgerlicher ist aber, dass ich mir von dem Film durchaus was versprochen habe (ich mag Michael Fassbender), er aber abgesehen von ein paar halbwegs interessanten Interpretationsansätzen ziemlich langweilig seine Geschichte runterreißt und höchstwahrscheinlich eher Fans von Game of Thrones (oder von Michael-Bay-Filmen) begeistert als Shakespeare-Anhänger. Ich für meinen Teil fand selbst Joss Whedons Much Ado about Nothing interessanter (und vor allem unterhaltsamer) – und an dem haben sich ja diverse Kritiker abgearbeitet.

Kurz zu den Stärken des Films: Ein im Stück vorhandener Subtext wird hier ziemlich ausgewalzt. Das merkt man schon, wenn man mit einem Kinderbegräbnis beginnt und Marion Cotillard als Lady Macbeth mehr als nur implizit wegen versagter Mutterfreuden zur mörderischen Intrigantin wird. Das Thema Kinder spielt auch im Weiteren eine große Rolle, insbesondere wenn ein im Krieg fallender Bursche sogar einige Dialogzeilen der Hexen zugeschachert bekommt (trotz durchschnittener Kehle). Die drei Hexen, deren Rolle – da sind sich die Gelehrten seit Jahrzehnten ziemlich einig – von einem anderen Autor ausgebaut wurden, werden hier ergänzt und zu einer Art Sekte weiblicher Solidarität aufgebläht. Nicht nur steht an ihrer Seite die Göttin Hecate (habe ich total verdrängt gehabt, dass die auch im Stück vorkommt, weil die drei Hexen oft als Personifizierungen ihrer umgesetzt werde, gerne in den Inkarnationen »maiden, mother and crone«), die eine Hexe trägt mehrfach ein Baby, dann läuft auch noch ein kleines Mädchen neben ihnen her. Vermutlich bezieht sich das auch ein wenig auf die Prophezeiung an Banquo »Your children shall be kings« – die Zukunft Englands wird mehrfach repräsentiert durch unschuldige Kinder, die gerettet werden müssen (gelingt nicht immer). Nicht zuletzt natürlich in der Figur von Fleance, Banquos Sohn. Das kann man jetzt ohne große Probleme als immer noch gültige Mahnung auffassen, was etwa ökologischen Raubbau etc. angeht, aber der Film ist viel zu sehr an martialischen Bildern interessiert, um der ernsthaften Shakespeare-Deutung ausreichend Raum einzugestehen.

Und so gibt es eine Menge Schlachtengetümmel, gern in Zeitlupe, noch lieber in flammend gelb und blutrot, zusätzlich übertüncht mit einer kontinuierlich dräuenden Musik, die durch ihre geringe Variation eigentlich ihre Funktion einbüsst, weil sie schnell nur noch nervt. Dazu nebelverhangene Landschaften und gerne die flirrende Sonne, die dann durch Zeitraffer (!) die Vergänglichkeit (oha!) mehr als nur andeutet. Das sind aber reichlich platte Bilder.

Wenn das ganze Drumherum nicht so zermürbend gewesen wäre, hätte ich mir vielleicht auch den Kopf darüber zerbrochen, was es bedeuten soll, wenn Fleance auf der Flucht die »kleine Hexe« erblickt oder Lady Macbeth eine Vision hat, die man so nicht im Stück findet – aber es war alles so plakativ und laut und öde. Der Auftritt von Banquos Geist etwa: nahezu albern, aber auf eine verstörende Art. Und dann immer wieder diese rot-gelben Actionsequenzen und diese Musik, die – so widersprüchlich das klingt – sogleich einschläfernd und kopfschmerzenerregende wirkte.

Für mich war der Film so anstrengend, dass ich auch den eigentlich verlässlichen Darstellern (neben Fassbender unter anderem David Thewlis, Paddy Considine und Jack Reynor) wenig abgewinnen konnte. Ich mag Shakespeare, aber nicht in dieser brachialen Braveheart-Version. Da sollte man mal zum Vergleich Kurosawas Ran schauen – da geht es ebenfalls um Schlachtengetümmel, aber da ist das ein visuelles Fest und nicht ein Beharren auf vier bis fünf Farbtöne, ein paar Akkorde und immer wieder dieselben inszenatorischen Mittel. Sorry, aber nee.

Übrigens irgendwie bezeichnend, dass ich Regisseur Kurzels Episodenbeitrag zu The Turning mehr oder weniger als »Schwarzblende mit dräuendem Lärm« abgetan habe, dass Kameramann Adam Arkapaw bei der Fernsehserie True Detective nicht ganz unschuldig daran war, dass ich nie über die zweite Episode hinauskam und dass der Filmkomponist Jed Kurzel den selben Nachnamen wie der Regisseur hat.

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  Scultura: Hand. Werk. Kunst. (Francesco Clerici)


Scultura:
Hand. Werk. Kunst.
(Francesco Clerici)

Italien 2014, Originaltitel: Il gesto della mani, Buch, Kamera, Schnitt: Francesco Clerici, Musik: Claudio Gotti, mit Valesco Vitali, Andreas Boccone, Nicolae Ciortan, Mario Conti, Luigi Contino, Simion Marius Costel, Ilaria Cuccagna, Lino De Ponti, Tommaso Rossi, Caled Saad, Antonio Serra, Elia Alunni Tullini, 80 Min., Kinostart: 22. Oktober 2014

In meinen Stabangaben schere ich mich eigentlich nie um Produzenten, obwohl die in Presseheften oft diverse Seiten lang beschrieben werden, während man mitunter den Cutter oder Filmkomponist schlichtweg unterschlägt. In diesem Fall kann man am Schluss des Films lesen, dass das Ganze von Velasco Vitali und der »Fonderia Artistica Battaglia« produziert wurde – was im Nachhinein wie ein Werbefilmchen klingt. Aber ich will ohne dieses »Insiderwissen« (auch, wenn es jedermann nachlesen kann) beginnen und meine durchaus positive Erwartungshaltung an den Film beschrieben. Nebst der Empfindungen während des Films.

Il gesto della mani (für den deutschen Verleih zu italienisch, stattdessen erfindet man lieber einen Titel mit einem italienischen Wort, das nahezu jeder leicht »übersetzen« kann) gewann im Forum der Berlinale dieses Jahr den Fipresci-Preis. Irgendwie erinnert mich die Inhaltsangabe an den 2009 im Forum gelaufenen Zum Vergleich des letzten Jahr verstorbenen Harun Farocki, in dem es ganz schlicht nur darum ging, wie von unterschiedlich stark industrialisierten Personen Ziegelsteine gebrannt werden. Klingt öde, war aber ein echtes Ereignis. In Il gesto della mani geht es nun um eine im Jahre 1913 gegründete Kunstgießerei in Mailand, die immer noch nach alten traditionellen Praktiken arbeitet. Und ohne viele Worte soll man in diesem Dokumentarfilm diesem Prozess beiwohnen.

Dazu gibt es unter anderem alte (oft bewegte) Bilder aus dem Jahr 1967, sie die unveränderte Arbeitsweise dokumentieren. Zu Beginn des Films gab es auch eine Menge Info auf Schrifttafeln, für meinen Geschmack sogar etwas viel. Und etwas kryptisch, wenn man sich nicht detailliert schon im Vorfeld informiert hat.

Das Motiv erschien mir zunächst simpel und universell: ein Hund. Zunächst sieht der aus einem roten Material (irgendwann begreift man sicher, dass es sich um Wachs handelt) erstellte Vierbeiner irgendwie »unfertig« und auch nicht wirklich professionell aus, aber das wird sich ja sicher noch ändern. Man achtet auf jede Kleinigkeit, auf den Klassiksender im Radio, auf viele Details, die man zunächst nicht begreift: Wofür schlägt man jetzt Nägel in die Wachsform, umgibt sie dann mit einem seltsamen Konstrukt aus Plastikstäben (?). Dann wird – sehr haptisch – Ton um den roten Hund herum aufgetragen. Er steht jetzt hochkant, offenbar erstellt man eine Negativform. Zwischendurch wird tatsächlich mal was erklärt, der Ton soll aussehen »wie Vanillesauce« – mich erinnert er eher an Dünnpfiff – vom Farbton wie der Konsistenz her.

Das Kontemplativkino ist ein wenig wie ein Museumsbesuch – nur, dass man die Geschwindigkeit nicht selbst bestimmen darf. Erst erfreut man sich noch an den verkrusteten Wassereimern, den schlecht geölten Türen oder dem Quetschgeräusch, dass der Ton macht, doch irgendwie wird das Ganze zunehmend langweiliger. Es gibt zwar noch eine Erwartungshaltung, weil man jetzt das fertige Produkt sehen will, doch – und hier spule ich quasi mal vor – der Köter ist am Schluss noch hässlicher als zuvor. Kunst ist ja Geschmackssache, und dem Presseheft kann man entnehmen, dass die Hundeskulpturen von Velasco Vitali (der eine Produzent, neben der Gießerei) »welt-berühmt« sind. Im Film erfährt man dies nicht. Irgendwann ist der Köter fertig, man packt ihn ein, schiebt ihn in einen Kombi, er wird weggefahren und landet in einer nicht unbedingt kunstvoll zusammengestellten größeren Gruppe dieser Pinscher in irgendeinem Lagerraum. Der Schluss des Films wirkt fast wie die Pointe eines Witzes, der nicht zum Lachen ist. Aber der größte Vorwurf, den ich dem Film mache, ist, dass man eigentlich ohne Lektüre des Presseheftes (und das steht ja dem »normalen« Zuschauer nicht unbedingt zur Verfügung) einiges nie erfährt. Etwa, dass das Endmaterial Kupfer ist, warum man dem Hund eine Pfote absägt, die separat erstellt wird – die andere aber nicht. Wenn der Film für fünfmal vier Sätze durch einen Sprecher wie bei der Sendung mit der Maus unterstützt geworden wäre, hätte es vielleicht geklappt. Oder wenn der Köter nicht so abgrundtief hässlich (Arbeitstitel: »Frankensteins Töle«) und schludrig ausgeschaut hätte (die klassisch wirkenden Skulpturen aus dem Archivmaterial wirkten da weitaus ansehnlicher). Sorry, aber ich konnte mit diesem Film wenig anfangen, und bei den meisten Kritikerkollegen war es ähnlich. Mein Opa, ein alter Maurermeister, hätte vielleicht seinen Spaß daran gehabt – aber nur Hardcore-Forums-Enthusiasten, denen schon Antonioni zu »hektisch« ist, werden sich vermutlich daran ergötzen können.

Und der Vorwurf des Werbefilms (zwischenzeitig sieht man auch mal die URL des Betriebs auf dem Firmenwagen) ist auch nicht aus dem Weg geräumt.

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  Hockney (Randall Wright)


Hockney
(Randall Wright)

GB / USA 2014, Kamera: Patrick Duval, Schnitt: Paul Binns, Musik: John Harle, mit David Hockney, Arthur Lambert, Colin Self, Don Bachardy, Celia Birtwell, Betty Freeman, George Larson, Wayne Sleep, John Kasmin, 113 Min., Kinostart: 15. Oktober 2015

Die nächste Künstler-Doku, die nächste Enttäuschung. David Hockney ist durchaus ein interessanter Künstler, der auch ein interessantes Leben führte (bzw. immer noch führt). Diese Fernseh-Doku von BBC, BFI und dem »Smithsonian Channel« wendet sich offensichtlich an Kunstexperten, denn ich persönlich (und ich empfinde mich nicht als kompletten Ignoranten) kannte außer Chris Isherwood und Ralph Steadman keinen der genannten und interviewten Künstler (den Namen Ed Ruscha habe ich auch schon mal irgendwann gehört, aber hätte ihn nicht zweifelsfrei zuordnen können).

Und mit Anekdoten und einer streng chronologischen Zeitlinie, mit Kamerafahrten über Fotos oder den Geräuschen von Telefonklingeln und Schritten versucht man die Biografie Hockneys zum Leben zu erwecken, ist sich dabei aber offensichtlich nicht sicher, ob es um eine nationale Zuordnung oder eine Entwicklung der sexuell extravaganten Künstlerszene geht. Letztlich wirkt vieles wie »Infotainment«, wobei aber nicht nur das »tainment«, sondern auch die »Info« kleingeschrieben ist.

Vielleicht liegt es am Künstler selbst, der sich lieber hinter Statements wie »I paint what I like and when I like« oder »One of the things my father told me was not to think about what the neighbors think« versteckt. Oder seinen gefärbten Haaren und der auffälligen Brille.

Immer wieder versucht man auf hilflose Weise, Dinge zu »inszenieren«, die Aussagen und Werke formal zu unterstützen. Mit Busfahrten in Zeitraffer oder Westernausschnitten, die dann von entsprechender Musik und Galoppgeräuschen in Gedächtnis zurückgerufen wurden. »We used to love the movies.«

Ebenfalls hilflos aufbereitet wirkt das Thema Homosexualität. Es wirkt, als sei Hockney für die Filmemacher eine Art »Kuriosum« – und so gehen sie dann auch mit ihm um: wie ein hinter vorgehaltener Hand erzählter Herrenwitz aus einem vergangenen Jahrzehnt. Dann ist das Thema abgehandelt, und es geht um Geld oder eine neue Phase seines Schaffens – aber nur selten wird eine Verbindung gezogen, gerade zum Schluss des Films, wo man durch den Einsatz von Technologie in Hockneys Werk (erst durch Reproduktion durch Faxgeräte, dann durch das I-Padd und ähnliches) das Medium Film wirklich ausnutzen könnte, ist dann offenbar »die Zeit vorbei«.

Ich bin ja als Korinthenkacker und Erbsenzähler bekannt, aber was mich am meisten am Film nervte, war die Untertitelung. Mal wussten die Untertitler offensichtlich genau, wie die Interviewten hießen und lieferten diese Infos in den Untertiteln. Das wunderte mich nur, ähnlich wie der schwer nachzuvollziehende Wechsel zwischen kursiven und nicht-kursiven Untertiteln. Aber als dann dreimal im Verlauf des Films der selbe Song mehr als nur angespielt wird, der quasi die (leicht zu interpretierende) Themenmusik zu Hockney abgab (»Love is more than I can give to you«), steht dann jeweils vor den in den Untertiteln wiedergegebenen Lyrics »MAN:« – obwohl man im ungünstigsten Fall einfach dem Nachspann entnehmen kann, dass das Nat King Cole sang. Das nervte mich immens.

So viele vergebene Chancen, so viele seltsame Entscheidungen.

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  American Ultra (Nima Nourizadeh)


American Ultra
(Nima Nourizadeh)

USA 2015, Buch: Max Landis, Kamera: Michael Bonvillain, Schnitt: Andrew Marcus, Bill Pankow, Musik: Marcelo Zarvos, mit Jesse Eisenberg (Mike Howell), Kristen Stewart (Phoebe Larson), Connie Britton (Victoria Lasseter), Topher Grace (Adrian Yates), Tony Hale (Petey Douglas), Walton Goggins (Laugher), John Leguizamo (Rose), Bill Pullman (Krueger), 96 Min., Kinostart: 15. Oktober 2015

Zu Beginn der zunehmend out of proportion geratenden Abfeierei von Quentin Tarantino wurden auch die Filme, zu denen er nur das Drehbuch geschrieben hatte, also True Romance und Natural Born Killers, in manchen Kreisen wie instant classics begrüßt. Auffällig ist bei diesen beiden Filmen die Kombination von kaum reflektierter, verherrlichter Gewalt und einer absurden Art von missverstandener, »cooler« »sexy« Romantik. American Ultra bewegt sich genau im Kielwasser dieser Filme, ist dabei aber noch überflüssiger. Und was man hier unter Romantik versteht, unterscheidet sich nur unwesentlich von einer Maxi-Pad, die als Schalldämpfer zweckentfremdet wird.

Der phlegmatische Kleinstadtkiffer Mike (Jesse Eisenberg, der in seiner Rollenauswahl immer öfter daneben greift) schafft es immerhin noch, sich täglich zu seinem Supermarkt-Job hinzuquälen und dort beim Steckbuchstabenschild für vorbeifahrende Autos den Text »Happy Monday Deals – Come in« auf den jeweiligen Folgetag zu aktualisieren. Er lebt zusammen mit seiner Freundin Phoebe (Kristen Stewart) und philosophiert vermeintlich tiefschürfend darüber, ob er vielleicht der »Baum« sein könnte, der dem »Auto« Phoebe im Weg steht (den dazugehörigen Autounfall beobachten die beiden mal, während sie sich zugedröhnt auf der Motorhaube liegend den Sternenhimmel anschauen).

In diese Grundsituation dringen jetzt einige CIA-Entscheidungsträger ein, darunter Yates (Topher Grace, der immer noch die selben drei Gesichtsausdrücke aus That 70's Show perfektioniert – und damit einigermaßen gut fährt), der mit seinem Superkillerkommando, den »Toughguys«, das aus dem Sleeper Mike bestehende Konkurrenzprojekt »Wise Man« seiner Kollegin Victoria Lasseter (Connie Britton als mit Abstand interessanteste Figur des Films) eliminieren will. Und ab da gerät der Film zu einer Action-Orgie mit ein paar netten Ideen und Gags, wobei die Beziehung zwischen Mike und Phoebe, mit einigen Geheimnissen, Lügen und Missverständnissen, kurzerhand zum romantischen Non-Plus-Ultra erklärt wird. Denn immerhin geht es ja in der noir-mäßig als Flashback erzählten Story vor allem darum, ob Mike es schafft, seinen mit sich getragenen Ring endlich für einen Antrag an Phoebe zu nutzen (während um die beiden herum Häuser explodieren, Giftgasangriffe gefahren werden und schließlich sogar eine Rakete auf die Kleinstadt Liman abgefeuert wird).

Die Prämisse der Jason-Bourne-Filme in eine Kifferkomödie à la Pineapple Express zu transplantieren, klingt ja irgendwie ganz interessant. Eines der größten Probleme von American Ultra ist aber, dass man sich viel zu sehr um die Action kümmert – und zu wenig um den Humor oder die Figuren. Hin und wieder (»Hey! You're the lady from TV. You fuck monkeys!«) kommt man im Film zwar nicht darum, zu lachen (weil man einfach die Anspannung loswerden will), aber die noch halbwegs interessanten Figuren (der glatzköpfige Petey oder John Leguizamo und seine »Goons«) werden zu wenig genutzt, und die überdrehten Karikaturen (»Laugher«, die MG-Uschi) drängen sich in den Vordergrund – und letztlich bleibt kaum etwas in Erinnerung.

Drehbuchautor des Film ist übrigens Max Landis (Chronicle), der Sohn von John Landis. Ich habe vergeblich darauf gewartet, dass Jesse Eisenberg das Schild vor seiner Arbeitsstelle in »See you next wednesday« umbaut. Oder dass es bei dem seltsamen Animationsgorilla (im Presseheft spricht man allen Ernstes von einer »Graphic Novel«) irgendwann »Schlock« auftaucht. Das hätte vielleicht noch etwas gerettet und den Tonfall annehmbarer gemacht. Aber Landis jr. ist wohl ganz auf seine eigene Karriere fokussiert.

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  Pan (Joe Wright)


Pan
(Joe Wright)

USA / UK / Australien 2015, Buch: Jason Fuchs, Figuren: James M. Barrie, Kamera: John Mathieson, Seamus McGarvey, Schnitt: William Hoy, Paul Tothill, Musik: John Powell, Kostüme: Jacqueline Durran, Production Design: Aline Bonetto, Supervising Art Director: Peter Russell, Set Decoration: Dominic Capon, mit Levi Miller (Peter), Garrett Hedlund (James Hook), Rooney Mara (Tiger Lily), Hugh Jackman (Blackbeard), Lewis MacDougall (Nibs), Adeel Akhtar (Sam Smiegel), Nonso Anozie (Bishop), Kathy Burke (Mother Barnabas), Cara Delevingne (Mermaids), Amanda Seyfried (Mary), Tae-joo Na (Kwahu), Jack Charles (Chief), 111 Min., Kinostart: 8. Oktober 2015

Seit einiger Zeit scheint in Hollywood das dringende Bedürfnis zu bestehen, immer neue Ableger zu James M. Barries Kinderbuchklassiker Peter Pan zu ersinnen. Also beispielsweise Steven Spielbergs Hook (1991), die erstaunlich textgetreue Verfilmung Peter Pan des Australiers P.J. Hogan (2003), Marc Fosters um die Entstehungsgeschichte des Buches (und Stücks) drapierte Romanze Finding Neverland (2004) oder jetzt eben Pan. Das Sequel zum klassischen Disney-Zeichentrickfilm (2002) habe ich dabei sogar noch übersprungen.

Apropos Sequel: eines der schlimmsten Dinge, die einem allgemein bekannten Stoff so passieren können, ist das Prequel als die zeitlich vorgelagerte Fortsetzung, die uns oft erklären soll, was zuvor geschah. Eines der grässlichsten Beispiele für dieses Prozedere ist die zweite Star-Wars-Trilogie (Episode I bis III). Wollte wirklich jemand wissen, wie es zu Filmbösewichten wie Darth Vader, Michael Myers, Freddy Krüger, den Giger-Aliens, Norman Bates, der Wicked Witch of the West oder Hannibal Lecter kam? Offenbar ja, denn der Prequel-Wahn findet kein Ende. Vermutlich will man uns bald auch detailliert erzählen, was Dornröschen in der Woche tat, bevor sie einschlief, wie es Rick Blaine auf seiner Suche nach Heilquellen nach Casablanca verschlug oder wie Travis Bickle seinen Schulabschluss in der Parallelklasse von Rocky Balboa machte.

Auch Pan soll es Prequel funktionieren, verwirrt den halbwegs eingeweihten Betrachter aber damit, dass die Vorgeschichte des Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, nun im zweiten Weltkrieg spielt. Häh? Wo Barrie Stück und Buch doch gute drei Jahrzehnte zuvor ablieferte? Wer glaubt, dass es dafür jetzt eine komplizierte Erklärung mit Zeitreisen gibt, der wird enttäuscht und darf sich als nächstes über den Anachronismus wundern, dass man damals auch schon Smells like Teen Spirit sang (offensichtlich müssen einige Piraten mal ihren Landurlaub im Luhrmanschen Moulin Rouge! verbracht haben). Ich muss sagen, dass ich mich an dieser Stelle bereits mental aus dem Film verabschiedet habe (streng genommen auch physisch, denn ich schob während der Songdarbietung erst mal eine Pinkelpause ein und sah zumindest eine Kritikerkollegen, die das Kino trotz gutem Zureden der Garderobiere ganz verließ).

Sicher, der Film soll vor allem unterhalten und man muss sich ja nicht sklavisch jeder Vorgabe unterordnen (gerade als Comicleser muss man flexibel sein, was manchmal Jahrzehnte von Continuity angeht), aber schwerer als die Logikverstöße wiegt die Dummheit, dass man aus dem Weltkriegs-Sujet (oder dem Nirvana-Beitrag zum Soundtrack) nicht mehr macht als einen Sparwitz am Rande. Dass nun einige Kampfflieger (erstaunlich unfähig) das fliegende Piratenschiff verfolgen, scheint bereits der einzige Grund für die Entscheidung, wann man die Geschichte spielen lässt. Und vielleicht, weil James Hook (Garrett Hedlund aus Tron: Legacy) durchweg wie ein minderwertiger Indiana-Jones-Ersatz aussieht und fungiert – aber dabei natürlich auch nicht gegen Nazis kämpfen muss (nebenbei zickt Hook übrigens noch mit Tiger Lily rum wie einst Han Solo mit Leia oder hängt an einem Abgrund wie Rick Deckard in Blade Runner).

Je länger man über Pan nachdenkt, umso dümmer erscheint einem der Film. Aus der Prequel-Prämisse wird eher wenig gemacht, obwohl Drehbuchautor Jason Fuchs (Ice Age: Continental Drift) behauptet, seit seiner Kindheit über die Origin Peters nachgedacht zu haben und in den Büchern einige »Hinweise« gefunden zu haben. Die Blackbeard-Figur wirkt wie eine inspirationslose Blaupause Captain Hooks und Hugh Jackman spielt so, als wäre er kurzfristig für Johnny Depp eingesprungen. Der Knabe ist langweilig, aber Rooney Mara ist noch viel langweiliger – und beim indigenen Volk ging es nur um besonders viele Farben. Ob das Indianer, Aborigines, Afrikaner oder etwas asiatisches sein soll, darüber lohnt es sich nicht zu streiten. Der Film reiht Schauwerte an Schauwerte, ist dabei aber noch fahriger als Baz Luhrmann an einem schlechten Tag. Stattdessen reiht man blödsinnige Drehbuchzeilen aneinander, spult den üblichen Jugendwahn der Geschichte ab und am Schluss muss man gar befürchten, dass es noch einen Teil geben wird, denn alles, was bis zum Hauptwerk noch passieren müsste, für Vierjährige aber zu aufregend sein könnte, wird elliptisch ausgespart und der Film endet mit den Worten »We'll always be friends, eh, Hook?« --- »Always! What could possibly go wrong«. Wenn man sich dann noch an die Worte zu Beginn des Films erinnert (»sometimes friends begin as enemies and enemies begin as friends«), so ist es so, dass der Film seine vermeintliche Geschichte nicht einmal erzählt. Und wie blöd ist das denn? Da war ja selbst Prometheus Klassen besser. Und übrigens (und ich sage das ungern) sogar Hook. Das nahezu einzige »positive«, was ich über Pan sagen kann: Tinkerbell war nicht so schrecklich wie in der Julia-Roberts-Version.

Von bisher gut 160 gesichteten Filmen der viertschlechteste des Jahres. Ich habe niemals zuvor so oft Gänsehaut verspürt, ohne im Kalten zu stehen. Und das war nicht die gute Art Gänsehaut, sondern die, die man durch Fremdschämen und ähnliches bekommt.

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  Nicht schon wieder Rudi! (Ismail Sahin & Oona-Devi Liebich)


Nicht schon wieder Rudi!
(Ismail Sahin &
Oona-Devi Liebich)

Deutschland 2015, Buch: Ismail Sahin & Oona-Devi Liebich, Kamera: Edwin Krieg, Schnitt: Robert Hauser, Ismail Sahin, Musik: Robin Schlochtermeier, mit Matthias Brenner (Bernd), Oliver Marlo (Klaus), Frank Auerbach (Peter), Ismail Sahin (Murat), Oona-Devi Liebich (Sophie), Marianne Schubart-Vibach (Alte Dame), Julia Dietze (Julie), 91 Min., Kinostart: 15. Oktober 2015

Hinweis: die nachfolgende Kritik ist ca. sieben mal witziger als der besprochene Film. Allerdings wird dies vorrangig jenen Lesern gewiss, die tatsächlich den Film gesehen haben. Wovon ich nur eindringlich abraten kann.

Seit elf Jahren sind die Schauspielerin Oona-Devi Liebich (einst die Malen in Crazy) und ihr Kollege Ismail Sahin (GZSZ) ein Paar, mittlerweile mit Tochter und Ambitionen als Produzenten.

Sahin lernte mal beim Gassigehen ein älteres Pärchen kennen, doch nachdem man sich schon ein paar Jahre kannte und öfters unterhalten hatte, ging die Frau irgendwann an ihm vorbei, ohne auf seinen Gruß zu reagieren. Er traute sich nicht, direkt nachzufragen, beobachtete in der Folgezeit, wie sie »auch äußerlich immer mehr abbaute«, und – ums kurz zu machen – später erfuhr er vom Mann, dass sie nach einer plötzlichen Demenzerkrankung ins Heim kam.

Wie er »aus Angst vor einer emotionalen Verantwortung einem Gespräch aus dem Weg gegangen« ist, ist nun der Kern des gemeinsamen Films der jungen Filme-macher (angeblich eine Komödie), wozu sie gemeinsam Buch & Regie übernahmen und sich auch zwei nicht zu anspruchsvolle Rollen auf den Leib schrieben: als junges Liebespaar sind somit vor und hinter der Kamera quasi dauerpräsent.

Die Geschichte dreht sich aber vor allem um drei Männer im gestandenen Alter, die im Sommer jeweils einen gemeinsamen Angelurlaub bei einem Waldhaus am See unternehmen. Man lernt die drei Männer kennen, die gutgenährten Brüder Bernd und Peter und den grummelig wirkenden besten Freund Klaus, der gleich in der ersten Einstellung des Films sein Angelzeug vergessen hat, dann von seiner Frau über das Handy des Fahrers erreicht wird (er hatte seines zuhause gelassen, obwohl er dem widerspricht). Beim Waldhaus angelangt, gibt es etwas später eine Diskussion über den Autoschlüssel, den Klaus sich hatte geben lassen, um Sachen aus dem Auto zu holen. Und er ist sich ganz sicher, ihn danach zurückgegeben zu haben …

Begriffe wie Altersdemenz oder Alzheimer fallen im Film nicht, was eine bewusste Entscheidung war, denn (jeweils aus dem Presseheft zitiert bzw. paraphrasiert) a) »Ismail zeigt in seinen Filmen nie mit dem Zeigefinger«, b) »der Name einer Krankheit darf nicht den Menschen überdecken« und c) »man soll Menschen nicht in eine Schublade stecken«. Klaus' beste Freunde nennen ihn stattdessen »gaga«, leugnen (auch sich selbst gegenüber) beharrlich Krankheitssymptome, halten nichts von einem Arztbesuch und suchen nach alternative Heilmethoden. Man haut dem Betroffenen mit einer Schaufel auf den Kopf (zur Not auch mehrfach), befestigt »Denkzettel« dort, wo er beim Aufwachen vermutlich als erstes hinschaut (»Ich heiße Klaus und will einfach nur in Ruhe mit meinen Freunden angeln«), schubst ihn vom Boot in den See, auch wenn er beteuert, nicht schwimmen zu können … oder lügt ihm einfach konsequent und kontinuierlich die Hucke voll – wie in einer Mischung aus 50 First Dates und Good Bye, Lenin – nur eben komplett ohne die witzigen Stellen.

Das Humorprinzip des Films erschöpft sich größtenteils darin, dass die drei alten Herren Hosenträger tragen, die nur beim jungen Co-Regisseur wie ein modisches Accessoire wirken. Und dass man Klaus in Feinripp-Unterwäsche durch das leere Dorf latschen lässt, während der Dolly-verliebte Kameramann von der Seite Einblicke erlaubt, die einen an schreckliche Momente im Dschungelcamp erinnern.

Das humanistische Konzept des Films ist noch rudimentärer. So wie einst der Regisseur muss Bernd begreifen, dass Klaus ein ernstzunehmendes Problem hat (dass dauert fast die kompletten 90 Minuten) – und ihm beistehen. Dass Klaus Frau und Kind hat, die ihn womöglich auch unterstützen könnten, wird zu keinem Zeitpunkt thematisiert, denn Oona-Devi Liebich fiel beim Casting auf, »wie viele unbekannte und so begabte Schauspieler und Schauspielerinnen es gibt, die ich gerne alle besetzt hätte. Leider fehlten uns die Rollen dafür.«

Im Film tauchen außer Klausens Ehefrau Christa (nur am Telefon) exakt sieben Personen auf: das glückliche junge Paar, vier alte Menschen, von denen 50% unter deutlicher Demenz leiden, und ein Betthupferl des anfänglichen Womanizers Murat (Regisseur Sahin), dessen Namen er vergessen hat, denn er nennt die Französin Julie »Chantal«. Die eigentliche tragische Dimension des Films wird somit nur in dieser Szene in Ansätzen deutlich, denn die Demenz kann uns alle packen.

Mir persönlich würde es schon reichen, wenn ich vergessen könnte, dass ich diesen Film durchlitten habe, der mich nicht nur beim Musikeinsatz (80er-Jahre-Polka?) an eine Kinderserie à la »Neues aus Uhlenbusch« erinnert hat. Auch die Dialoge und manche Schauspielleistungen (»Warum verfolgen sie mich denn?«) waren auf einem Niveau, das höchstens Sechsjährige überzeugt. Bisher der mit Abstand schlechteste Film des Jahres, weil komplett misslungen, ohne Fokus oder Existenzberechtigung. Ich hatte nach dem Film das ehrliche Bedürfnis, trotz all meiner (mehrfach durch Filmsichtungen gestützten) Vorurteile gegenüber Til Schweiger dessen Honig im Kopf zu sehen, denn verglichen hiermit muss das ein unvergleichliches Meisterwerk sein.

Anfang November in Cinemania 138 (In fremden Wohnungen):
HalloHallo (Maria Blom), Knock Knock (Eli Roth), Mistress America (Noah Baumbach), Riverbanks (Panos Karkanevatos), Virgin Mountain (Dagur Kári).