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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




12. März 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


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gans und gEnder



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  Hi, Ai (Isabella Willinger)

Hi, Ai
(Isa Willinger)

Deutschland 2019, Buch: Isa Willinger, Kamera: Julian Krubasik, Schnitt: Stephan Krumbiegel, Olaf Voigtländer, Musik: Robert Pilgram, 87 Min., Kinostart: 7. März 2019

Hi, Ai (öfters fälschlich als »Hi, AI« angegeben, im Film kommt aber ein Roboter drin vor, der »Ai« heißt, und im abgebildeten Filmtitel wie auch auf dem Plakat findet man beide I mit einem i-Punkt) dreht sich laut Trailer um das Thema »Was sie beim Leben mit einem Roboter wissen müssen«.

Auffällig ist, dass die künstlichen Lebewesen dieser Doku sich nur in geringem Maße etwa von der Titelfigur des Spielfilms Robot & Frank unterscheiden. In der Vermarktung benutzt Hi, Ai deshalb auch gern den Begriff »Science Fiction«, obwohl halt gerade die »Fiktion« in einer Doku keine wirkliche Rolle spielen sollte, und so hält es auch der besprochene Film. Mit dem Begriff erreicht man nur gut ein Zielpublikum, und die Vermarktung spielt bei Dokus halt die selbe Rolle wie bei anderen Filmen.

Am Beispiel von ca. zehn aktuell existierenden Robotern (die überwiegende Anzahl davon menschenähnlich, also Androiden, wie Data aus Star Trek: The Next Generation sicher betont hätte) wird gezeigt, wie weit die Technologie ist und wie das Zusammenleben von Roboter und Mensch sich gestaltet. Am aussagekräftigsten sind hier der »Liebesroboter« Harmony, der auch in Gesprächen versucht, seinem texanischen Besitzer möglichst entgegen zu kommen, und die japanische Version Pepper, die vor allem auf die Großmutter einer Familie eingehen soll, aber öfters das notwendige Feingefühl vermissen lässt.

In ihrem Bemühen, den Besitzern zu gefallen, sieht man in beiden Fällen den Unterschied eines solchen dienstbaren elektronischen Begleiters und eines menschlichen Partners, der halt eine eigene Zielsetzung in solch einer Partnerschaft zeigen würde. Von außen betrachtet ist dieses Phänomen sehr unterhaltsam. Auch, wenn Harmony und Pepper lernfähig sind (für Pepper gibt es etwa eine App, die ihn ruckzuck auf das Level eines Fünfjährigen bringt, man muss als Konsument nur sicher sein, ob man das wirklich will), so können sie keine Gefühle entwickeln, aber ihre Konstrukteure versuchen natürlich, genau dies vorzutäuschen.

So kann Harmony, eine Art sprechende Gummipuppe (obwohl ein möglicher sexueller Aspekt im Zusammenleben mit ihrem Besitzer im Film reichlich ausgeklammert wird) etwa mit vermeintlich »sexy« Stimme das Lied Take My Breath Away »singen«, was aber nicht wirklich »sexy« klingt, sondern eher fragile Beschützerinstinkte triggert. Das Zusammenleben eines irgendwie mental leicht angeschlagenen Texaners (in seinem Umfeld sieht man aufgeklebte Post-its mit Botschaften wie »I'm lovable!«) mit Harmony erinnerte mich sehr an einen anderen Spielfilm, Lars and the Real Girl mit dem damals noch wenig bekannten Ryan Gosling, der exakt mit solch einer Gummipuppe eine Beziehung aufbaut, wobei natürlich viel Bereitschaft, selbst mitzuspielen, vonnöten ist.

In beiden Fällen ist diese Beziehung schon ziemlich creepy, im Fall von Lars schafft der Kerl aber irgendwann den Absprung zu einer realen Beziehung (ein weiblicher love interest wird vom Drehbuch mitgeliefert), während der zwischenmenschliche »Fortschritt« des Texaners im Verlauf des Films sich eher in Grenzen hält und man als Betrachter ziemlich deutlich merkt, dass die Anschaffung eines solchen Roboters nur dann sinnvoll scheint, wenn man gewisse »Scheuklappen« (und vermutlich ein angemessenes Bankkonto) mit in die Beziehung einbringt. Unter Harmonys natürlich blonder Frisur schaut nämlich die Elektronik durch den transparenten Schädel und man muss sie wie eine Puppe jeweils durch die Gegend schleppen und an passender Stelle drapieren, ehe man mit ihr interagiert. Sei dies nun am Frühstückstisch, auf einem Sonnenstuhl, von dem aus sie einen (voller Bewunderung?) betrachtet, oder eben in der Koje des Wohnmobils, mit dem der Texaner unterwegs ist. (Auf die fast schüchterne Frage des Texaners »... so you like me?« antwortet Harmony - ein bisschen wie Rajs Version von Siri in The Big Bang Theory - »interesting deduction. Of course, baby, I only exist because of you!«)

Bei Pepper hat man auf den Unterkörper quasi gleich versichtet, der putzige kleine Kerl ist ein Standmodell, das an zentraler Stelle der Wohnung aufgebaut wurd und dann auf äußere Impulse reagiert. Die Großmutter Sakurai ist sich dessen bewusst, das ihr der Roboter von ihrem Sohn gekauft wurde, damit sie nicht so allein ist und »damit sie nicht verkalkt«. Doch Pepper zeigt auch eigenwillige Seiten und äußert etwa unangebrachte Meldungen wie »Unser Gespräch ermüdet mich etwas«. Beide hier geschilderten Beziehungen entwickeln aber eine interessante Eigendynamik, nicht zuletzt auch, weil man über den Texaner (er heißt übrigens Chuck, was ich schon an sich irgendwie ironisch finde wegen der Besetzung dieses Namens in der Filmgeschichte), der gerne Harmonys Hand halten würde und der über ihre Feststellung, er sei sicher großartig im Bett, reichlich verwirrt ist, im Verlauf des Film mehr erfährt, und ihn dann etwas anders einstuft.

Hi, Ai ist eine Doku in Richtung »Infotainment«, die aber viele wirklich interessante Ansätze hat, aber zu keinem Zeitpunkt einen wirklich wissenschaftlichen Standpunkt einnimmt, sondern zu sehr in Richtung Galileo (Pro-Sieben-Sendung) driftet. Ich hätte mir mehr Eigenständigkeit als Film gewünscht, weniger Häppchenkultur mit eingeschobenen kleinen Interviews, die aber nicht wirklich »zusammenwachsen«.

Eine der interessantesten Einsichten des Films erhascht man erst beim Abspann: »Die Art, wie die Roboter im Film behandelt werden, entspricht nicht immer den Empfehlungen der Hersteller und könnte gefährlich sein.« Man sieht irgendwie an jeder Ecke des Films das Potential, mit einer geringfügigen »Fortschreibung« in einer Science-Fiction-Story zu landen. das ist für eine Doku ein trotz allem sehr interessanter Ansatz, finde ich. Gerade auch, weil das Roboterthema ebenfalls viel mit dem möglichen Potential zu tun hat.


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  The Sisters Brothers (Jacques Audiard)

The Sisters Brothers
(Jacques Audiard)

Frankreich / Spanien / Rumänien / USA / Belgien 2018, Buch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Lit. Vorlage: Patrick de Witt, Kamera: Beno√Æt Debie, Schnitt: Juliette Welfing, Musik: Alexandre Desplat, mit John C. Reilly (Eli Sisters), Joaquin Phoenix (Charlie Sisters), Jake Gyllenhaal (John Morris), Riz Ahmed (Hermann Kermit Warm), Rutger Hauer (Commodore), Rebecca Root (Mayfield), Carol Kane (Mrs. Sisters), 121 Min., Kinostart: 7. März 2019

Jacques Audiard ist einer von den Guten, das weiß man spätestens seit De battre mon cœur s'est arrêté, seinem vierten Spielfilm, der 2005 ein wenig die Berlinale aufmischte und den Namen des Regisseurs wie des Hauptdarstellers Romain Duris auf einem internationalen Level bekannt machte. Es folgten dann mit Un prophète und De rouille et d'os zwei weitere kraftvolle ganz spezifische unverwechselbare Filme, den Cannes-Gewinner Dheepan danach habe ich irgendwie verpasst.

Wenn man denkt, man hätte eine ungefähre Idee davon, was ein Regisseur so für Filme macht, wird man mit The Sisters Brothers komplett auf dem falschen Fuß erwischt. Audiards erster Film auf Englisch, mit einem doch ganz ansehnlichen Starangebot (Joaquin Phoenix, Jake Gyllenhaal, John C. Reilly), ist nicht nur ein Western, sondern ein äußerst seltsamer Western, irgendwie so auf dem Level von Damsel, den die Zellner-Brüder letztes Jahr im Berlinale-Wettbewerb einbringen konnten (der mir aber noch um einiges besser gefallen hat).

Apropos Brüder, hier geht es auch um zwei Brüder, deren Nachname »Sisters« lautet (was haben wir gelacht) und die mit viel Routine und Rücksichtslosigkeit als Auftragskiller unterwegs sind, was zu Beginn noch dem Western-Genre entsprechend wirkt (wenn solche Killer auch in den wenigsten Fällen zu Haupt- oder Titelfiguren erkoren werden).

Von langer Hand wird eine spätere Abrechnung mit dem »Commodore« (Rutger Hauer) vorbereitet, der als Oberhaupt der kriminellen Gesellschaft seine Untergebenen auch mal gegeneinander hetzt, so es seinen persönlichen Zielen dienlich ist.

Als aktuellen Job sollen die Sisters Brothers (hihi) einen namentlich wohl deutschstämmigen Chemiker auftun. Dieser Hermann »Kermit« Warm (Riz Ahmed, der mir trotz seiner Rollen in Filmen wie The Road to Guantanamo, Four Lions, Nightcrawler, Rogue One oder Venom zuvor nie wirklich aufgefallen war, der hier aber den bekannteren Stars durchaus Paroli bietet) soll eine Methode entwickelt haben, mit der die Goldsuche (man schreibt das Jahr 1851) weniger mühsam vonstatten geht, was nicht nur dem Commodore interessant erscheint.

Eine Art Scout namens John Morris (Jake Gyllenhaal) hat Warm im Vorfeld schon ausfindig gemacht, entwickelt dabei aber - eher ungewollt - den Anflug einer Freundschaft mit der »Zielperson«. Verfolgt von einigen Häschern des Commodore entwickeln diese vier Hauptfiguren jetzt eine narrative Grundstruktur, bei der sie auch eigene Erfahrungen mit der chemisch gestützten Goldsuche machen, wobei die Paardynamik zwischen den Herren Sisters auch recht interessant ist, weil der jüngere, Charlie (Joaquin Phoenix) sich durch verantwortungslosen Alkoholismus und eine damit zusammenhängende Furchtlosigkeit auszeichnet, während der ältere Eli (John C. Reilly) sich seinem kleinen Bruder gegenüber nicht recht durchsetzen kann - aber durchaus seine eigenen Vorstellungen durchsetzen will.

Diese Kernstruktur des Film verrät noch nichts über die skurrilen bis absurden Vorgänge, die den Film weitaus stärker prägen als jede herkömmliche Handlung. Da durchleidet Eli etwa eine Krankheit, die eher ins Horrorgenre passen würde, und durchlebt während eines nächtlichen Fiebertraums einen Bärenangriff! Oder die Chemikalie, die das Gold in einem Gewässer auf märchenhafte Weise zum Leuchten bringt, birgt eine ätzende Nebenwirkung, die für geldgeile Goldsucher, die zum Teil auch noch stark angetrunken sind, deutliche Gefahren mit sich bringt.

Die eigentliche, unterschwellige Handlung dreht vieles im Westerngenre in einer rüden Weise auf links, was aber den Umstand, dass Jacques Audiard für seine Regieleistung beim Filmfestival in Venedig mit der silbernen Palme ausgezeichnet wurde, nur bedingt erklärt.

Ich bin sicher kein Purist, was das Western-Genre angeht (das heutzutage eigentlich gar nicht mehr in »klassischer« Weise durchgespielt wird), aber unabhängig von einigen dunklen Untertönen wirkt The Sisters Brothers eher wie eine Apatow- (bzw. David-Gordon-Green-) Komödie irgendwo zwischen Pineapple Express und Your Highness, gespickt mit ein paar Spitzen, die aus einem Corman-McCarthy-Alptraum stammen könnten. Dies ist so ein Fall, wo man unbedingt noch lauter kleine Detaisl einbringen wollte, was dem Film aber eine gewisse Geschlossenheit nimmt. Ein brennendes Pferd hatten wir schon in The Claim, den Bärenangriff in The Revenant, die lange Flucht-Passage in Butch Cassidy and the Sundance Kid - und jeweils irgendwie spannender. Und wenn man zivilisatorische Errungenschaften wie Zahnbürste und Wasserspülung einsetzt wie Sparwitze in einem Hillbilly-Film, dann ist das auch nur so semi-toll.

Nachtrag: Nach Abfassung meines Textes wurde ich noch durch die Kritik von Kollegin Käte dazu verleitet, das Presseheft etwas genauer zu studieren. Da steht dann auch, wie Audiard auf dieses Projekt stieß, dass die Figuren Morris und »Kermit« als quasiphilosophische Gegenpole der brutalen Brüder verstärkt wurden und dass Audiard postmoderne und genrekritische Western bevorzugt. Aber wirklich besser oder überzeugender wird der Film durch dieses Wissen auch nicht.


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  Ein königlicher Tausch (Marc Dugain)

Ein königlicher Tausch
(Marc Dugain)

Originaltitel: L'échange des princesses, Frankreich / Belgien 2017, Buch: Marc Dugain, Chantal Thomas, Lit. Vorlage: Chantal Thomas, Kamera: Gilles Porte, Schnitt: Monica Coleman, Musik: Marc Tomasi, Kostüme: Fabio Perrone, Production Design: Patrick Dechesne, Alain Pascal Housiaux, mit Anamaria Vartolomei (Louise Elisabeth), Catherine Mouchet (Madame de Ventadour), Lambert Wilson (Philipp V. von Spanien), Juliane Lepoureau (Maria Anna Victoria, die Infantin), Olivier Gourmet (Philipp von Orléans, Regent von Frankreich), Kacey Mottet Klein (Don Luis), Igor Van Dessel (Louis XV), Andréa Ferréol (Princesse Palatine), Maya Sansa (Elisabeth Farnese), Thomas Mustin (Duke de Condé), 101 Min., Kinostart: 28. Februar 2019

Laut Presseheft handelt es sich hier um »ein mitreißendes und emotionales Historiendrama«, aber offensichtlich habe ich 2019 so meine Probleme mit dem Genre Kostümfilm (nicht einmal The Favourite hat mich in vergleichbarer Weise verzückt wie viele KollegInnen).

Der elfjährige Louis XV, König von Frankreich und einziger Überlebender einer durch Krankheit dahingerafften Familie, kehrt nach Versailles zurück. Der Druck seiner royalen Pflicht lastet schwer auf dem Kind, aber trotz allem gibt es noch Überbleibsel einer Kindheit, auch wenn diese seltsam verläuft. Wird er etwa von Bediensteten informiert, dass seine Katze eine Meise getötet habe, so wird das Tier vom Regenten mit brutaler Härte bestraft: es muss, wie sein Herrchen, dem Rat der Regentschaft beiwohnen!

Die satirischen Untertöne des Films funktionieren, aufgrund der unverbrauchten jugendlichen Darsteller funktioniert auch das intrigante Geschachere zur Festigung des europäischen Friedens (mit einigen Boni für Involvierte) ganz gut. Der elfjährige Louis soll die vierjährige (!) Infantin Maria Anna Victoria ehelichen, im Umkehrschluss wird die zwölfjährige Louise Elisabeth die Gemahlin des 14jährigen spanischen Thronfolgers Don Luis.

Erstes Problem: die jungen DarstellerInnen können nur schwer das Verstreichen der Zeit darstellen, ohne ausgetauscht zu werden (Filmzitat zur Schadensdämmung: »Man sagt, ihr wachst kaum...«). Auch wirkt Anamaria Vartolomei (Jahrgang 1999, eine der vielen jungen Frauen in Le semeur) als Louise Elisabeth keineswegs wie eine Zwölfjährige, weshalb ein Kerndetail dieser Handlungshälfte für den Betrachter schnell auf der Strecke bleiben kann, wenn man sich das vermeintliche Alter nicht immer wieder in Erinnerung ruft.

Zweites Problem: die Intriganten. Lambert Wilson (Catwoman, La vache) als König von Spanien soll historisch verbürgt ziemlich von der Rolle sein, da ich über dieses Detail nicht informiert war, wunderte ich mich nur über das unterirdisch anmutende Schauspiel, wenn er sich mit der Peitsche kasteit oder ganz auf maskuline Pracht macht, dabei aber wie ein gerupfter Gockel mit Schlagseite wirkt. Auf der französischen Seite bemühte man Olivier Gourmet, der für seine Rolle mit einer wollenden Haarpracht ausgestattet wurde, die allerdings, wenn man Gourmets Frisur (ein Euphemismus) kennt, lachhafter ist als alles, was man in den letzten 15 Jahren so auf Nicolas Cages Schädel erblicken durfte. Wäre nicht Catherine Mouchet (Petites coupures, Le pornograph) als einzige erwachsene Sympathieträgerin Madame de Ventadour, hätte man das Ganze schnell als grimassierenden Mummenschanz abgetan, sitzt aber ein wenig hilflos auf dem Kinosessel und wartet darauf, dass einen die Geschichte womöglich noch packt.

Die eigentliche Handlung um den königlichen Tausch ist durchaus interessant, geht aber inmitten der zahlreich angerissenen Nebenhandlungen teilweise etwas unter. Es wirkt, als hätte man zu vieles gleichzeitig umsetzen wollen, doch wenn man sich nicht wirklich gut in den historischen Vorgängen vor drei Jahrhunderten auskennt, kommt man schnell mal ins Schwimmen (es hilft auch nicht, dass man die Namen der vier jungen Schachfiguren geradezu geheim hält, in meinen Notizen habe ich sie K wie Kind, XV wie Louis, 16 und 21 genannt), wo man lieber die Aufmerksamkeit ganz den absurden Paar-Synergien gewidmet hätte. Aber mein (vielleicht auch persönliches) Problem war, dass ich in den ersten zwei Dritteln des Films nie genau wusste, worauf das Ganze hinausführen sollte - und wenn ich dann ungefähr die Gangart und Richtung identifiziert hatte, war ich enttäuscht, weil durchaus Potential gegeben war, was sich aber immer mehr verflüchtigte.

Nebenbei geht es um (damals) skandalöse gleichgeschlechtliche Vorgänge (das implizite Kindesmisshandlungsthema hat bei mir so gar nicht getriggert, weil Louis XV seiner jüngeren Gemahlin mit viel Respekt entgegen tritt und die vermeintliche Zwölfjährige abgesehen vom pubertären Rebellentum einen komplett anderen Eindruck hinterlässt) und hier und da wird mal wieder ziemlich fett die damalige Welt präsentiert wie ein nicht ganz geschmacksicherer Monty-Python-Sketch - nur mit etwas zu wenig Humor.

Wenn sich Don Luis an einer Anatomie-Puppe austobt, um sich für die dringend gewünschte Produktion von Erben zu wappnen, hat das auch eine seltsame Art von Humor, aber allein schon die Perspektive des Films (mal aus der Sicht der jungen »Opfer«, dann wieder eher distanziert-objektiv) entwickelt nie einen klaren Standpunkt. Eher hat man das Gefühl, dass Wilson und Gourmet aufgrund ihres darstellerischen Status Szenen zugeschustert bekamen, die den Film als Ganzes aber nicht voranbrachten. Und wenn dann irgendwann bei einer nächtlichen Nebelszene der ursprüngliche Tausch im Grunde wieder rückgängig gemacht wird, sagte das für mich auch viel über die Relevanz des Films aus.


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  Die Berufung (Mimi Leder)

Die Berufung
(Mimi Leder)

Originaltitel: On the Basis of Sex, USA 2018, Buch: Daniel Stiepleman, Kamera: Michael Grady, Schnitt: Michelle Tesoro, Musik: Mychael Danna, Kostüme: Isis Mussenden, Szenenbild: Nelson Coates, mit Felicity Jones (Ruth Bader Ginsburg), Armie Hammer (Martin Ginsburg), Justin Theroux (Mel Wulf), Kathy Bates (Dorothy Kenyon), Sam Waterston (Erwin Griswold), Jack Reynor (Jim Bozarth), Stephen Root (Professor Brown), Cailee Spaeny (Jane Ginsburg), 120 Min., Kinostart: 7. März 2019

Bei der Auswahl von Filmen, die ich sichte, geht es viel über Regisseure, ich habe ein überdurchschnittliches Talent dafür, Regisseurnamen zu speichern. Ich kann dann nicht gleich ihre Filmographie runterrattern, aber ich habe meistens zumindest ein Gefühl dafür, ob mir deren Arbeit gefallen hat. Letztes Beispiel, das mir über den Weg gelaufen ist: Ali Abbasi. Der drehte so einen kruden skandinavischen Panorama-Horrorfilm mit Schwangerschaft im Thema (Titel recherchiert: Shelley). Dem kann man noch eine Chance geben, also markiere ich mir im Schichtplan für März, dass ich da frei haben will und schaue Gräns. Auch ein skandinavischer Film, dessen internationaler Titel Border nicht nach Horror klingt (ich mag Horror, aber weil der andere Film mich nicht überzeugte, ist ein Themenwechsel vorteilhaft).

Bei Mimi Leder fiel mir sofort ein, dass die mal so einen Actionfilm mit George Clooney und einer bekannten US-Schauspielerin gedreht hatte (Sandra Bullock?), der Phantom Operation oder so hieß und in dem es um ein Flugzeug oder einen Zug und irgendeinen Terroranschlag ging (habe den Film nie gesehen). Und mein Eindruck vom Film war, dass es so eine eher geistlose Kiste Richtung Bruckheimer war. Und der Film etwa 15 Jahre zurückliegt. Da ich die Regisseurin nicht aus erster Hand einordnen kann, sie offenbar zwischendurch noch andere Filme gedreht hat und On the Basis of Sex ein Frauenthema mit ansprechender Besetzung (Felicity Jones, Armie Hammer, Jack Reynor) verbindet, kann man der Sache ebenfalls eine Chance geben. Nicht zuletzt auch, weil ich diese Doku über Ruth Bader Ginsburg verpasst habe (hatte Schicht) und nebenbei noch etwas für meine Bildung tun kann.

Mittlerweile (nach Sichtung des Films) habe ich Mimi Leder natürlich recherchiert (bzw. das Presseheft runtergeladen). Der Clooney-Film hieß The Peacemaker (1998, mit Nicole Kidman), war der allererste DreamWorks-Film, danach drehte sie noch Deep Impact (mal Schnipsel von in der Glotze erhascht) und ist ansonsten bekannt und mehrfach mit Emmys ausgezeichnet für Fernseharbeiten, von denen man die Serien L.A. Law, E.R. und The West Wing am einfachsten einordnen kann (nebenbei vielleicht ein Erklärungsansatz für die Clooney-Besetzung).

Das Detail, das Deep Impact beim Kinostart der erfolgreichste je von einer Frau gedrehte Film war, sagt für mich sehr wenig über die Qualitäten von Frau Leder aus - und viel darüber, dass sich das Geschlechter-Ungleichgewicht in den letzten 20 Jahren zumindest ein wenig verbessert hat. Was aktuell die erfolgreichsten von Frauen gedrehten Filme sind, interessiert mich indes nicht, die gelungensten Filme finde ich ungleich interessanter, und die Filme von Regisseurinnen wie Andrea Arnold, Susanne Bier, Sofia Coppola, Valeska Grisebach, Kelly Reichardt oder C√©line Sciamma (um nur ein halbes Dutzend zu nennen) versuche ich mir eigentlich immer anzuschauen (und diese Namensreihe sagt auch viel darüber aus, was sich in zwanzig Jahren so ändern kann).

Was sich für Mimi Leder in diesen zwanzig Jahren tat, kann ich nicht einschätzen, aber wenn On the Basis of Sex repräsentativ ist, sieht es nicht gut aus. Um meinen gemeinsten Spruch gleich zum (relativen) Beginn zu verschießen: es seht sehr danach aus, als hätte man den Regieposten »on the basis of sex« vergeben. Und das ist selten eine gute Idee, auch wenn man im Umfeld von Wonder Woman das Gefühl bekam, als sei dies die größte Hoffnung der Filmbranche.

Natürlich hat es gewisse Vorteile aufgrund der besonderen Einsichten, wenn Frauen Frauenthemen, Schwule Schwulenthemen und Migranten Migrantenthemen in Filme verwandeln. Aber, um eine besonders bekloppte Analogie zu verwenden: Wenn man eine Fliege fangen will, ist es vielleicht eine naheliegende Idee, eine Spinne damit zu beauftragen. Wenn es aber eine besonders schöne Fliege ist, derer man habhaft werden will, sollte man den Job nicht irgendeiner hergelaufenen Feld-, Wald- und Wiesenspinne anvertrauen, die sich aufgrund ihrer naturgegebenen Talente eher so mehr schlecht als recht durchschlägt, sondern sollte überlegen, ob nicht ein Frosch oder eine Venusfliegenfalle, vielleicht sogar ein besonders reaktionsfixer Hund auf diese besondere Fliege und ihre Fähigkeiten und Besonderheiten besser zugeschnitten sind. Vielleicht dreht Fatih Akin jetzt bald die beste Stephen-King-Verfilmung seit Jahrzehnten (hatte ich zufällig mal mitbekommen, dass er mit der Idee spielt). Kann aber auch die viertschlechteste werden. Auf jeden Fall sollte man nicht nur Horror-Experten mit Horrorfilmen betreuen. Stanley Kubrick und Brian De Palma waren auch keine Horrorexperten. Womit ich jetzt irgendwie Kringel um die lieben LeserInnen geschrieben habe und irgendwie fast wieder bei Ali Abbasi gelandet bin. Und das größtenteils eher zufällig.

Zum Film: Die 50er in den USA. Ruth (Felicity Jones) gehört zu den wenigen Frauen, die in Harvard studieren dürfen. Der Dekan (Sam Waterston) beginnt seine Einstiegsrede aber mit den Worten »What does it mean to be a Harvard man?«, und kurz darauf will er von den Studentinnen einzeln wissen, warum sie jeweils »einem Mann den Platz wegnehmen«.

Die erzählerische Holzhammer-Methode wird auch inszenatorisch gestützt, unter anderem durch sehr aufgesetzte Zeitlupensequenzen und den vermutlich schrecklichsten Soundtrack, den Mychael Danna jemals komponierte. Wenn romantischer Kuschelsex angedeutet wird, setzt sofort das Klavier mit Geigen ein, als Universitätsthema geht es indes militärisch zu - passend zu den nahezu uniformierten Harvard-Männern mit den wenigen weiblichen »Klecksen« dazwischen.

Die besten Ideen des Films sind vermutlich bei der Realität entlehnt: ein als Präzedenzfall aufgebauschtes Geburtstagsgeschenk, bei dem ausgerechnet ein Mann aufgrund seines Geschlechts diskriminiert wird, und die weitreichende Entscheidung, bei der Argumentation nicht das Wort "sex" zu benutzen (»it reeks of backseats and hormones - you know how men are!«), sondern etwas weniger »ablenkendes«, also »gender«.

Leider reichen diese zwei Details nicht, um den Film zu retten, denn zuvor wird das »Sex«-Thema etwa lang und schmutzig durch Schreibmaschinen-Montagen in den Fokus gerückt, bei dem die Buchstaben »s«, »e« und »x« fast wie drei Donnerschläge (oder gemeinsam tödlich wirkende Hornissenstiche) umgesetzt werden - damit auch noch der Hinterletzte es kapiert.

Gespräche über Rechtsprobleme werden hier gern auf den Geschlechterkampf zugespitzt und über den berühmtesten Anwalt der USA »gebrochen« (Atticus Finch aus To Kill a Mockingbird). Und nebenbei spult man die dramatischen Momente des Lebens von Ruth Bader Ginsburg ab: die Krebserkrankung ihres Mannes (Armie Hammer) und die Vorbereitung einer für Frauen gerechteren Welt über ihre Tochter, die neben der als Muse / Mäzenin eingesetzten Kathy Bates für den Urkern einer sisterhood herhalten müssen.

Ich habe durchaus eine Affinität für das Thema des Films, habe mir über die Jahre einen feministischen Blick angeeignet und lese vermutlich mehr Bücher von Frauen als 90% der Menschheit überhaupt an Büchern lesen - aber was hier aus der viel Potential versprühenden Geschichte gemacht wird, ist durch und durch plattes und plakatives Biopic-Kino, für das es womöglich schon 101-Grundkurse auf Colleges geben dürfte.

Die Besetzung der Hauptrollen mit Felicity und Armie ist durchaus reizvoll, aber aus diesen begabten DarstellerInnen wird kaum etwas gemacht, stattdessen delektiert man sich etwa an den Heerscharen von Harvard-Männern, wie sie es auch auf das Filmplakat schafften. Ich bin mir sicher, das zentrale Thema des Films kann man visuell besser umsetzten, und auch so ausgelutschte Details wie ein Gespräch darüber, dass das Wort »woman« nirgendwo in der US-Verfassung vorkommt (»freedom« aber auch nicht, ätschibätsch!), wirken hier statt progressiv irgendwie altbacken.

Diesen Film hat Ruth Bader Ginsburg nicht verdient.


Demnächst in Cinemania 200:
Zum Jubiläum wollen wir mal was Besonderes machen. Wir wissen nur noch nicht genau, wie besonders es werden wird.