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August 2003
Enno Stahl
für satt.org

Popliteratur.
Phänomen oder Phantasma?



Seit Mitte der 90er Jahre geht ein Gespenst um im deutschen Feuilleton, der Kommunismus ist es gewiss nicht, sondern Popkultur, speziell Popliteratur.
1 Johannes Ullmaier, Von Acid nach Adlon, Mainz: Ventil 2001
Wenige der Journalisten, die sich so extensiv dieses Begriffs bedienen, scheinen jedoch zu wissen, worüber sie überhaupt reden. Johannes Ullmaiers "Von Acid nach Adlon"1, ein ehemaliger Radiobeitrag, fasst eine Vielzahl von O-Tönen und Zitaten zusammen, die verdeutlichen, dass hier ein wucherndes Leerformel-Dickicht heran gezüchtet wurde, das erst jetzt allmählich von wissenschaftlichen Publikationen gelichtet und kritisch sondiert wird.

Das Feuilleton meint mit Popliteratur vornehmlich jene jungen, locker-flockigen Zeitromane und -romänchen von Autorinnen und Autoren wie Alexa Hennig von Lange, Elke Naters, Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht. Aber auch die Suhrkamp-Autoren-Riege Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke wird - unter anderen Vorzeichen - dazu gezählt. Vollends diffus wird diese "Gattungsbezeichnung", wenn sie dann noch auf Autorinnen wie Judith Hermann, Karen Duve oder gar Antje Ravic Strubel bezogen wird.

Der amerikanische Literaturkritiker Leslie A. Fiedler war der Erste, der explizit von Pop-Literatur sprach, und zwar bereits 1968 in seinem Aufsatz Cross the border, close the gap2.

2 Die deutsche Übersetzung war in zwei Folgen in der Wochenzeitschrift "Christ und Welt" abgedruckt worden (unter dem Titel: Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik, in: Christ und Welt, 13. September 1968, S. 9-10 und: Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science Fiction und Pornographie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen, in: ebd., 20. September 1968, S. 14-16); wiederabgedruckt unter dem Titel "Überquert die Grenze, schließt den Graben!", in: Mammut. März-Texte 1 und 2, 1969-1984 (Hg. Jörg Schröder), Herbststein: März 1984, S. 673-697)

3 ebd., S. 679

4 insbes. in "Der Film in Worten", "Die Lyrik Frank O’Haras" (jetzt in: Rolf Dieter Brinkmann, Der Film in Worten, in: ders., Der Film in Worten.Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974, Reinbek: Rowohlt 1982) und in "Anmerkungen zu meinem Gedicht ‘Vanille’", in: Mammut. März-Texte 1 und 2, 1969-1984 (Hg. Jörg Schröder), Herbststein: März 1984

5 ebd., S. 233

6 Günther und Irmgard Schweikle (Hg.), Metzler Literaturlexikon, Stuttgart: J.B. Metzelersche Verlagsbuchhandlung 1990, S. 359

7 "Es ist richtig, dass ich in diesen Bereich [den Medienrummel, Anmerkg. e.s.] mehr Zeit und Geduld hinein investiere als andere Autoren. Ich mache mir mehr Gedanken um einen öffentlichen Auftritt; oder dass ich mich strategisch in ein bestimmtes Licht rücke.", in: Xzeit magazin Nr. 4 (Juli/August 2000)
Im Anschluss an die "Pop Art" hatte Fiedler für die Literatur postuliert, sie müsse "anti-künstlerisch und anti-seriös"3 sein und dürfe keine Scheu vor Genres wie Western, Science Fiction oder Pornographie mehr haben.

Fiedlers Aufsatz, der damals in der Wochenzeitschrift "Christ und Welt" erschienen war, hatte hierzulande eine heiße Diskussion angeregt, die nicht nur Sachwalter der reinen Hochkultur und linke Dogmatiker (damals noch Martin Walser[!]) auf den Plan brachte, sondern auch Rolf Dieter Brinkmann. Er befürwortete Fiedlers Thesen und baute sie in einigen Essays4 systematisch aus [Film in Worten [1968], Die Lyrik Frank O’Haras [1969]]. Darin forderte er u.a. Einfachheit, reine Gegenständlichkeit der Sprache, bloßes Bild, bloße Oberfläche. Worte sollen funktionieren wie Fotos oder Filme, es existiere nur das, was man sieht, hört oder sagt: "Die Beschränkung auf die Oberfläche führt zum Gebrauch der Oberfläche und zu einer Ästhetik, die alltäglich wird."5 Das Profane der Alltagserfahrung, die Brinkmann etwa in sein Langgedicht "Vanille" [1969] integriert, wird quasi propagandistisch gegen die Kultur der Väter, der bürgerlichen Sphäre ins Feld geführt.

Soweit die begriffsgeschichtliche Basis, der sich auch noch eine Definition des Metzler Literaturlexikons von 1990 anschließt, danach wäre Popliteratur zu unterteilen in: "1. die populäre Unterhaltungsliteratur (Bravo, Playboy) und 2. eine Literatur, die mit provokanter Exzentrik, Obszönität, Unsinnigkeit und Primitivität gegen eine derartige Unterhaltungsliteratur gerichtet ist wie gegen eine Elitekunst oder gegen etablierte Normen.6 Während die erste Spielart sich klar auf die klassische Trivialliteratur beschränkt, erkennt man bei der zweiten den Bezug zur Undergroundliteratur, mit Einsprengseln aus dem Bereich der historischen Avantgarde.

Die neue deutsche "Feuilleton-Popliteratur" hat damit sichtlich wenig zu schaffen. Zwar ist auch sie - angesichts der Auflagenhöhe einzelner Titel - so etwas wie "populäre Unterhaltungs-literatur", dennoch wird man kaum den Grund für ihre Charakterisierung als "Popliteratur" darin sehen. Sondern diese Literatur aktiviert offensichtlich ein Identifikationsfeld für eine jugendliche Rezipientenschar, das über bestimmte konnotative Schlüsselreize kommuniziert wird. Die diskursive Inflation des Begriffs in den letzten Jahren weist so über den literatur-immanenten Rahmen hinaus und erscheint als Zeitphänomen von kulturwissen-schaftlichem Belang, da sich Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Verfasstheit ziehen lassen.

Zunächst jedenfalls ist Popliteratur ein erfolgreiches Marketing-Produkt, lanciert nicht nur von den "bösen Major-Companies", sondern lanciert auch zu einem guten Teil von den Autoren selbst. Das gibt etwa Stuckrad-Barre in seinen Interviews unumwunden zu.7

Marketing ist aber nur dann erfolgreich, wenn es die Antwort auf ein vorhandenes gesellschaftliches Bedürfnis formuliert (oder ein Bedürfnis weckt, im Falle von Literatur sicher weniger aussichtsreich als bei einer neuen Sorte Crunchy Chips).

Gehen wir also davon aus, dass ein solches Interesse bereits bestand. Ich denke, dass - speziell mit der Einführung der Musiksender MTV und VIVA - Populärkultur generell einen größeren Stellenwert in der Gesellschaft einzunehmen begann. Ein Musikvideo ist nicht nur Werbung für einen Song, sondern es liefert das komplette Marketing für bestimmte Styles gleich mit: es trifft Aussagen über Habitus, Gestus, Kleidung, Frisur oder auch Inneneinrichtung. Die Entdeckung der Jugend als Käuferschicht und Imageträger ging damit Hand in Hand, immer weitere Teile der Gesellschaft wurden von der "Verpoppung" erfasst.

Heute schlägt sich diese Tendenz überall nieder: im Trend zu Event-Kultur und Entertainment, in der bildenden Kunst, im Stadt-Theater oder auch ganz generell: in der ständigen Forcierung der Reizniveaus im medialen wie im urbanen Bereich. Dadurch stellt sich nun ein anderes Problem: warum, wenn unsere gesamte Gesellschaft so durchsetzt ist von populären Elementen, wird ausgerechnet (und ausschließlich) eine "Popliteratur" so heiss diskutiert?

Schaut man an dieser Stelle erneut in die Heimatländer des Pop, entdeckt man dort eine sehr weit gefasste Vorstellung der populären Kultur, Thomas Inge betrachtet sie (in seinem "Handbook of American Popular Culture" von 1989) gar als das "what we do by choice to engage our minds and bodies when we are not working or sleeping. [ …] playing baseball, [ …] dancing, [ …] watching television, sunbathing or reading a book.", aber auch "painting a portrait, writing a poem, cooking a meal [ …]."8 Populärkultur ist demnach so in etwa alles außer Arbeit und Hochkultur.

8 Thomas Inge, Handbook of American Popular Culture, New York: Greenwood Press 1989, S. XXVI

9 in: Inge, a.a.O., vgl. S. 1459/60

10 Richard Hoggart, Die >wirkliche< Welt der Leute. Beispiele aus der populären Kunst, in: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung (Hg. Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsen Winter), Lüneburg: Zuklampen Verlag 1999, S. 43/44; Raymond Williams, `Popular´, in: Keywords: a Vocabulary of Culture and Society, Fontana: London 1976, S. 198/99, Stuart Hall, Encoding, Decoding,, in: ders. u.a. (Hg.), Culture, Media, Language, London 1987, John Fiske, Understanding Popular Culture, Boston 1989

Ein anderer konstitutiver Aspekt (Inge, aber auch Bell [1989]9) ist die leichte Verständlichkeit populär-kultureller Äußerungen für die Majorität der Bevölkerung sowie, dass diese [Äußerungen] das Alltagsleben abbilden. In eine ähnliche Richtung geht die Auffassung der britischen Cultural Studies, die, auf einer marxistischen Grundlage fußend, die populäre Kultur als eine originäre Hervorbringung der Arbeiterklasse betrachten und deren eventuelle Minderwer-tigkeit gegenüber Erzeugnissen der "Hochkultur" strikt zurückweisen. So etwa Richard Hoggart, Begründer der Cultural Studies, [1957], Raymond Williams [1976], Stuart Hall [1987], John Fiske [1989]10 Das unterstreicht einmal mehr, dass die populäre Kultur im anglo-amerikanischen Raum ein integraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit ist, während sie in Deutschland noch immer erklärungswürdig erscheint, als eine Art Epiphänomen, das zum täglichen Leben hinzu kommt. In den USA und in Großbritannien dagegen hat wohl jeder Mensch unter 80 seine Pop-Sozialisation erfahren.

Im dortigen Wissenschaftsdiskurs werden verschiedene Sparten: Film, Kunst, Fotografie, Mode - und auch Literatur als gleichberechtigte Teile eines populären Gesamtkomplexes verstanden. In diesem stehen dann allgemeine Problematiken wie Genderfragen, gesellschaftliche Gewalt, Neo-Kolonialismus oder ethnische Phänomene zur Debatte.

Also noch einmal: was machte Popliteratur in den 90er Jahren so sehr zum Paradigma des Populären in Deutschland? Anders gefragt: was ist das "Poppige" an den "Popliteraten"?

Beginnen wir mit Christian Kracht, denn sein 1995 erschienenes Buch "Faserland" gilt gemeinhin als eine Art "Gründungsmanifest" der Bewegung:

"Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. [ …] Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. [ …] Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns schon aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paarmal im Traxx in Hamburg gesehen und im P1 in München."11

11 Christian Kracht, Faserland [1995], München: Goldmann 1997, S. 9

12 Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin: Argon 2000, S. 154f.

13 Christian Kracht, Faserland, a.a.O., S. 63

14 Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck 2002, S. 114

Die Nennung von Markennamen (Jever, Barbour), das provozierende Heraus-stellen snobistischer Attitüde und "besserer Herkunft" (Import-Scampis statt Scholle, Sylt, Salem), die weltgewandte Kennerschaft von Clubs in München und Hamburg: Diese schlichten Anfangssätze des Buches bergen in der Tat schon alles, was die Apologeten der Popliteratur als den revolutionären Einschnitt der 90er Jahre feierten. Florian Illies etwa, Verfasser des Buches "Generation Golf", empfindet die Art und Weise, wie Kracht Markennamen zur Kennzeichnung von Lebenswirklichkeit einführte, als ungeheuer befreiend: "Nicht nur ich, so durfte man endlich sagen, finde die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke schwieriger als die zwischen CDU und SPD."12 Der Rostocker Germanist Moritz Baßler, der in diesem Jahr die erste wissen-schaft-liche Monografie über die deutsche Popliteratur herausbrach-te, weist zurecht darauf hin, wie sehr diese identifikatorische Lesart Illies’ an dem Text vorbei zielt. Der Ich-Erzähler ist auch hier eben nicht mit dem Autor identisch, sondern es handelt sich um eine Form der Rollenprosa, bei der sogar überdeutliche Distan-zierungen eingebaut sind: etwa wenn der Protagonist ganz genau "weiß", dass Walther von der Vogelweide und Bernard von Clairvaux "mittelalterliche Maler"13 waren. Die landläufige Rezeption Faserlands als Pop-Roman, ob in negativem oder positivem Sinne, beruht demnach auf einer selektiven Lektüre, das Buch ist statt dessen "ein durchaus geschlossener, traditionell durchgeführter Problemroman"14, oder besser gesagt eine Novelle.

Noch mehr erstaunt das Pop-Etikett bei Krachts jüngstem Buch "1979", dessen erster Teil im Teheran der islamistischen Revolution spielt: bis auf ein paar gehobene Party-Settings weist hier nichts mehr auf den Pop-Kontext. Der zweite Teil, im Himalaya und in einem chinesischen KZ angesiedelt, tilgt auch die letzte Reminiszenz daran.

Die "Pop-Autorin" Elke Naters, ihre Bücher erscheinen wie die Stuckrad-Barres und Krachts bei Kiepenheuer & Witsch, ist es Zufall oder Strategie? - auch Elke Naters beginnt ihren Roman-Erstling "Königinnen" standesgemäß, nach kleinen Zwistereien mit ihren Freundinnen schaut die Erzählerin zum Trost in ein Kleidergeschäft und entdeckt dort "diese wirklich wunderschönen Schuhe von Patrick Cox. Die sind dunkelbraun und glänzen und haben zwei kleine Schnallen. Das beschreibt sie nur unzulänglich, aber sie sind wirklich wunderschön. Es passiert sehr selten, daß ich schöne Schuhe sehe. Das letzte Paar, das ich gesehen und gekauft habe, waren die curryfarbenen Lackloafers von Miu Miu. Bei Theresa in München."15

15 Elke Naters, Köninginnen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 9, eine ganz ähnliche Eingangspassage findet sich übrigens auch in Alexa Hennig von Langes "Ich".

Auch wenn die Erzählerin vom Sozialamt lebt, kennt sie sich dennoch mit Marken, ihren Preisen und dem dazugehörigen Vokabular gut aus, ist sie bereit trotz schmalster Börse sehr viel Geld für standesgemäße Assecoires auszugeben. Wie Krachts Hauptfigur wird sie weitgehend darüber charakterisiert. Auch die Sprache ist ähnlich einfach gestrickt wie bei Kracht: sie besteht vorrangig aus kurzen Hauptsätzen, durchschnittlich fünf bis zehn Worte, teilweise schon mal in Reihung, selten werden Nebensätze eingeschaltet, etwa nach Art der BILD-Zeitung. Für Verständlichkeit ist also gesorgt. Ebenso inhaltlich, es geht um Großstadt-Beziehungen, um die Suche nach dem richtigen Mann, das zeitgenössische Leben zwischen Fun, Konsum und Frust. Das wird so geschildert, wie Elke Naters das wohl auch ihren Freundinnnen berichten würde. Der Provo-Aspekt beschränkt sich auf Sentenzen wie: "Kleine Frauen sollten zu Hause bleiben. Nur zum Einkaufen sollte man sie herauslassen. [ …] Eine andere Frage ist, ob kleine Frauen sich überhaupt fortpflanzen sollen. Denn in der Regel kriegen kleine Frauen kleine Kinder und wieder kleine Mädchen, die zu kleinen Frauen werden."16 Das spielt nicht unschick mit neuen Vorschlägen zur "Rassenveredelung" und kann sich - bei aller Durchschaubarkeit der Intention - wütenden Widerspruchs der Siegelbewahrer politischer und sprachlicher Korrektheit sicher sein.

16 ebd., S. 12

Pointierter fallen solche Urteile bei Benjamin von Stuckrad-Barre aus, der bereits vor seinem Romandebut "Soloalbum" [1999] als scharfzüngiger Kolumnist seine profunde Kenntnis neuerer Stilkunde unter Beweis stellte. Auf der Basis solcher Autorität fließen ihm Disqualifikationen wie folgende spielend leicht aus der Tastatur: "Dann steigt ein Vollidiot ein. [ …] Ich schätze mal: Theologe, eine fette Frau mit unrasierten Beinen, mindestens zwei ungewaschene Kinder. Natürlich mit dem Trekking-Rad, mit dem man mühelos die Taiga durchqueren könnte, aber er muß damit natürlich durch die Stadt fahren (Helm auf, ist klar!) und uns allen zeigen, daß es auch ohne Auto geht."17 Die flotte Sprechsprache animiert den Leser zum leichtfertigen Abnicken einer kulturellen Kumpanenschaft, jedoch, immerhin skizziert Stuckrad-Barre, anders als Naters, mit diesen wenigen Worten den gesellschaftlichen Bedeu-tungshof des inkriminierten Personenkreises. Wie wir alle ordnet der Erzähler Menschen und kulturelle Zeichen im urbanen Alltag automatisch ein, sortiert und katalogisiert.

17 Benjamin von Stuckrad-Barre, Soloalbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 83

18 Hubert Winkels, Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur, in: Sinn und Form 51 (1999), S. 581-610, S. 607

Die Trennungsgeschichte, die dem Roman "Soloalbum" als Plot zugrunde liegt, ist überaus sekundär: sie dient lediglich als Alibi für die Absonderung des Ich-Erzählers von der Welt (wie Hubert Winkels richtig erkannt hat).18

Worum es eigentlich geht, ist, Codes und Sprechweisen, Stile und kulturelle Gestik zu sammeln und zu archivieren, und natürlich: sie (sehr selten) emphatisch zu begrüßen, sie (zumeist) mit beißendem Spott zu überziehen. Gattungstheoretisch gesehen, das klingt schon durch, handelt es sich um reinstes Feuilleton, zweifellos gutes Feuilleton. Aber Pop, ja repräsentativste Äußerung der Populärkultur in Deutschland?

Die Wiedergabe einer Majoritätsmeinung strebt Stuckrad-Barre nun gerade nicht an, vielmehr zielt er ab auf eine Stilelite, die gerade peinlich bemüht ist, sich vom Mainstream abzusetzen. Die umfangreichen kulturellen Glossare, Hitlisten und sozialen Kategorien Stuckrad-Barres spiegeln und benutzen zwar die "Oberfläche" im Brinkmann’schen Sinne - dessen Miteinbeziehung des Alltäglichen brachte aber eine subversive Komponente ins Spiel. Die Lebenswirklichkeit der 90er Jahre besitzt dieses Provozierende nicht mehr. Man sieht es bei Christian Kracht: Exzesse bei Jetset-Parties, Reisen im ICE statt in der rostigen Ente - dem Amüsement ist die kritische Note abhanden gekommen.

Die Nennung von Band- und Markennamen allein, die Moritz Baßler zur Demarkationslinie der zeitgenössischen deutschen Literatur aufbauscht, dürfte wohl kaum als Ausweis der Paradigmen-tauglichkeit genügen. Zumal Baßler selbst eine Reihe von Beispielen aus dadaistischer und expressionistischer Zeit anführt, die durch ein explizites Setzen von Produktbezeichnungen geprägt waren.

Auch das Konzept der "Scheinaffirmation", das mitunter zur Untermauerung des Pop-Charakters angeführt wird, trifft die Textwirklichkeit nicht. Diese Formel geht zurück auf den deutschen Musikjournalismus der 80er Jahre. Autoren aus dem Umfeld der Magazine "Sounds", "Spex", "Mode & Verzweiflung", Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Diederich Diederichsen unter anderen, bemühten sich um die Definition eines Pop-Begriffs, der auf dem subversiven Umdeuten traditioneller Codes beruhte, einer "Subversion-durch-Affirmation-Kampagne" (eine Strategie übrigens, die spätestens mit dem Auftreten der Nazi-Bands als gescheitert anzusehen ist).

Zwar leuchten solche Momente hier und da auf, jedoch im Großen und Ganzen meinen die Popliteraten alles schon so, wie sie es sagen. Das spart gar altbekannte linksliberale Stellungnahmen, speziell bei Stuckrad-Barre, keineswegs aus.

Die Feuilleton-Wallungen in Sachen Popliteratur lassen sich aus den Büchern selbst also schwer nachvollziehen, gemessen am amerikanischen Vorbild American Psycho, kommen die Auslassungen dieser netten Söhne und Töchter aus gutem Hause recht harmlos daher. Allem Anschein nach hat die Öffentlichkeitswirkung eine andere Ursache: die eigene Medienerfahrung der Protagonisten mag eine Rolle spielen. Sie allein hätte, angesichts eines so konventionell geschriebenen Buches wie Krachts Faserland, eine derartige Presselawine aber kaum gewährleistet. Der Grund liegt vielmehr in der Selbstinszenierung der Autoren, man denke etwa an Porträt-Fotos von Sibylle Berg, hingegossen auf dem Diwan, zum Vamp stilisiert mit Dalmatiner an der Seite.19 Das hat weder mit Sibylle Berg selbst noch mit klassischer Autoren-Darstellung zu tun, sondern transferiert schlicht die Marketing-Strategien der Musikindustrie auf die Literatur.

19 Cover ihres Buches "Amerika", Stuttgart: Hoffmann und Campe 2000.

Es ist kein Wunder, dass Benjamin von Stuckrad-Barre, der ohnehin als der exemplarische Popliterat gilt, zuvor in der Musikindustrie gearbeitet hat. Getreu solchen Hintergrundes hat er in der Folge alle medialen Chancen genutzt, durfte eigene, relativ misslungene Fernsehformate auf MTV vorstellen und hat - anders als Kracht und Naters - in wirklich jeder deutschen Talkshow das Bänkchen gedrückt, wie all die anderen Stars und Starlets der bunten Medienwelt auch.

Nicht die Literatur ist also wirklich Pop, sondern die Inszenierung der Autoren, ihre Beanspruchung der Pop-Rolle. Die Selbststilisierung Krachts, Stuckrad-Barres und einiger anderer, eher unbedeutender Literaten als "popkulturelles Quintett", Krachts und Stuckrad-Barres Werbekampagne für die Bekleidungsfirma Peek & Cloppenburg - die Textlektüre wird von der öffentlichen Semiotik der Autorenrolle überdeckt (nicht immer zu deren Vorteil, was Stuckrad-Barre des öfteren beklagt).

Diese Strategie konnte natürlich nur deshalb aufgehen, weil sich ihr Widerpart so ungemein weit von der gesellschaftlichen Realität entfernt hat. Die linksliberale "High-Brow-Culture", die noch immer mehrheitlich die deutschen Feuilletons bevölkert, musste zwangsläufig auf diese "Erregungsvorschläge" reagieren, es als unglaublich provokant empfinden, wenn ein Autor sich in Maßanzüge kleidet, sich offen auf die Seite der Besserverdienenden schlägt und der scheinhaften Produktwelt Vorrang zollt vor jener des Wahren, Schönen, Guten und Transzendenten.

Weil sie solche Ressentiments, solche Befindlichkeiten aus dem Inneren des gesellschaftlichen Diskurses zu Tage fördert, ist die sogenannte Popliteratur ein interessantes Phänomen. Zugleich ist sie ein Spuk, ein Phantasma, weil sie sich stark am Zeitgeist orientieren musste, und das ist fünf Jahre später nicht mehr von Interesse - weder die Realitätsbeschreibungen noch die Listen und Archive. Dazu sind sie nicht ausführlich genug, eher wäre das zu erwarten von den Medienmitschriften Rainald Goetz’ ("1989", "Abfall für alle"). Oder den Notaten eines kollektiven Gedächtnisses, wie in Jürgen Teipels Interview-Collage "Verschwende deine Jugend". Aber das ist wieder ein ganz anderes Thema.