Lyrik aller Arten
Enno Stahl über die Anthologie „Lyrik von jetzt", herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner
Der aufstrebende deutsche Junglyriker von heute hat ein schmales Debut-Bändchen in einem renommierten Verlagshaus heraus gebracht. Das verschafft ihm ein bis zwei Aufenthalts-Stipendien pro Jahr, eine Einladung zum Literarischen März in Darmstadt und eine würdigende Erwähnung von Michael Braun. So etwa ist der Erfahrungshintergrund zu skizzieren, der in diesem Dichten um Ausdruck ringt: Büchergelehrsamkeit, Betriebsschläue, handwerkliche Connaissance bei weitgehender Ausblendung der „wirklichen", der authentischen Realität.
Das zum Beispiel ist eine Beobachtung, die man nach Lektüre der Anthologie „Lyrik von Jetzt“ zu treffen geneigt ist. Aber diese umfangreiche Textsammlung, die von ihren Herausgebern, den Berliner Lyrikern Björn Kuhligk und Jan Wagner, explizit als „Bestandsaufnahme“ des aktuellen Lyrikschaffens zu verstehen ist, hält eine erstaunliche Bandbreite poetischer Artikulationen bereit. Und das ist gut so: wer kann „jetzt“ schon sagen, was später als maßstäblich für die heutige Zeitgenossenschaft gelten wird? Statt einer unerquicklichen Anthologisten-Eitelkeit zu frönen, die mehr der Selbstbespiegelung des Auswählenden dient, wird hier einer heterogenen Schar von Autorinnen und Autoren Raum gegeben, die nach 1965 geboren und durch kontinuierliche Lyrikveröffentlichungen präsent sind. Gerhard Falkner spricht im Vorwort zurecht von einer „dokumentarischen Anthologie". Vielleicht wäre es besser gewesen, den trennenden Schnitt etwas höher anzusetzen, etwa 1970. Da sich jetzt insgesamt 74 Autoren aus nahezu drei unterschiedlichen Generationen (nämlich der Mittsechziger, Anfang- und Endsiebziger Jahrgänge) ein Stelldichein geben, kristallisieren sich Trends oder Tendenzen nur schwer heraus. Einiges fällt dennoch auf, im Guten wie im Schlechten. So scheint sich inzwischen, wie oben bereits angesprochen, ein lyrischer „Mainstream“ heraus gebildet zu haben, der eine risikolose, nicht zu schlichte, nicht zu aufgeladene Poesiesprache entwickelt hat. Bisweilen antichambriert er, Durs Grünbein und Raoul Schrott nachfolgend, in der kosmologischen Überhöhung irdischer Erscheinungen ("an diesem zerbissenen schlauch im mund wüßtest/ du, der ursprung aller wesen sei das meer", Christian Lehnert) oder lässt, in bündige Formeln gefasst, Weltzeitalter herab regnen (Uwe Tellkamp). Das tut niemandem weh, imponiert aber manchem Jurymitglied, denn Realismusverdacht kommt dabei sicher nicht auf.
Auch bei einigen Autorinnen (Marion Poschmann, Silke Scheuermann, Daniela Seel u.a.) bleibt Gesellschaftliches ausgeschlossen, sie befleißigen sich einer Sprache der Befindlichkeit, umkreisen Zweisamkeit und „dunkles Du". Ist hier die „Neue Subjektivität“ der Siebziger Bezugspunkt, spielen für eine Reihe anderer Autoren die experimentellen Ausdrucksformen der 50er Jahre eine Rolle. Das geschieht mal in nachahmender Weise (Rainer Stolz), mal mit souveräner Könnerschaft wie in Sabine Schos Beschreibung einer Fliegerparade, die mit einem Weltkriegs-Subtext verschaltet ist. Ähnliche Ansätze finden sich bei Marcel Beyer (bekanntlich), sie werden medial aufbereitet, neuer Sample, neuer Cut bei Annette Brüggemann und René Hamann.
Der deutlichste Akzent aber liegt auf einer Poetisierung des Alltags, besonders bei Lyrikern wie Kasnitz, Hückstädt, Winkler, Fiebig, Bleutge oder den Herausgebern Kuhligk und Wagner. Das mag, wie manche ihnen vorhalten, ein Rekurs auf Rolf Dieter Brinkmann sein. Dessen provokative Setzung trivialer Elemente wird hier jedoch zugunsten einer fast wertfreien Notiznahme von Realitätselementen aufgehoben und so auf ein unmittelbares Erleben der Poesie zurück geführt. Eher dem zornig-trashigen Duktus Brinkmanns verpflichtet sind Dichter wie Stan Lafleur, Kersten Flenter, Tom Schulz oder Ingo Jacobs mit seinem bösen Gedicht über den Pool des TV-Produzenten.
Epigrammatik, Hiphop-Lyrik zwischen flott-gereimten Bürgerkind-Befindlichkeiten (Bastian Böttcher) und ernstzunehmendem Sprach- und Politwitz (Boris Preckwitz), nicht unschicke, aber etwas naive Pop-Provo-Mätzchen (Daniel Falb) - zahlreiche Ausdrucksarten inszenieren sich, doch vieles erscheint vertraut, tradiert aus dem Dichtungskanon des 20. Jahrhunderts. Zeichen für eine angemessene Kenntnis des Repertoires? Oder doch für eine allzu beliebige Verfügbarkeit der poetischen Zeichen?
Wie gesagt, was übrig bleibt, vermag keiner zu prophezeien. Sicher ist aber, dass nur weniges in dieser Sammlung wirklich heraus fällt, weil es - abgesehen von allen qualitativen Erwägungen- schlichtweg „anders“ ist, neben dem Strom, zwischen den Stühlen. Wie die suggestiv-kryptische Rätsellyrik Johannes Jansens, Lafleurs Kebab-Elegie oder die desperaten Verse Beatrix Hausteins. Gerade das aber spricht für diese Form der Dokumentation.