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08.06.2003 Lyrik.Log Die wöchentliche Gedichtanthologie (2003-2005). Herausgegeben von Ron Winkler. 99: Oswald Egger 98: Arne Rautenberg 97: Achim Wagner 96: Uljana Wolf 95: José F.A. Oliver 94: Maik Lippert 93: Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki 92: Kurt Drawert 91: Holger Benkel 90: Brigitte Fuchs 89: Uwe Tellkamp 88: Tobias Grüterich 87: Uwe Kolbe 86: Clemens Kuhnert 85: Gerhard Falkner 84: Franzobel 83: Wojciech Izaak Strugala 82: Lutz Rathenow 81: Iain Galbraith* 80: Nicolai Kobus 79: Jürgen Theobaldy 78: Rainer Stolz 77: Wilhelm Bartsch 76: Nico Bleutge 75: Mikael Vogel 74: Raphael Urweider 73: Eberhard Häfner 72: Andrej Glusgold 71: Joachim Sartorius 70: Björn Kuhligk 69: Christopher Edgar* 68: Crauss 67: Denise Duhamel 66: Richard Pietraß 65: Norbert Hummelt 64: Nikola Richter 63: Richard Dove 62: Volker Sielaff 61: Günter Kunert 60: Hendrik Rost 59: Lydia Daher 58: Thomas Böhme 57: Florian Voß 56: Franz Hodjak 55: Adrian Kasnitz 54: Marcel Beyer 53: Steffen Brenner* 52: Rotraud Sarker 51: Sabina Naef* 50: Morten Klintø* 49: Renatus Deckert 47: Jan Wagner 46: Emma Lew 45: Gintaras Grajauskas 44: Matthias Göritz 43: Paulus Böhmer* 42: Birte Wolmeyer 41: Christian Lehnert 40: Daniela Danz 39: Hauke Hückstädt 38: Ilma Rakusa 37: Gerald Fiebig 36: Anna Hoffmann 35: René Hamann 34: Oskar Pastior* 33: Tom Schulz 32: Monika Rinck* 31: Mirko Bonné 30: Said 29: Daniela Seel 28: Olga Martynova » Internodium 27: Helwig Brunner* 26: Lutz Seiler 25: Ulf Stolterfoht 24: Nick Riemer 23: Elke Erb 22: William Stone 21: Daniel Falb 20: Raoul Schrott* 19: Ulrike Draesner* 18: Stan Lafleur 17: Silke Scheuermann 16: Jörg Schieke 15: Jan Volker Röhnert 14: Marion Poschmann* 13: Anne Beresford* 12: Lars-Arvid Brischke 11: Bert Papenfuß 10: Volker Braun 09: Cornelia Schmerle 08: Guy Helminger 07: Michael Hamburger* 06: Hartwig Mauritz 05: Jürgen Nendza 04: Maren Ruben 03: Frans Budé 02: Friederike Mayröcker* 01: Andreas Altmann* * mit Anmerkungen Die Rechte an den Texten liegen, soweit nicht anders gekennzeichnet, bei den jeweiligen Autoren. (Betrifft den Zeitpunkt der Veröffentlichung) |
Lyrik.Log 20Raoul SchrottMATUTIN [I]womit beginnen · dem vor dem fenster auf stirnfronten fassaden und straßenfluchten verfallenden himmel ein weißaschener rand über häuserzeilen die sich in diesem nachtlangen dämmern aneinanderreihen zu dem schlaflosen das sein ewiges ansonsten daraus abliest ungeduldig und aus dem augenwinkel überspringend satz für satz · oder bei dir sacht ja beinah zögernd mit hand und mund den silhouetten des körpers nachtastend blind von dir als ginge die nacht um das bett herum einmal zweimal und sinke zu auf dich · ein schatten der an deiner schulter sich verliert um dich von deiner nacktheit abzusetzen als dem unvollständigsten an dir · nein du schaust noch im dunkeln ich weiß du mit deinen dunklen lidern den griechisch großen augen und dein nacken zurückgeworfen in dieser vor all dem wachen zu kopf gestiegnen müdigkeit ihrem magren fiebern mit offenen lippen wie um etwas auszusprechen das als laut innen in der kehle bleibt · ich kann dich dabei nur halten bis es nachgibt · und wo ich dich berühre ist da der fahle glanz der haut · im zimmer der tisch ein spiegel und licht das zwei finger weit wie über leeren bögen liegt in denen nun die frühe ihre stelle findet · das leben und das sterben hatten darauf jäh raum indem sie einander dann umfassen konnten berlin 6 3 II Raoul Schrott geboren 1964, lebt in Irland. Zuletzt erschienen u.a. Die Wüste Lop Nor. Novelle (Hanser, München 2000; Fischer Tb, Frankfurt 2003; Hör Verlag, München 2000), Gilgamesh. Neuübersetzung (Hanser, München 2001), Khamsin. Die Namen der Wüste (S. Fischer, Frankfurt 2002). Jan Röhnert schreibt über das Gedicht: Wenn ich richtig liege, geht es Raoul Schrott darum, das allen einzelsprachlich oder national gebundenen Poesien Gemeinsame aufzudecken - 'poetische Universalia' sozusagen aus den versifizierten Diskursen aller dokumentierbaren Räume und Zeiten herauszufiltern. Die Liebe jedoch – deren Erfahrung als dem Gedicht zugrunde liegend angenommen werden kann – ist nicht bloß unbezweifelbare poetische, sondern vor allem existentielle Universalie: Sie ist für ihn Teil jenes „schlaflosen, das sein ewiges ansonsten // daraus abliest", wie er schreibt. Würde uns sein Tagelied nun nichts weiter als die Inszenierung des am Morgen seine Geliebte „mit den griechisch großen augen“ besingenden Liebhabers bieten, der Reiz des Gedichts wäre womöglich schnell erschöpft. Doch Raoul Schrott ist erfahren genug, den poetischen 'Universalia' nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form nachzugehen: an die Form denken heißt, sich die musikalische Herkunft jeder Lyrik vor Augen halten. Und ist der Rhythmus nicht ins Korsett einer starren metrischen Anordnung eingespannt, dann wird er faßbar als das, was er u n m i t t e l b a r bedeutet: die Aufeinanderfolge der Atemzüge des jeweiligen Sprechers. Atemzüge und -pausen, Zungenschläge, Lippen, Rhythmus, Takt: warum wird die Liebe allzu oft b e s u n g e n ? Gibt es eine, zur Universalie der Liebe passendere, weil ohne Worte auskommende, 'Sprache' als die der Musik? (Stellen Sie sich die heillose Banalität von Volksliedern, Opern, Popsongs vor, wenn sie gesprochen würden. Andererseits hat geniale gesprochene Liebeslyrik wie die Goethes oder Heines die Komponisten reihenweise zur Vertonung gedrängt …) Raoul Schrotts Gedicht stellt nun zwar keine musikalische Partitur dar, es unternimmt jedoch den Versuch, die Bedeutung der einzelnen Worte mit dem Rhythmus ihrer Aufeinanderfolge verschmelzen zu lassen; zu denken wäre hierbei an Novalis' ideelles Konstrukt einer Universalsprache der Poesie oder auch an seinen Vers: „ …wenn die so singen oder küssen / mehr als die Tiefgelehrten wissen …“ All das, was auf inkommunikable Individualsprache, hermetische Verdunkelung usw. verweist, hat in dieser Universalsprache nichts zu suchen. Doch wie auf dem Höhepunkt des Liebesakts die Individualität des Paars sich gleich einer ätherischen Flüssigkeit aus der Kapsel des Bewußtseins verflüchtigt, so bietet uns die Poesie Raoul Schrotts die Möglichkeit, den zur rhythmisch-musikalischen Form gesteigerten Inhalt mit unseren je eigenen Erfahrungen aufzufüllen: Das ist seine Auffassung, denke ich, von einer 'progressiven Universalpoesie': eine Romantik, die freilich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts tief in sich aufgesogen hat. Man denke dabei an Philippe Soupault, als dessen letzter Sekretär Raoul Schrott wirken durfte und dessen in den zwanziger und dreißiger Jahren veröffentlichte Gedichtbände „La rose des vents“ und vor allem „Georgia“ das Thema der Liebe angepeilt hatten. Man denke auch an die unaufhörlichen Metamorphosen eines Picasso, die, so individuell er auch arbeitete, das universalste Thema überhaupt anschlugen: die Frau, und ihre Beziehung zum Mann und vice versa. Für einen wie Raoul Schrott, der gewissermaßen 'über den Wassern', auf einem den Atlantik kreuzenden Schiff geboren wurde, mag es in den Sternen liegen, bin ich versucht zu sagen, auf allen Meeren und Kontinenten nach dem alle Poesien Verbindenden umherzustreifen.
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