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22.02.2004 Lyrik.Log Die wöchentliche Gedichtanthologie (2003-2005). Herausgegeben von Ron Winkler. 99: Oswald Egger 98: Arne Rautenberg 97: Achim Wagner 96: Uljana Wolf 95: José F.A. Oliver 94: Maik Lippert 93: Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki 92: Kurt Drawert 91: Holger Benkel 90: Brigitte Fuchs 89: Uwe Tellkamp 88: Tobias Grüterich 87: Uwe Kolbe 86: Clemens Kuhnert 85: Gerhard Falkner 84: Franzobel 83: Wojciech Izaak Strugala 82: Lutz Rathenow 81: Iain Galbraith* 80: Nicolai Kobus 79: Jürgen Theobaldy 78: Rainer Stolz 77: Wilhelm Bartsch 76: Nico Bleutge 75: Mikael Vogel 74: Raphael Urweider 73: Eberhard Häfner 72: Andrej Glusgold 71: Joachim Sartorius 70: Björn Kuhligk 69: Christopher Edgar* 68: Crauss 67: Denise Duhamel 66: Richard Pietraß 65: Norbert Hummelt 64: Nikola Richter 63: Richard Dove 62: Volker Sielaff 61: Günter Kunert 60: Hendrik Rost 59: Lydia Daher 58: Thomas Böhme 57: Florian Voß 56: Franz Hodjak 55: Adrian Kasnitz 54: Marcel Beyer 53: Steffen Brenner* 52: Rotraud Sarker 51: Sabina Naef* 50: Morten Klintø* 49: Renatus Deckert 48: Roza Domascyna 47: Jan Wagner 46: Emma Lew 45: Gintaras Grajauskas 44: Matthias Göritz 43: Paulus Böhmer* 42: Birte Wolmeyer 41: Christian Lehnert 40: Daniela Danz 39: Hauke Hückstädt 38: Ilma Rakusa 37: Gerald Fiebig 36: Anna Hoffmann 35: René Hamann 34: Oskar Pastior* 33: Tom Schulz 32: Monika Rinck* 31: Mirko Bonné 30: Said 29: Daniela Seel 28: Olga Martynova » Internodium 27: Helwig Brunner* 26: Lutz Seiler 25: Ulf Stolterfoht 24: Nick Riemer 23: Elke Erb 22: William Stone 21: Daniel Falb 20: Raoul Schrott* 19: Ulrike Draesner* 18: Stan Lafleur 17: Silke Scheuermann 16: Jörg Schieke 15: Jan Volker Röhnert 14: Marion Poschmann* 13: Anne Beresford* 12: Lars-Arvid Brischke 11: Bert Papenfuß 10: Volker Braun 09: Cornelia Schmerle 08: Guy Helminger 07: Michael Hamburger* 06: Hartwig Mauritz 05: Jürgen Nendza 04: Maren Ruben 03: Frans Budé 02: Friederike Mayröcker* 01: Andreas Altmann* * mit Anmerkungen Die Rechte an den Texten liegen, soweit nicht anders gekennzeichnet, bei den jeweiligen Autoren. (Betrifft den Zeitpunkt der Veröffentlichung) |
Lyrik.Log 54Marcel BeyerTigerschminke
I
Da spricht jemand durch die Tapete, gelb und blau, Berichte, Bahnen, Katzenkämpfe hingestottert wie im Kinderunterricht die letzte Nacht. Nichts aufzusagen, nichts zu deklamieren. So wie man Teppichfliesen bringt, mit diesen pelzigen und verleimten Stellen zwischendrin. Es knirscht bei jedem Schritt. II Ich sehe einen Mann auf einem Stuhl, auf einem Hocker eher, einem Anglersitz vom Pfennigpfeifer, im Halbdunkel ein Mann in meinem Alter. Ich, Tigerschminke um die Augen, spreche. Dieser Mann spricht nicht, die Lippen formen keine Worte, die Brauen unbewegt, nichts zeigt sich auf der Stirn. Niemand läuft hin und her, bewegt die Arme, wie er es gelernt hat, und niemand wiegt den Kopf und schaut mit künstlichem Gebiß. Bitte keine halbleere Schnapsflasche, kein umgekipptes Glas und keinen Branntweinschweiß. Nichts ähnelt der Konditorei, nichts dem Strand des Senegal. III Ich suche nach Phototapete, nach ein paar Rollen meiner Wüstenserie mit Rapport, nur keinen Nordlandzauber. Hinten Schmusemusik, Hyänenwitze und der Kinderchor von früher. Überall höre ich diese Discounterchöre, wir singen nach der Melodie DER EISBÄR WIMMERT, dann noch einmal ALS WIR BEI MOSKAU DURCH DIE HEIDE RITTEN, aber am Grabbeltisch, Afrikablicke, ist Zittern nicht erlaubt. IV Ein Mann auf einem Klappsessel, fast in der Hocke, beide Knie angezogen und den Oberkörper leicht nach vorn geneigt, ganz still, man sieht das Atmen kaum, die Augen nicht, obwohl sie offen sind. Kein Standbild. Jemand kauert da, ohne sich zu rühren, kann sein, er hat spätabends die Zoohandlung im Kopf. V Neonleuchten in allen Gehegen. Hier hört man nichts. Verkäufer drücken sich, ihre Entschuldigungen murmelnd, vorsichtig an mir vorbei. Einer sucht nach Regenwürmern in der Büchse, der zweite duscht gerade den verschorften Papagei, ein anderer zieht mit der Küchenrolle durch die Gänge und sammelt Hundekacke auf. Man sieht, wie ihm die Finger abzufrieren scheinen, wenn er in die Hocke geht. Niemand führt mir die Klappohren, die Wüstenkatzen mit ihren frisch geschnittenen Krallen vor. Ich klopfe einfach wahllos an die Scheiben, bis was zuckt. VI Überall Rattengift. Ich stehe da, vor mir im Schrank das Affenarsenal eines Napoleon, Plexiverschläge, Teppich, Stapelware: der lange Orang-Utan, gezähmt, aber noch immer beißig, scharf, der Pavian, ähnlichen Naturells, und dann die Meerkatze aus Übersee. Unten döst ein Mandrill, zurechtgefärbt, im Wachzustand ein Junge mit ner heißen Phantasie. Sein Kraftfutter, und seine Lichtempfindlichkeit. VII Manchmal hört man sein Kreischen, Knabenlachen vorn bis an die Straße. Manchmal greift er sich wie schlaftrunken an den Schädel und scheint im nächsten Augenblick eine ganze Handvoll Gehirnmasse hervorzuholen. Ich seh es nicht genau, er starrt die Kunden an, im Neonlicht wirken ihre Gesichter schmal. VIII Es braucht einen feinen Mädchendiscant, um solche Partien auch vor Zuhörern zu liefern. Naturlaute, nubische Nüsse, Freaks. Mich, Trude Herr, die äthiopische Karawane mit Elefantenschnobern und Giraffen, mit Löwenknirschen in den Käfigen. Entsprungene Tiger. Jemand souffliert den Panthern und Hyänen, jemand fährt mit der Pranke über den Mund, er fährt die übelsten Safaristrecken ab, macht Tiere mit stark entstellten Gesichtern und Gestalten nach. Absonderlich. Die Stimme. Die Ohrwürmer rumoren. Haltungsfehler. IX Palmwein und Punschvulkan. Damals, als man noch balla-balla sagte, völlig ernst, wurde uns beigebracht, die Dialoge einfach wegzurotzen. Als redeten wir unter unsere eigene Achsel. Ein Wort wie Safarifresse etwa muß auf diese Weise gesprochen werden, was immer es auch meinen soll, ein Wort, das niemandem leicht über die Lippen kommt, Safarifresse, wie ein Hosenlatz. Die Klapphockergestalt. X Still ist es. Es ist kalt. Ich glaube, daß es Panther gibt, ich glaube, daß es Bären gibt, ich glaube, daß die Klapperschlange giftig ist. So spricht jemand, aber die Zunge schlägt nicht ans Gebiß, die Lippen zittern nicht, der Mund wird auch nicht von der Hand verdeckt. Seine Hände sind nicht zu sehen, Hände sind nicht da. XI Mit Mückenstichen. Dicke Finger. Er sah Timbuktu und sah Samarkand, den Niger und den Nil, die Wälder Afrikas. Und Schilf, wie kann man soviel Schilf gesehen haben, in keinem Atlas, in keinem Geschichtsbuch finden sich ähnlich wilde Ufer. Aber er sah die Palmenhaine Libyens und die Sahara, Nubiens Sonnenfeuer, Mauretanien. Er hat die sandigen Flammen der Wüste von Äthiopien gesehen, die roten, schwarzen Sonnen, Schilf und Mücken, die sich von aufgedunsenen Händen nicht erschlagen ließen, nirgendwo. XII Wenn die Kontakte kommen, suche ich gleich nach einem kleinen Finger, der mir alles sagt. Bergfilme kenn ich schlecht. Nächste Frage. Man kann sich gar nicht sattsehen an dieser Haut, am Schurz, an diesen Zähnen. Aber auch ich, verrät die Photographin, habe mein Giftfläschchen immer dabei, so macht das hier jeder Knabe. Hier, diese Filmdose ist präpariert. Ein Griff. Oder ein Bild. Man muß die Dinge sauber auseinanderhalten. XIII Wer kratzt uns dann die alten Nubaposter von der Wand, wenn wir erledigt sind, wenn wir genug gesehen haben. Die Haut wirkt wie durchleuchtet, Schneegesichter, keine Farbe. Wer wird von Leichen sprechen. Und wer wäscht uns dann die Haare, wer knipst noch einmal meine Augen, meine Augen, meine Augen. Fort. XIV Ich lege Tigerschminke auf, ich spiele Punschvisage, ich schalte die Musik zum Kindermachen an. Berdoa, Hannibal, Gothland, beiseite. Ich möchte mir einen Nickipullover überziehn, es riecht nach Katzenpisse in meiner Erinnerung. Vom Nebenzimmer her Geräusche, jemand spricht, Kindheit, fahr hin samt deinen Kindern, fast eine Stimme, wie wenn Tapetenstreifen reißen. Mein Nachtgeschirr, mein Bauernbrei, wem gehört dieses fade Affengesicht, und wem dieser schielende Blick. Still, es ist ja der Wandkalk, ein leichter Hyänenschaden. Marcel Beyer geboren 1965, lebt in Dresden. Neben Prosa und Essays erschienen von ihm zuletzt die Gedichtbände Falsches Futter (Suhrkamp 1997) und Erdkunde (DuMont 2003).
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