Andreas Platthaus'
VENTIL No. 11
David B.: Babel
Die geringe Präsenz von David B. in deutschen Verlagsprogrammen und Buchregalen ist ein Skandal, denn mittlerweile ist klar, daß der 1959 in Nîmes als David Beauchard geborene Zeichner zu den wichtigsten Vertretern einer Revolution des Erzählens im Comic zählt, die gegen die meist linear aufgebauten Geschichten das Prinzip einer extremen Subjektivität setzt, die aus Träumen und Erinnerungsfetzen ihre disparate Struktur gewinnt. Immerhin aber haben die Edition Moderne und Reprodukt schon vor etlichen Jahren jeweils einen Einzeltitel publiziert ("Der Tengu" und "Das bleiche Pferd"), doch keine Spur von Übersetzungen der wirklich wichtigen Titel, als da wären "Les 4 savants", "Les Chercheurs de trésor" und vor allem "L’Ascension du haut mal", das sechsbändige bisherige Chef-d’oeuvre David B.s, das immerhin schon ins Englische übersetzt worden ist und in Frankreich eine immense Auflagenzahl erreicht hat, die im Verlag L’Association nur noch von Marjane Satrapis "Persepolis" übertroffen wurde.
Immerhin hat der Avant-Verlag nun einen dritten Titel auf deutsch zugänglich gemacht. "Babel" ist eine neue Arbeit von David B., geschaffen für eine internationale Koproduktion in mehreren Sprachen. Das besondere Interesse, daß dieses nur zweiunddreißigseitige Album für sich beanspruchen darf, wird sich indes nur demjenigen erschließen, der auch "L’Ascension du haut mal" gelesen hat. Denn David B. hat Teile des autobiographischen Inhalts dieses Zyklus in "Babel" noch einmal erzählt, teilweise bis in die Bildkompositionen hinein. Kern seiner Erzählung ist wieder die als persönliche Katastrophe empfundene epileptische Erkrankung des älteren Bruders. Doch während sich "L’Ascension du haut mal" nahezu ausschließlich der Verarbeitung der Folgen des Schocks widmet, den die im Familienjargon "großes Übel" genannte Krankheit ausgelöst hat, verquickt "Babel" dieses Zentralmotiv des David B.schen Schaffens mit der Aneignung seiner spezifischen Ästhetik durch die konsequente Aufzeichnung von Träumen. Die stark orientalisch geprägte Bilderfindung des Zeichners, die in der opulenten Farben- und Formenpracht der "Chercheurs de trésor" ihren bisherigen Höhepunkt gefunden hat, wird hier auf ihre Wurzeln zurückgeführt: einen Traum von Dschingis Khan. Dazu erzählt David B. vom Initialerlebnis des Kriegs um Biafra im Jahr 1968, den er als Neunjähriger im Fernsehen verfolgt hat. Die Deformierung der Hungernden und der gräßlich zugerichteten Leichen der Opfer hat seine Spiegelung in den expressionistischen Darstellungen gefunden, die David B. mit seinem Werk in die Nachfolge von Art Spiegelmans "Prisoner from Hell Planet" eingereiht haben. Doch er hat sich nicht auf einen Leitstil festgelegt, sondern vermischt die Elemente nahöstlicher Buchminiaturen, expressionistischer und fernöstlicher Holzschnitte und der präkolumbianischen Reliefkunst.
Aus alldem entsteht wundersamerweise nicht eine eklektizistisch-ästhetische Bedeutungshuberei, sondern ein Gesamtkunstwerk, das als eines der persönlichsten Werke des gegenwärtigen Comics gelten darf. Dadurch wird es zwar keine graphische Prägekraft entfalten, denn jeder Versuch der Nachahmung kann nur peinlich enden, aber die erzählerische Kraft, die in den bedingungslos subjektiven Visionen steckt, macht David B. zu einem Autor, der weit über den Comic hinauswirken wird.