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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen





Juli 2005
Andreas Platthaus
für satt.org


Georges Abolin, Olivier Pont, Jean-Jacques Chagnaud:
Jenseits der Zeit

Aus dem Französischen von Martin Budde
Carlsen Verlag, Hamburg 2005


Georges Abolin, Olivier Pont, Jean-Jacques Chagnaud: Jenseits der Zeit

205 S., vf., geb.
29,90 €
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VENTIL:
1: Mawil: Wir können ja Freunde bleiben

2: Emmanuel Moynot: L'Enfer du jour

3: Yoann, Vermot-Desroches, Sfar, Trondheim: Donjon Monsters 5,6

4: Jason: Hey, warte mal …

5: Anke Feuchtenberger, Katrin de Vries: Die Hure H | Diceindustries: Rimini Redux

6: Joann Sfar: Le Chat du Rabbin 3: L’Exode

7: Ulf K.: Titus von Götheborg | Uli Oesterle: Hector Umbra. Der halbautomatische Wahnsinn

8: Craig Thompson: Carnet de Voyage

9: Moebius, Stéphane Cattaneo: Beautiful Life

10: Neil Gaiman, P. Craig Russell: Mordmysterien

11: David B.: Babel

12: Baru: Wut im Bauch


Andreas Platthaus'
VENTIL No. 13




Georges Abolin,
Olivier Pont,
Jean-Jacques Chagnaud:
Jenseits der Zeit

Das Vorsatzpapier wirft bereits seine Schatten voraus: Der Blick geht nach oben, doch dort ziehen dunkle Wolken. "Jenseits der Zeit" hat zwei große Akteure, das Meer und eben den Himmel. Und beide sind selten eindrucksvoller koloriert worden. Jean-Jacques Chagnaud ist der wahre Meister unter dem Trio, das "Jenseits der Zeit" geschaffen hat, auch wenn auf dem Buchrücken und im Autorenverzeichnis nur Georges Abolin und Olivier Pont als Szenaristen und Zeichner genannt werden.

Chagnaud indes verdankt sich die Stimmung der Geschichte, und ohne ihn wäre nicht viel mehr in Erinnerung geblieben als eine mit stark amerikanischem Stileinschlag gestaltete und leicht klischeehaltig erzählte Handlung. Doch wie hier mit Blau und Grün gezaubert wird, zwischen die sich die kubistisch-braungrauen Formen der ligurischen Steilküste schieben, die sich verzweifelt bemüht, ihren Bewohnern jenen Halt zu bieten, der sie davon abhalten könnte, immer wieder neu ihre Zuflucht in Meer und Himmel zu suchen – das beweist eine Delikatesse, die selbst im mit subtilen Koloristen überreich gesegneten Frankreich nicht an der Tagesordnung ist. Und, wie man im zweiten Teil des Buches sieht, nicht einmal innerhalb einer einzigen Geschichte. Denn wenn sich die Handlung von Italien nach Costa Rica verlagert, geht alle Magie des mediterranen Lichts zwangsläufig verloren, und mit ihm stirbt auch der Reiz, den "Jenseits der Zeit" für hundert Seiten entfalten konnte.

Diese erste Hälfte berichtet aus der Kindheit eines Kinder-Quartetts: Der zehnjährige Engländer William siedelt 1906 mit seiner Familie in das italienische Fischerdorf Barellito um, wo der unternehmungslustige Vater in einem ererbten Strandhaus im großen Stil Fischfang betreiben will. Bei den Einheimischen erregt die Ankunft des dafür erworbenen Dampfbootes keine Freude, denn sie fürchten um die Grundlage ihres jahrhundertealten Broterwerbs. Deshalb lebt die englische Familie weitgehend isoliert. Nur William findet bei der exaltierten Lisa, dem gutmütigen Nino und dem aufbrausenden Paolo Anschluß. In gemeinsamen Séancen, die durch Lisas Beschwörungen und abenteuerliche Tabakmischungen kollektive Visionen heraufbeschwören, wird die Freundschaft vertieft, und als herauskommt, daß alle vier am selben Tag geboren wurden, dringt ein mystisches Element in ihr Kinderspiel ein, das seinen Ausdruck in flammend rot eingeschobenen Erinnerungsfetzen findet, die auf längst vergangene Schicksale anderer Menschen verweisen.

Wieder ist es die Farbgebung, über die also erzählt wird. Und die biographischen Bruchstücke wirken in ihrer Intensität und Brutalität umso verstörender, als sie auf einem schwarzen Fonds präsentiert werden, der die sommerlich-strahlenden Seiten des restlichen Comics gewaltsam aufbricht. Doch schnell geht es nach den rätselhaften Visionen wieder zurück in das glühende Fischerdorf, wo sich die Feindschaft der Einheimischen bis zu Brandanschlägen und Mord steigert. Am Ende des ersten Teils zerbricht daran der kleine Freundeskreis der Kinder. William wird mit seiner Familie wieder fortgehen, Lisa nach einem Schicksalsschlag nicht mehr dieselbe sein. Die vier sollen sich zwanzig Jahre lang nicht sehen.

Mit ihrer Wiedervereinigung setzt der zweite Teil ein: Auf Bitten Lisas versammeln sich die Freunde noch einmal, um ihr bei den Nachforschungen nach einem jungen Maler zu helfen, mit dem sie liiert gewesen ist, bevor er sie verlassen hat, um in Costa Rica auf Goldsuche zu gehen. Die Seelenverwandtschaft des ursprünglichen Quartetts droht über der Leidenschaft, die Lisa für den Maler hegt, zu zerbrechen, denn sie betrachtet ihn als Fünften im Bunde, dessen bevorstehende Ankunft sie bereits zwanzig Jahre vorher angekündigt hatte. Dennoch brechen die vier gemeinsam nach Mittelamerika auf, wo sie die Spur des Malers verfolgen, bis sie ihn in einer verlassenen Goldgräberstadt schließlich finden. Dort klärt ein Erinnerungsschub angesichts der Gräber einer ermordeten Familie das Geheimnis der engen Freundschaft, ihrer Visionen und der Rolle des Fünften auf.

Man müßte gar nicht so zurückhaltend in der Andeutung der Auflösung sein, denn sie zählt nicht zu den Stärken des Buches. "Jenseits der Zeit" verliert im zweiten Teil mehr als nur den Farbenzauber des Beginns. Die Akteure büßen – notgedrungen – ihre kindliche Naivität ein, doch damit ist auch die so geschickt angedeutete wechselseitige Eifersucht der Jungen angesichts der sprunghaften Gunst Lisas verloren. Im zweiten Teil kann sich diese unterschwellige Rivalität nicht mehr entfalten, weil Lisas Liebe zu Thomas alle drei zu chancenlosen Bewunderern macht. Darüberhinaus kann die Geschichte keinerlei Zeitgefühl mehr vermitteln. Sicher – Kinder sind für einen Zeichner simpler auf ein bestimmtes Alter festzulegen als Erwachsene, aber was der Fortsetzung vor allem fehlt, ist das Gespür für die Epoche. Das ligurische Fischerdorf war durch Details wie das Automobil von Williams Vater oder die Drohung der nun auch hier einsetzenden Industrialisierung zeitlich genau bestimmt; für die Costa-Rica-Episode kann man diesbezüglich bestenfalls den Passagierdampfer anführen, auf dem Lisa, William, Paolo und Nino die Überfahrt machen, doch schon die Kleidung der Akteure könnte eher aus den neunziger Jahren stammen als aus den Zwanzigern, und auch sonst gibt es keine zeitliche Verankerung mehr. Bezeichnend, daß dieses eingebüßte Gespür für den Rahmen des Geschehens just in dem Moment wieder zurückkehrt, als sich die Geschichte ganz am Schluß noch einmal nach Ligurien begibt. Doch da ist durch ein Übermaß an Emotionen und Dramatik alles das schon zerstört, was der Italienteil so geduldig aufgebaut hatte.

Daß indes ein Album wie "Jenseits der Zeit" überhaupt in Deutschland erscheinen kann, darf als Sensation gelten. Natürlich hat daran die Gefälligkeit der Graphik ebenso ihren Anteil wie die Vielzahl von in die Handlung eingewobenen Sehnsuchtsmotiven. Doch ein dreißig Euro teurer Band, für dessen Lektüre man ein paar Stündchen einkalkulieren sollte, das ist nicht, was wir angesichts der monotonen Rede von der hiesigen Absatzkrise frankobelgischer Comics noch erwartet hätten. Zudem ist die Übersetzung hervorragend gelungen, so daß hier tatsächlich einmal voreilig war, wer, behext durch das grandiose Cover, den Band schon aus Frankreich mitgebracht haben sollte. Schön, daß man sich nicht mehr sicher sein kann, bestimmte Dinge niemals auf dem deutschen Markt zu sehen.