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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




28. Dezember 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org

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Kinostart Dezember 2012


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Life of Pi

Life of Pi
Schiffbruch mit Tiger
(Ang Li)

Originaltitel: Life of Pi, Buch: David Magee, Lit. Vorlage: Yann Martel, Kamera: Claudio Miranda, Schnitt: Tim Squyres, Musik: Mychael Danna, mit Suraj Sharma (Pi Patel, 17 Jahre), Irrfan Khan (Pi Patel, erwachsen), Tabu (Gita Patel), Rafe Spall (Schriftsteller), Gérard Depardieu (Koch), 125 Min., Kinostart: 25. Dezember 2012

Seit Sense & Sensibility ist Ang Lee ein Regiesuperstar, der sich mit Literaturverfilmungen wie The Ice Storm oder Brokeback Mountain mehrfach bewährte, und zwischenzeitig vor keinem Sujet oder Genre zurückschreckte, sei es der Western (Ride with the Devil), die Marvel-Superhelden-Effektshow (The Hulk) oder die Rückkehr des geborenen Taiwanesen zu südostasiatischen Spektakeln (Crouching Tiger, Hidden Dragon oder Gefahr und Begierde).

Auf dem Papier war er somit die perfekte Wahl für Life of Pi, einer in Indien spielenden Literaturverfilmung mit hohem Effekt-Spektakel-Anteil, denn ein großteil des Buches spielt vom Überlebenskampf des jungen Pi Patel, der sich - der deutsche Buchtitel hat es gespoilert - mitten auf dem Ozean ein Rettungsboot mit einem Tiger teilt. Es mag sogar theoretisch möglich sein, diese Passagen mit einem richtigen Tiger aufzunehmen, aber nur ein wahnsinniger Regisseur (oder Produzent) hätte sich auf derlei eingelassen, seit Jean-Jacques Annauds L'Ours (der in der Dramaturgie weitaus mehr Improvisation ermöglichte als eine Bestsellerverfilmung, bei der etwa jeder zehnte Kinobesucher die Vorlage zumindest »angelesen« hat) wurden reale Tiere (und Animatronics) immer mehr von CGI-Effekten in den Hintergrund geschoben, und man kann attestieren, dass die Effekte hier erstaunlich nahe an der Realität sind, selbst in den Sequenzen, wo Tiger, Orang-Utan und Hyäne wirklich komplizierte Bewegungsabläufe abverlangt werden.

Die eigentliche Geschichte dreht sich um den zunächst jungen Pi, der seinen außergewöhnlichen Namen dem französischen Wort für »Swimming Pool« (piscine, vgl. Romy Schneider) verdankt, was für englischsprachige Banausen natürlich ganz wie das »Urinieren« klingt, und um sich dieses Spottnamens zu erwehren, muss Pi schon in jungen Jahren Kreativität und Beharrlichkeit beweisen. In seiner Geschichte, die er einem Schriftsteller mit Schreibblockade erzählt (Rafe Spall, der noch vor kurzem den Shakespeare darbot, hat seinen Babyspeck verloren und wirkt hier fast wie Bradley Cooper), geht es weiter um eine junge Liebe und seine Faszination für einen Tiger im väterlichen Zoo. Wie das Drehbuch es will, kommt es dann zum unvermeidlichen »Schiffbruch mit Tiger«, und schon beim Schiffsuntergang muss man natürlich an James Camerons Titanic denken, doch, was für mich dann auch schnell etwas ärgerlich wurde, die Bonbonfarben, in die schon Cameron gerne seine Sonnenauf- oder Untergänge kleidete, werden auch hier über Gebühr verwendet.

Im Verlauf des Martyriums auf See gewöhnt man sich dann langsam an die immer spektakuläreren visuellen Extravaganzen, doch die Dramaturgie überzeugt nicht immer (wofür der Film eine Ausrede parat hat), insbesondere die sich jeweils artig durch Zeigen der Rückenflossen ankündigenden Haie werden von einer Gefahr für die Überlebenden auf dem Rettungsboot schnell zu einem Ärgernis für die Zuschauer. Im Grunde genommen ist das Ganze nur eine aufgeblasene Version der Fabel vom Skorpion und der Schildkröte (bzw. des Frosches): Beide Tiere wollen einen Fluss überqueren, der Skorpion will »huckepack« genommen werden, das andere Tier befürchtet natürlich, gestochen zu werden, doch der Skorpion beruhigt, denn dadurch würde er ja selbst ebenfalls jämmerlich ersaufen. Dieser Logik kann man sich nur schwer verschließen und so schafft es die Lebensabschnittsgemeinschaft bis zur Hälfte des Flusses, ehe der Skorpion zusticht, schlichtweg, »weil es seine Natur ist«. Ende der Geschichte. Bei Life of Pi würde der Tiger durch das Verspeisen des Menschen nicht automatisch seinen schwimmenden Untersatz verlieren, aber der Mensch zeigt durchaus Talent beim Heranschaffen von Nahrung (vor allem fliegende und andere Fische), und als Navigator ist er vielleicht auch nicht komplett unnütz (was die Katze aber natürlich nicht kapieren würde). So bleibt die Frage, inwiefern der Tiger (mit menschlicher Unterstützung / »Dressur«) gegen »seine Natur« ankämpfen kann, doch weil wir die Geschichte ja aus dem Mund Pis hören, ist das Überleben dieser Figur relativ sicher (und es fehlt ihm offenbar auch kein Arm oder Bein). Erst spät in dem nicht eben kurzen Film erschließt sich dem Zuschauer ohne Kenntnis des Buches, dass die Titanic-Purpurhimmel und sonstigen visuellen Spektakel (davon werden sicherlich einige Zuschauer schwärmen) durchaus ihre Berechtigung haben, denn die Geschichte, die einen Großteil des Films ausmacht, ist nur eine »Version« der Geschehnisse, und eine wahrscheinlichere, aber grausamere Variation bekommen wir dann in ca. acht Sätzen vorgetragen, ohne die geringste visuelle Unterstützung - und sowohl der Schriftsteller auf der Suche nach einem Romanentwurf als auch übertragen der Zuschauer soll sich dann entscheiden. Dass die Wahl aufgrund gänzlich unterschiedlicher Vortragsweisen unfair ist, wird nie thematisiert, dem Zuschauer wird einfach unterstellt, er bevorzuge die märchenhafte Bonbongeschichte, die ihm soeben für sein Kinoticket mit Überlängen- und 3D-Aufschlag feilgeboten wurde. Zu Weihnachten mag das sogar stimmen, aber es bleibt dennoch ein kleiner Betrug, ähnlich wie der in etwa drei Minuten abgehandelte Kurzauftritt von Gérard Depardieu (angesichts der überschaubaren Zahl menschlicher Figuren fast noch gerechtfertigt, wie sein Auftritt umworben wird, aber wer tatsächlich für den Franzosen ins Kino geht, wird sich sehr betrogen fühlen).

Was den Film in meinen Augen noch ein wenig auszeichnet, ist die Art und Weise, wie es anfänglich um Religion(en) geht, der Film diesen Mumpitz dann aber ziemlich aus den Augen verliert. Es hätte noch viel schlimmer kommen können ...

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Große Erwartungen

Große Erwartungen
(Mike Newell)

Originaltitel: Great Expectations, UK / USA 2012, Buch: David Nicholls, Lit. Vorlage: Charles Dickens, Kamera: John Mathieson, Schnitt: Tariq Anwar, Musik: Richard Hartley, mit Jeremy Irvine (Pip), Helena Bonham Carter (Miss Havisham), Holliday Grainger (Estella), Jason Flemyng (Joe Gargery), Ralph Fiennes (Magwitch), Robbie Coltrane (Mr. Jaggers), Ewen Bremner (Wemmick), Sally Hawkins (Mrs. Joe), Sophie Rundle (Clara), David Walliams (Uncle Pumblechook), Toby Irvine (Young Pip), Helena Barlow (Young Estella), Jessie Cave (Biddy), Bebe Cave (Young Biddy), 128 Min., 13. Dezember 2012

Allzu viel sollte man von diesem Film nicht erwarten. Von den bekannten klassischen britischen Autoren ist Charles Dickens einer, der nicht unbedingt gereift ist wie ein guter Wein, ganz im Gegenteil, nicht wenige seine Bücher wirken heutzutage veralteter als manches, was Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zuvor verfasst wurde. Dennoch wird er immer wieder gern verfilmt, zuletzt etwa von Robert Zemeckis (A Christmas Carol), Roman Polanski (Oliver Twist) oder Douglas McGrath (Nicholas Nickleby). Great Expectations gab es nicht nur erst letztes Jahr als BBC-Fernseh-Serie, auch die letzte große Kinoverfilmung von Alfonso Cuarón (1998) war mit Ethan Hawke, Gwyneth Paltrow und Robert De Niro nicht nur hochkarätiger besetzt - das war einfach ein viel stimmigerer Film, der durch seine Modernisierung dem Roman neue Facetten verleihen konnte - ihm quasi Leben einimpfte.

Regisseur Mike Newell (Four Weddings and a Funeral, zuletzt aber auch Prince of Persia) delektiert sich in einer um eine Viertelstunde erweiterter Laufzeit unter anderem daran, wie sich Helena Bonham Carter ganz wie in den Rollen, die sie bevorzugt für Tim Burton spielt, wie der schwindsüchtige Schatten des Geistes eines Zombies durch ungemütliche Gemäuer quält. Wohlgemerkt, in ihrer Rolle geht es um nichts Übernatürliches und die Geschichte hat zwar ein paar Schauerelemente und eine größtenteils wolkenverhangene Atmosphäre, aber verglichen damit ist selbst A Christmas Carol ein echter »Schocker«. Der junge Jeremy Irvine (bekannt aus Spielbergs War Horse) agiert reichlich blutleer, Sally Hawkins (die weitaus mehr kann) spult dasselbe Programm ab wie vor kurzem in Jane Eyre, Robbie Coltrane und Ralph Fiennes sind auch eher unterbeschäftigt, Newcomerin Holliday Grainger (die mich sowohl an Julianne Moore als auch an Kate Winslet erinnert, wie verrückt das auch klingen mag) gibt sich immerhin redlich Mühe, und Jason Flemyng als Joe, der offensichtlichen Vaterfigur für Pip (1998 von Chris Cooper gespielt) fällt noch am positivsten auf.

Daran ändert auch Drehbuchautor David Nicholls nichts, der nach seinen drei zeitgenössischen Romanen im RomCom-Umfeld nunmehr auf Klassikeradaptionen abonniert zu sein scheint, seine BBC-Version von Thomas Hardys Tess of the D'Urbervilles war aber (trotz einiger Einschränkungen) weitaus gelungener. Was aber auch einfach an dem unübersehbaren Detail liegen kann, dass Thomas Hardy und Charles Dickens sich bezogen auf Qualität und Erfolg etwa so zueinander verhalten wie Christian Petzold und Bully Herbig (okay, das war unfair Dickens gegenüber, ich meine den Regisseur Herbig auf der Höhe seines Schaffens, zu Zeiten von Der Schuh des Manitu).

Die für mich spannendsten Momente des Films waren eine Spielerei mit einem Traum im Traum (persönliches Interessengebiet) und eine Vorleseszene, in der meines Erachtens Frankenstein vorgelesen wurde (es waren nur zwei Sätze oder so), womöglich diese Stelle: »I saw the dull yellow eye of the creature open«. Findet man so nicht bei Dickens, passt aber nicht nur literaturhistorisch bestens und evoziert natürlich den von Fiennes gespielten Magwitch. Wenn man aber um die Ecke denkt, schließt sich der Kreis auch noch, und zwar durch die Filmgeschichte, denn diese Figur wurde bei Cuarón von Robert De Niro gespielt, der bekanntlich auch mal die »Kreatur« in Kenneth Branaghs Frankenstein-Version darstellte. Diese Art von Cleverness hätte ich gern öfter im Film entdeckt, aber es war ein wenig wie bei Michel aus Lönneberga: eine große Schüssel Pudding, und nur eine einzige Nuss (oder was das damals war) ist da drin versteckt.

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Lola gegen den Rest der Welt

Lola gegen den
Rest der Welt
(Daryl Wein)

USA 2012, Originaltitel: Lola Versus, Buch: Daryl Wein, Zoe Lister Jones, Kamera: Jakob Ihre, Schnitt: Suzy Elminger, Susan Littenberg, Musik: Fall on your Sword, mit Greta Gerwig (Lola), Joel Kinnaman (Luke), Zoe Lister Jones (Alice), Hamish Linklater (Henry), Bill Pullman (Lenny), Debra Winger (Robin), Maria Dizzia (Woman Subletter), Jonathan Sale (Fantasy Bar Guy), Ebon Moss-Bachrach (Nick), Adriane Lenox (Professor), 87 Min., Kinostart: 13. Dezember 2012

Seit einigen Jahren treten sie gehäuft auf, doch auffallen dürften sie fast nur Kritikern oder Filmfreaks, die nicht penibel vorsortieren, sondern fast alles schauen: Etwas linkisch daherstolpernde Independent-Beziehungskomödien, die weder den Humorteil dergestalt ausbauen, dass man nach dem Kinobesuch auch sicher ist, in einer Komödie gewesen sein. Noch mit ihren Einsichten über Beziehungen dem Zuschauer das Gefühl geben, etwas dazugelernt zu haben. Ich meine nicht die Mumblecore-Filme, die schon rein stilistisch ihre Existenzberechtigung verdient haben, sondern Filme, die einen eigentlichen Stil eher vermissen lassen, hierbei aber ausreichend gelackt daherkommen, dass es nicht ausgeschlossen scheint, dass Mainstream-Zuschauer, die nur auf der Suche nach einem abendlichen Entertainment sind, sich in diese Streifen verirren könnten.

Auf den ersten Blick hin wirken diese Filme manchmal auch relativ hip, gedreht von jungen Filmemachern, mit ausreichend bekannten Schauspielern, Komödien laufen momentan generell ziemlich gut, und in Zeiten von Judd Apatow ist man ja geneigt, auch mal was Neues auszuprobieren. Und so landet man dann in einem Film wie Greenberg oder Cyrus und erlebt manchmal anderthalb Stunden wie im alltäglichen Leben: wenige Höhen, wenige Tiefen, wenig, an was man sich drei Tage später noch erinnern kann, und vor allem wenig, was als - ja, wieder das böse Wort - Existenzberechtigung eines solchen Films herhalten kann.

Greta Gerwig (die mir zuerst in Greenberg auffiel und offenbar mehr als ich darüber weiß, was an diesen Filmen so besonders sein könnte) spielt hier die 29jährige Lola, die eben noch ihr Hochzeitskleid anprobierte, ehe ihr Verlobter sie darüber aufklärt, dass die Heirat ausfällt, und die daraufhin ihr Leben neu strukturieren muss. Ihr zur Seite stehen ein bester Freund mit Potential, mehr zu sein, eine unbekümmert promiske beste Freundin (Drehbuch-Koautorin Zoe Lister Jones), die auf Dating-Seiten den Nickname »Letmebeyourhole1« verwendet (»Letmebeyourhole« war schon vergeben), und auch der Ex-Verlobte verschwindet nicht völlig aus ihrem Leben, das nun von psychiatrischen Sitzungen, Essstörungen und dem Wiedereinstieg in die Welt der Dates und One-Night-Stands geprägt ist.

Der deutsche Verleihtitel lehnt sich an die »Werbestrategie« des Films an (Tagline: Lola vs. Sex, Love, Lola, The World.), erinnert aber auch an Scott Pilgrim, wobei in beiden Fällen eine der tiefsten Einsichten sein könnte, dass es, wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen zu haben scheint, im Endeffekt vielleicht einfach nur an jedem selbst liegen könnte. Auch Diktatoren und Geisterfahrer stellen dies ja mitunter fest.

Wie nichtig (wenn auch nicht schlecht) dieser Film ist, kann man auch sehr gut daran erkennen, dass sich von den sechs gelungeneren Gags des Films, die ich in meinen spärlichen Aufzeichnungen festgehalten habe, gleich fünf im Trailer (den ich zuvor nicht kannte) wiederfinden. Und so manch einer wird schon überfordert sein, im Trailer überhaupt fünf witzige Stellen auszumachen.

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Du hast es versprochen

Du hast es versprochen
(Alex Schmidt)

Deutschland 2012, Buch: Alex Schmidt, Valentin Mereutza, Kamera: Wedigo von Schultzendorff, Schnitt: Andreas Radtke, Musik: Marian Lux, mit Mina Tander (Hanna Merten), Laura de Boer (Clarissa von Griebnitz), Lina Köhlert (Lea Merten), Mia Kasalo (Marie), Katharina Thalbach (Gabriela), Max Riemelt (Marcus), Clemens Schick (Johannes Merten), Thomas Sarbacher (Tim), Greta Oceana Dethlefs (Hanna Merten, 9 Jahre), Alina Sophie Antoniadis (Clarissa von Griebnitz, 9 Jahre), Anna Thalbach (Gabriela, jung), 102 Min., Kinostart: 20. Dezember 2012

Eine der betreuenden Presse-Agenturen dieses Films hat sich tatsächlich nicht entblödet, ihn mit anderen »bedeutenden« Regiedebüts wie Spielbergs Duel oder Tarantinos Reservoir Dogs in eine Reihe zu stellen. Nur schade, dass Alexandra »Alex« Schmidts Debütfilm weit davon entfernt ist, irgendjemanden mit dem inszenatorischen Talent der Newcomerin zu begeistern.

Der Anfang des Films ist noch am vielversprechendsten, den über eine komplexe Parallelmontage deutet er eine (womöglich übernatürliche) Verbindung an zwischen Hanna und Clarissa, zwei sehr unterschiedlichen Frauen, die vor einem Vierteljahrhundert mal beste Freundinnen waren. Zur Insel, auf der beider Familien damals ihre Urlaube verbrachten, kehren die beiden zurück, und Hannas siebenjährige Tochter Lea ist dem horrorkundigen Zuschauer schnell als potentiell gefährdet im Auge (und ich meine nicht die Überfahrt mit der komplett kinderuntauglichen Reling). Hanna und Clarissa waren damals beide neun Jahre alt und es gab noch ein Mädchen von der Insel, das bei den Erkundigungen der beiden dabei war - offenbar ist die Tochter der Fischverkäuferin Gabriela (Katharina Thalbach) damals ums Leben gekommen. Viel mehr braucht man nicht für diesen Film: Einen gruseligen Keller fernab der Zivilisation, eine Brunnenluke, einige Geheimnisse, rachlüstige Inselbewohner und eine wackelige Freundschaft zwischen angeblich psychologisch ausgearbeiteten Figuren.

Da deutsche Filme sich nur selten an Horror-Themen wagen, wird offenbar eine gewisse Milde von den Kritikern erwartet. Doch ich wüsste abgesehen von der bei US-Produktionen wahrscheinlich leicht zu engagierenden spezialisierten Crew keine Gründe, warum man sich in Deutschland an diesem Thema so schwer tut. Abgesehen von Anno Sauls Die Tür fällt mir in den letzten zehn Jahren nichts deutsches, halbwegs horrormäßiges ein, was ich empfehlen würde. Und Du hast es versprochen fand ich sogar erstaunlich langweilig. Die Fischerinsel und die unterschiedlichen Freundinnen hätten Potential gehabt, doch stattdessen reihen sich nur Versatzstücke aneinander: Ein bisschen Gothic Novel, ein bisschen koreanisch/japanischen Einschlag, dann wieder handfeste Kämpfe in Splattermanier, und nebenbei noch eine kleine Romanze, wobei natürlich der gutaussehende Inselbursche immer suspekt bleibt. Und wenn sich dann alles aufklärt, ändert das an der Langeweile keinen Deut.

Die Inszenierung ist immerhin atmosphärisch stimmig, aber bis sich jemand den Namen dieser Regisseurin voller Vorfreude auf das nächste Werk einprägt, muss eindeutig mehr kommen.

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End of Watch

End of Watch
(David Ayer)

USA 2012, Buch: David Ayer, Kamera: Roman Vasyanov, Schnitt: Dody Dorn, Musik: David Sardy, mit Jake Gyllenhaal (Officer Brian Taylor), Michael Peña (Officer Mike Zavala), Anna Kendrick (Janet), Nathalie Martinez (Gabby), America Ferrera (Officer Orozco), Frank Grillo (Sarge), Cody Horn (Officer Davis), David Harbour (Van Hauser), Maurice Compte (Big Evil), Richard Cabral (Demon), Yahira Garcia (LaLa), 109 Min., Kinostart: 20. Dezember 2012

David Ayer schrieb das Drehbuch zu Training Day, arbeitete an The Fast and the Furious und S.W.A.T. mit, und bei Harsh Times und Street Kings führte er auch bereits zweimal Regie. Somit gilt er jetzt als Action-Spezialist und Experte für die Straßen von Los Angeles, da ich von den oben genannten Filmen nur Training Day (gräßlich) und S.W.A.T. (überflüssig) kenne, waren meine Erwartungen eher gering.

Im Presseheft überschlägt man sich mit sensationellen Pressezitaten, z. B.

»The shaky camera work - often a gimmicky stylistic option - is an effective choice here, both as a story element and a technique.«
»End of Watch is one of the year's best with extraordinary award-caliber performances from Jake Gyllenhaal and Michael Peña.«

Zu dumm, dass diese Zitate aus der »USA Today« und dem »Boxoffice Magazine« stammen - nicht unbedingt Publikationen, auf deren Urteil ich mich verlasse.

Was bei diesem »realistischen« und »ehrlichen« Portrait der Polizeiarbeit besonders »innovativ« sein soll, ist die Idee, die Geschichte größtenteils über In Polizeiautos installierten und von den Figuren bedienten Kameras zu erzählen. Man spricht im Presseheft tatsächlich wieder mal über den falsch verstandenen Begriff des »found footage«, obwohl End of Watch sich von Filmen wie Apollo 18, Blair Witch Project oder Cloverfield (ich nenne das »fake found footage«) schon dadurch unterscheidet, dass der Film zwar zu Beginn umständlich erklärt, dass Officer Taylor (Jake Gyllenhaal) seinen Polizeialltag (verbotenerweise) aufzeichnen will, man dieses Prinzip aber dauernd aus den Augen verliert. Ab und zu gibt es noch Einstellungen, die zumindest vage so aussehen, als könnten sie von den vorhandenen Kameras stammen (oft genug passt aber auch das nicht), doch dann gibt es auch immer wieder Gegenschüsse, die unerklärt bleiben und einfach darauf beruhen, dass man seinem Publikum nur eingeschränkt zutraut, trotz dieses Erzählmittels den Überblick zu behalten. Und das ist wahrscheinlich auch gar nicht so dumm, denn das Publikum besteht größtenteils aus Action-Fans, für die es im Gegensatz zu mir nicht um inszenatorische Mittel oder gar politische Aussagen geht.

Denn noch schlimmer als der verpatzte Kamera-Ansatz (wenn alles etwas verwackelt ist, braucht man sich weniger um Details kümmern) ist die politische Aussage des Films. Hier kämpfen zwei größtenteils »ehrliche« Polizisten unabsichtlich schnell gegen ein übermächtiges Kartell, doch was mir vor allem auffiel, ist das Detail, dass man in L.A. offenbar gegen jede polizeiliche Regel verstoßen kann, weil ÜBERALL schlimmste Verbrechen vorgehen. Aus einem Hausbesuch wird eine halblegale Hausdurchsuchung: Kindermisshandlung beendet; aus fadenscheinigen Gründen wird ein Auto angehalten: Drogen und Waffen werden gefunden; Trotz Verbot aus der Führungsetage untersucht man Adressen: Menschenhandel offengelegt. Diese beiden Polizisten würden wahrscheinlich selbst, wenn sie eine Katze aus dem Baum holen sollen, dort eine terroristische Bombe finden. Dass die Bösewichte fast durchgehend Latinos sind, kaschiert man, indem eine der Hauptfiguren ebenfalls diesen Migrationshintergrund hat.

Dann folgt gegen Ende des Films eine weitere Konzession an das Publikum (wer sich dazuzählt, sollte jetzt aufhören zu lesen): das wahrscheinlich bescheuertste Happy-End seit einiger Zeit - natürlich streng kaukasisch und mit nachfolgender ehrenhafter Beerdigung des tapferen Kameraden. Es gab nicht vieles an diesem Film, was noch schlimmer hätte sein können (sehr bezeichnend auch, wie ein weiblicher Rookie zunächst von allen wie Dreck behandelt wird, und man sich dann später grämt, ihren Namen nicht zu wissen), und es ist kaum zu fassen, dass dieser äußerst rechte Streifen während der Regierung Obama gedreht wurde - zu Bush oder Reagan hätte er besser gepasst.

Die beste Szene des Films ist übrigens eine Tanzszene zwischen Jake Gyllenhaal und Anna Kendrick, doch da Gyllenhaal (zum zweiten Mal seit Jarhead mit Glatze) diesen erzreaktionären Mist auch noch co-produziert hat, gibt es dafür keine mildernden Umstände.

Laut End of Watch können sich Polizisten in L.A. übrigens eine Menge Schreibarbeit ersparen, indem sie die Täter erschießen (kein Witz, es gibt im Film so einen Dialog), und ich muss zugeben, ich hätte als Kritiker zumindest diese Wahl auch gern mal. Manche Filme gehören einfach erschossen, die haben keinen Prozess verdient.

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Maniac

Maniac
(Franck Khalfoun)

USA / Frankreich 2012, Buch: Alexandre Aja, Grégory Levasseur, Kamera: Maxime Alexandre, Schnitt: Baxter, Musik: Rob, mit Elijah Wood (Frank), Nora Arnezeder (Anna), Liana Balaban (Judy), America Olivo (Franks Mutter), Sammi Rotibi (Jason), Genevieve Alexandra (Jessica), Morgane Slemp (Jenna), Sal Landi (Detective), Megan Duffy (RedLucie86), Jan Broberg (Rita), Steffinnie Phrommany (Stephanie), 89 Min., Kinostart: 27. Dezember 2012

Das Original zu diesem Remake, William Lustigs gleichnamigen Film aus dem Jahre 1980, habe ich nie gesehen. Und ich hege auch kein tiefes Bedürfnis, dies nachzuholen, denn ich kenne jetzt ja das Remake, und offensichtlich ist das in vielerlei Hinsicht sogar besser. Fast den kompletten Film aus den Augen des Killers zu zeigen, ist eine ganz nette Idee, die die seit Halloween und Friday the 13th aus dem Genre nicht mehr wegzudenkenden POVs fast zur veritablen Filmkunst emporheben. Wohlgemerkt, ich sagte »fast«.

Das Original war seinerzeit billig heruntergedreht, verglichen damit wirkt das Remake wahrscheinlich fast classy. Die hochartifizielle subjektive Kamera, die Besetzung des Killers mit Elijah Wood (der dadurch ganz sicher nicht die Probleme von Karlheinz Böhm erleiden wird), jede Menge Anspielungen auf Klassiker des Horrorfilms (aber auch auf Taxi Driver), eingestreute Referenzen auf die Hochkultur vom Cabinet des Dr. Caligari bis zu Ave Maria, und die seltsame Mischung aus modernem Ambiente und dem Zeitkolorit des Originals, wie man sie ähnlich im Remake von Die Vorstadtkrokodile und Tarantinos Death Proof erlebte: Hier gibt es eine vermutlich 1986 geborene RedLucie86, die gleich neben ihrem passablen Plasmafernseher eine Stereoanlage, bestehend aus Plattenspieler und Cassettendeck, stehen hat (wohlgemerkt, ohne CD-Spieler, somit wahrscheinlich auch ca. aus dem Jahr 1986 stammend), auf dem sie dann eine LP abspielt, mit eben jenem Song Goodbye, Horses, den man in The Silence of the Lambs im Verlies von »Buffalo Bill« hört. Da kommt dann alles zusammen: Zeitkommentar, Hommage mit Anspielung und Ironie (denn sie legt damit natürlich den Soundtrack ihrer eigenen Hinrichtung auf), geheimnisvoller Fast-Anachronismus. Oder zusammengefasst: »Ja, dieser Film schockt, aber das ist Kunst!« So soll das Publikum jedenfalls denken.

Nach dem Film hörte ich noch einige Stimmen anderer Kritiker, darunter eine stattliche Zahl von Horror-Gourmets, die einerseits natürlich das Original nicht abqualifizieren wollen, andererseits aber betonen, wie viel schlüssiger das Remake ist, in dem man nicht nur im Dunkeln jemand mit einem Gummimesser rumfuchteln sieht (Tom Savini hin oder her), sondern wo ja auch die Motivation des Killers durchdachter wirkt, bla bla bla …

Sorry, aber in der Mathematik gibt es gewisse Gesetzmäßigkeiten: Wenn man die Null mit 12 multipliziert, bleibt es eine Null. Und wenn man gar eine »minus Eins« mit 12 malnimmt, wird daraus sogar minus Zwölf. Das Remake mag zwölfmal besser sein als das Original, aber dadurch wird aus einem hingeschluderten, fahrigen, billigen und zutiefst frauenverachtenden »berüchtigten« Streifen nicht plötzlich Filmkunst oder auch nur ein guter Film. In meinen Augen ist das Remake eher noch verwerflicher, weil die gelackte, ach so kunstvolle Version wahrscheinlich allen Ernstes Kontroversen oder zumindest Diskussionen erzeugen wird, ich aber der Meinung bin, dass dieser Film mit Ausnahme der Make-Up-Effekte vielleicht (und ich kann auf ein gefühltes halbes Dutzend in Großaufnahme skalpierter Frauen getrost verzichten) schon allein handwerklich ziemlich Banane ist. Die subjektive Kamera hat man beispielsweise in jenem Prodigy-Video (Smack your bitch up) besser gesehen, hier gibt es gefühlt alle sechs Minuten einen nicht immer gelungenen Schwenk in eine reflektierende Oberfläche (darunter natürlich der obligatorische zerschlagene Spiegel, der die Psyche symbolisiert), wo Elijah Wood ausdrucksarm in die Kamera starrt. Aufgelockert wird das Ganze durch ca. zwei bis drei Minuten Visionen (um eine American-Psycho-Diskussion anzufachen, »was ist Vision und was echt?«) oder Flashbacks (alles Nutten, und Mami war die Schlimmste), und zwischenzeitig (oder bei der komplett überflüssigen Schlusseinstellung) vergisst das Filmteam auch mal für ein paar Augenblicke das Inszenierungsprinzip des Films. Die Musik ist teilweise unerträglich (John Carpenter an einem schlechten Tag gekreuzt mit Italoschrott, der damals ebenfalls bei zyx-Records erschien), und alles, was man dem Film auf diese Art vorwirft, zeigt ja nur, dass man es nicht verstanden hat. Die Musik soll natürlich auch unerträglich sein, die Psychologie hanebüchen, die Gewalt verherrlicht und die kranke Sexualität eben durch Impotenz begründet (und gleichzeitig fast noch verharmlost). Dass die psychologische Unterfütterung des Films bereits Mitte der 1960er ausgelutscht war, ist natürlich auch wieder naseweise Absicht.

Maniac ist Dreck. Hochpolierter, durchdachter Dreck, erbarmungslos oder ironisch (je nachdem, wie abgehärtet das Publikum ist). Und wer dem Film Frauenfeindlichkeit vorwerfen will, muss mindestens fünf Semester Gendertheorie studiert haben, sonst kommen die akademischen Verteidiger, die über Sean S. Cunningham promoviert haben und wetzen ihre Rhetorik.

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Demnächst in Cinemania 87:
Französische Filmwoche, Teil 2. Kritiken zu Après mai, Camille redouble, Laurence Anyways, Der Mondmann, My Way - Ein Leben für den Chanson, Le tableau, Willkommen in der Bretagne.