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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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Mascha Kurtz
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Juni 2002
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- daily kurtz -


Mittwoch, der 12. Juni 2002


Land 5

Nach einiger Zeit sehe ich Dinge, die vorher nicht dazusein schienen. Meine Blicke haben das Schöne abgenutzt, jetzt tritt hervor, über was sie bisher hinwegsahen.

Aus den Kanälen strömt ein übler Geruch und hüllt die Obstbäume ein. Die Laterne am Ortsausgang steht schief, so oft ist schon jemand dagegen gefahren, im Suff vielleicht oder aus Langeweile. Vor der Garage der freiwilligen Feuerwehr stehen die Glascontainer. Abends stehen Autos daneben, sie glänzen wie Muscheln, ihre Spoiler schneiden die Luft. Aus dem Anbau dringt Musik.

Die Häuser haben kleine Fenster, da drin muss es sehr dunkel sein. Die Rasen sind kurzgeschnitten, Koniferen bewachen die Zäune.

In den Brennesseln neben der Straße liegen tote Katzen. Die Spoiler-Autos fahren schnell. Sie wollen weg, dahin, wo was los ist. Wo was los sein könnte. Neben den Baumstümpfen an der Straße stehen Holzkreuze.

Die Katzen haben es schwer. Hinter den Zäunen warten Hunde. Schäferhunde, Dobermänner und Rottweiler. Sie springen an den Gittern ihrer Zwinger hoch, sie kläffen, die Körper verdreht vor Wut. Ihre Besitzer verbergen sich in den Häusern. Abends geht früh das Licht aus.

Ein alter Mann sitzt den ganzen Tag in seinem Garten auf einem Plastikstuhl. Er sitzt an der Schuppenwand, daneben seine Krücken. Er legt sich ein Sitzkissen unter. Manchmal steht er auf uns zieht sich auf Krücken durchs Dorf. Die Knöpfe springen von seiner blauen Arbeitsjacke. Er sieht auf den Boden und spricht mit keinem.

Die anderen im Dorf benutzen jede Gelegenheit, mit Fremden zu sprechen. Sie erzählen ihnen alles über sich. Sie lassen die Fremden nicht gehen. Wer sich verabschieden will und such ein paar Schritte entfernt, um den Weg fortzusetzen, reden sie einfach weiter. Manchmal räumt jemand die toten Katzen im Straßengraben weg. Die Hunde bellen. Die Katzen in den Feldern räumt niemand weg. Sie liegen da, und die Krähen fliegen tief.

Manche Dorfbewohner hausen in den Überresten ehemaliger Höfe. Sie leben zwischen Gerümpel und alten Landmaschinen. Mit weißer Farbe schmieren sie ihre Namen auf die Mülltonnen. Vor der Garage rollen die Kinder mit den Fahrrädern im Kreis. Wenn sie über die Bordsteinkante fahren, reißen sie den Lenker hoch. Die Kinder tragen Trainingshosen aus dem Kleiderdiscount und haben feiste, rote Gesichter oder schmale, blasse. Ein Junge kickt einen Fußball über einen Zaun, klettert hinterher, holt den Ball, klettert zurück und schießt den Ball wieder über den Zaun. Endlos wiederholt er das, bis seine Mutter ihn zum Essen ruft.


 
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