Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen

satt.org
Mascha Kurtz
für satt.org



zum Vortagzum Folgetag

Juni 2002
Mo Di Mi Do Fr Sa So12
3456789
10111213141516
17181920212223
24252627282930

Mai '02: daily knoerer
April '02: daily wien
März '02: daily schreiber
Februar '02: daily stahl
Januar '02: daily wagner
Dezember '01: daily willmann


daily satt
- daily kurtz -


Samstag, der 1. Juni 2002


Stadt 1

Ich bin schon zu lange in der Stadt. Sie kreist mich ein. Der Horizont bleibt unsichtbar hinter den Häusern. Ich kann nicht sehen, wohin ich laufe. Gebäude schieben sich in mein Blickfeld. In der Luft hängen Gerüche nach alten Möbeln und nach Staub. In den Vorgärten stehen Wäscheständer. Die Häuser enden nur, wenn ich den Kopf in den Nacken lege. Der Himmel liegt auf den Dächern. Die Fassaden stoßen mich zurück. Meine Hand gleitet über Stein, Glas, Metall. Das Material der Stadt ist künstlich. Asphalt schlägt gegen meine Füße. Die Stadt prägt sich mir ein. Am Straßenrand gibt es Bäume in kleinen Quadraten aus Erde. Im spärlichen Gras ruht Hundescheisse. Autos kreisen um eine Insel aus Gestrüpp, niedrig wachsende Monokultur. Bierdosen und Papierfetzen schmücken die Zweige Die Luft riecht nach verbranntem Gummi. Die Autos kreisen, einer leert seinen Aschenbecher während der Fahrt, Asche treibt über die Straße. Die Zigarettenstummel bilden ein Muster auf dem Teer. Neugierige Tauben fliegen herbei. Sie haben auf den Dächern gelauert. Sie picken nach den Stummeln. Als sie erkennen, dass es nichts zu fressen gibt, flattern sie wieder auf ihre Simse. Kot tropft über den Putz und zerfrisst den Stein. Alle Mauern sind mit weißen Schlieren verziert.

Aus dem U-Bahn-Schacht weht ein kalter Wind, dem anzumerken ist, dass er im Dunklen entsteht. Ich kneife die Augen zu. Die Treppe führt mich tief in die Erde, zwischen Rohrleitungen und Abwasserkanäle. Leute warten auf dem Bahnsteig mit Gesichtern die sich nach innen wenden. Alle sehen geradeaus, auf die Werbeplakate jenseits der Gleise. Der Kiosk auf dem Bahnsteig hat von sieben bis 21 Uhr geöffnet. Auf einem Ständer hängen Wundertüten und Spielzeugpistolen. Ein Mann kauft zwei kleine Flaschen Jägermeister. Er steckt sie in die Jackentasche. Der Zeitungsverkäufer spricht in sein Handy, während er kassiert. Der Mann mit den zwei Flaschen Jägermeister in der Tasche verlässt den Kiosk ohne Gruß. Der Zeitungsverkäufer hält sich den ganzen Tag im Dunklen auf. Im Winter sieht er niemals Tageslicht.


 
satt.org