daily satt
- daily knörer -
15. Tag: Nicolaiviertel (Mitte)
Besichtigung: Mittwoch, 15.5., 16 Uhr 15 bis 16 Uhr 45
Diesmal habe ich ein bisschen gemogelt. Auf dem Weg zur Niederlagstraße vorm Außenministerium kam ich, vom Alexanderplatz her, am Nicolaiviertel vorbei und wusste sofort, N ist N, Straße hin, Straße her, dass ich diesen wahrscheinlich absurdesten Ort Berlins nicht einfach links liegen lassen darf. Eingekeilt zwischen Marx-Engels-Platz vorne und brausendem Verkehr hinten, zwischen Rotem Rathaus zur linken und Spree zur rechten, liegt das, was die Touristendesinformation gern das älteste Viertel Berlins nennt. Historisch gesehen nicht falsch, aber schon der erste Schritt hinein sorgt für wilde Zeitschwindelgefühle.
Das ganze Viertel war, fast ohne Ausnahme, im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, ein Restchen von der Kirche stand noch (deshalb steht jetzt auf der Tafel: das älteste erhaltene Gebäude Berlins), den Rest durfte man sich denken. Vom Denken zur Tat schritt nicht lange vor ihrem Ende die DDR und errichtete das alte Viertel neu. Nun aber, da es an Geld wie an Mut fehlte, weder authentisch noch kritisch, sondern mit den vorhandenen Plattenbaumitteln pseudohistorisch. Jetzt stapft man durch Filmkulissen und kann es nicht fassen, dass die Touristen durch diese Pappmachéfilmkulissen tapsen und den Talmi für bare Münze nehmen. Das Nicolaiviertel ist ein Disneyland Berlinischer Vergangenheit, aber wie entworfen von einem, der sich von einem, der jemand kannte, der die Hefte mal gelesen hat, hat erzählen lassen, wie Donald und Dagobert und Mickey ungefähr aussehen. Das hat er dann gebaut.
Was man im Nicolaiviertel als historisch präsentiert bekommt, hat es so nie gegeben - und das ist vom ersten Blick an augenfällig. Richtig kontextualisiert, ist das ganze ein riesiger Spaß, aber die Prätention, man erlebe hier den Abglanz des real thing, verkauft den geneigten Betrachter - den Japanern kann man's ja erzählen - für abenteuerlich dumm. Das wahre Abenteuer freilich ist der Vertigo-Effekt, den das volle Bewusstsein der totalen Einmaligkeit dieses Zeit-Raum-Gefüges verursacht, heftig gesteigert, noch einmal, dadurch, dass das zombiehafte Fortdauern dieses Ortes ein doppeltes ist: als rekonstruierte Pseudo-Vergangenheit zum einen, als kaum begreifliche Ab- und Anwesenheit zugleich der untergegangenen DDR, die sich mit dem Nicolaiviertel ihr wohl bizarrstes Denkmal gesetzt hat.