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10. März 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Beale Street (Barry Jenkins)


Beale Street
(Barry Jenkins)

Originaltitel: If Beale Street Could Talk, USA 2018, Buch: Barry Jenkins, Lit. Vorlage: James Baldwin, Kamera: James Laxton, Schnitt: Joi McMillan, Nat Sanders, Musik: Nicholas Britell, Music Supervisor: Gabe Hilfer, Kostüme: Caroline Eselin-Schaefer, Szenenbild: Mark Friedberg, Make-Up: Doniella Davy, Frisuren: Kenneth Walker, mit KiKi Layne (Tish Rivers), Stephan James (Alonzo »Fonny« Hunt), Teyonah Parris (Ernestine Rivers), Regina King (Sharon Rivers), Colman Domingo (Joseph Rivers), Brian Tyree Henry (Daniel Carty), Dave Franco (Levy), Aunjanue Ellis (Mrs. Hunt), Michael Beach (Frank Hunt), Emily Rios (Victoria Rogers), Pedro Pascal (Pietro Alvarez), Finn Wittrock (Hayword), Ebony Obsidian (Adrienne Hunt), Dominique Thorne (Shelia Hunt), Diego Luna (Pedrocito), Ed Skrein (Officer Bell), 119 Min., Kinostart: 7. März 2019

[Hinweis: nach Captain Marvel meine zweite Kritik in Folge, in der ich fast überhaupt nicht über den Inhalt der jeweiligen Filme spreche. Als vermarktungskonformer Leser-Service nicht unbedingt hilfreich (offenbar gibt es ja Leute, die im Vorfeld genau wissen wollen, was sie handlungstechnisch in einem Film erwartet), aber als spoilerarme Qualitätseinstufung IMHO begrüßenswert. Und mal wieder ziemlich autobiographisch, so viel zur Warnung...]

Früher, als ich noch häufiger ganz normal für Kinobesuche bezahlt habe, gab es Filme, die mich so verzückt habe, dass ich manchmal innerhalb kürzester Zeit ins Kino pilgerte. Etwa zu Memento oder Dancer in the Dark (Grüße an die damaligen Begleitungen Benjamin, Franziska und Sabine). Mittlerweile gehe ich nur noch selten »normal« für Geld ins Kino (Arsenal-Ausflüge mal nicht mitgezählt), wenn ich die PV verpasst habe (oder sie mal wieder nur in Synchro stattfand) und ich dennoch das Gefühl habe, dass es nicht ausreicht, darauf zu warten, bis man den Film auf DVD (und somit deutlich preiswerter als einen Kinobesuch) bekommt. An dieser Stelle sollte ich noch kurz einstreuen, dass ich aus einer Kinosozialisierung stamme, wo ich für das Kinoticket oft nur vier bis sechs DM zahlte (fürs Fahrgeld in kinotaugliche Städte deutlich mehr) und ich mir Filme, die mir viel bedeuteten, gerne auf englischsprachiger VHS oder NTSC-Laserdisc bedeutete (und dafür ganz fix mal 40-70 DM hinblätterte). Dadurch habe ich eine Wertschätzung für DVDs entwickelt, die in keinem Verhältnis zur Problematik steht, die Sammlung irgendwo in der Wohnung unterzubringen (Bücher und Comics nehmen ein Vielfaches an Platz ein).

Zu den letzten Filmen, die ich zweimal als Pressevorführung sichtete (in den wenigsten Fällen hängt das mit logistischen Erwägungen zusammen), gehören in der angegebenen Reihenfolge Frozen, Her, The Fault in Our Stars, The Grand Seduction, Petting Zoo, Sicario, The Diary of a Teenage Girl, Ente gut! Mädchen allein zu Haus, Ah-ga-ssi, Golden Exits, Weirdos, Lou, Lady Macbeth, Unga Astrid und zuletzt If Beale Street Could Talk (Hinweis: längst nicht bei allen Filmen wird einem diese Option geboten und im Gegensatz zu einigen wenigen etwas seltsamen »Kollegen« - in Hamburg nennt man sie Maskottchen - würde ich das nicht vorwiegend für den Zeitvertrieb und das Freigetränk machen, sondern bemühe mich, den Verleihern und Agenturen dafür auch etwas zu bieten - beispielsweise mehrere Text-Publikationen.)

Beale Street (Barry Jenkins)

© Tatum Mangus / Annapurna Pictures / DCM

Für den uneingeweihten Leser ist nicht unbedingt ersichtlich, welche dieser Filme zu meinen jeweiligen Jahres-Lieblingen gehören (z.B. Her, Weirdos, Unga Astrid), bei welchen ich meine Erinnerung noch mal auffrischen musste (Ente gut! Mädchen allein zu Haus, The Diary of a Teenage Girl), bei welchen ich mehrere Texte schrieb (Petting Zoo, Lady Macbeth) und bei welchen ich zwischendurch die Buchvorlage las (The Fault in Our Stars, Ah-ga-ssi). In erstaunlich vielen Fällen treffen mehrere Gründe zu (keine Aufschlüsselung an dieser Stelle). Bei If Beale Street Could Talk sind es Grund 1, Grund 3, aber leider nicht Grund 4 (wird noch nachgeholt!). Aber vor allem Grund 5: Manche Filme werden bei der zweiten Sichtung einfach (noch) viel besser! (u.a. auch Memento, Elephant, Unga Astrid).

Ich bin ja bekannt dafür, an vermurksten Details herumzumäkeln. Bei If Beale Street Could Talk gab es eine Szene, die mich beim ersten Mal sehr verwirrte, bei der die Zweitsichtung den »Inszenierungsfehler« bestätigte ... und ich im Nachhinein zu dem Schluss kam, dass diese »Schwäche« des Films eher zu seinen Stärken gehört.

Barry Jenkins ist u.a. dafür bekannt, dass er herkömmliches Filmmaterial als quasi »rassistisch« bezeichnet, weil er sich nur durch die Möglichkeiten der digitalen Aufzeichnung und der Farbbearbeitung in der Lage sieht, die filigranen Nuancen dunkler Hautfarben adäquat wiederzugeben. Entsprechend ist Jenkins auch ein Regisseur, der unglaublich viel Arbeit in jede Einstellung, fast jedes einzelne Frame steckt. Das konnte man schon bei Moonlight beobachten, in If Beale Street Could Talk ist es noch auffälliger. Die Szenenbilder, die Kostüme, die Musik, die kleinen Details (Rheingold-Bierflaschen), die Kameraführung, die Lichtsetzung ... Jenkins macht einen Kinobesuch zu einem Fest, bei dem man sich fast nicht sattsehen kann.

CBeale Street (Barry Jenkins)

© Tatum Mangus / Annapurna Pictures / DCM

Und dies meist mit einer Subtilität, die nur wirkliche Meisterregisseure auszeichnet. Wenn er dann mal beim handwerklich-künstlerisch tätigen Fonny den Scheinwerfereinsatz übertreibt oder ich in der Szene, wo das junge Paar als zukünftige Wohnung ein Loft besichtigt, bei dem die Lichtflecken auf dem Fußboden ums Verrecken nicht mit der Lichtsituation ein Einstimmung gebracht werden können, schier verzweifle, so ist dies kein Fehler, sondern Kunst - in dem Sinne, wie Kubist Picasso absichtliche »Fehler« in seine Gemälde einbaut.


*Auf unglaublich umständlich formulierte Weise wird hier impliziert, dass die Filmemacher (ja, ich denke auch die Frauen mit!) sowohl die deutschsprachige Ausgabe der Romanvorlage kennen als auch besonders das deutschsprachige Publikum im Auge haben bzw. hatten - denn in den USA lief der Film natürlich schon 2018 im Kino. Solch eine verfälschende »Eindeutschung« nervt mich einfach!

Das Kino von Barry Jenkins beherrscht beides: die absichtlichen »Fehler«, die oft auch nur etwas betonen sollen (das artifizielle Sonnenlicht hat hier viel mit Glück und Erfüllung zu tun); und die feinen Nuancen, die man fast mit der Lupe betrachten sollte. Im Presseheft (in dem auch Blödsinn steht wie der Satz »In der Spielfilmadaption von Beale Street Blues wollen die Schauspielerinnen und Schauspieler und die Crew die Romanfiguren und ihre Geschichte für ein Publikum im Jahr 2019 wiederbeleben.«*) erklärt etwa die für das Make-Up zuständige Doniella Davy, dass die Fingernägel der Hunt-Schwestern davon zeugen, dass sie für ihre Maniküre Zeit und Geld aufwenden, die die Rivers-Familie eher in Gefängnis-Besuche und die Anstellung eines Anwalts investiert. Das sind Details, die mir selbst beim fünften Ansehen nicht aufgefallen wären. Das zeigt aber auch, wie viel Jenkins und seine Crew sich darauf konzentrieren James Baldwins Buch adäquat auf die Leinwand zu bringen.

Beale Street (Barry Jenkins)

© Tatum Mangus / Annapurna Pictures / DCM

Die Erzählerstimme von Tish ist rein filmisch nicht jedermanns Sache, aber auch, wenn man das Buch nicht gelesen hat, kann man hier (und bei der ganzen Familiensituation) zumindest erahnen, wie viel mehr hier noch in der notwendigerweise verkürzten und fokussierten Vorlage zu entdecken ist.

'Nuff said!

Beale Street (Barry Jenkins)

© Tatum Mangus / Annapurna Pictures / DCM

Na gut, eines noch: Einer der kleinen Höhepunkte bei der ProSieben-Übertragung der Oscarverleihung war im Vorfeld ein kleines Gespräch auf dem roten Teppich, wo Steven Gätjen es Spike Lee gegenüber schaffte, nach einem »schwarzen Trend« im aktuellen Kino zu fragen - und er nennt dabei BlacKKKlansman, Black Panther und Green Book, versäumt es aber If Beale Street Could Talk zu erwähnen, weshalb Lee ihn erst mal darüber aufklärt, dass das nicht geht und er lieber jenen einen Film (Green Book) ihm gegenüber nicht erwähnen sollte. Ich bin jetzt keiner der Leute, die Green Book dissen und habe mich auch noch nicht entschieden, ob einer der beiden vielleicht mein Lieblingsfilm des Jahres werden könnte, aber unabhängig davon, ob man so militant wie Spike Lee auftreten will oder nicht: am Oscar-Abend vor einem potentiellen Milliarden-Publikum (okay, den deutschsprachigen Anteil davon) seinen eigenen Film nicht weiter zu erwähnen und stattdessen If Beale Street Could Talk uneigennützig ins Zentrum des Gesprächs zu rücken - das gibt einem einen ungefähren Einblick davon, wie wichtig dieser Film für die black community ist. Und zwar mit vollem Recht! Und ob man selbst schwarz, weiß, grün oder blau ist: Dieser Film hat mindestens so viele Zuschauer verdient wie Black Panther (ich persönlich würde aber auf unterschiedliche Weise alle vier genannten Filme empfehlen).