Der dritte Wohnzimmerclub ist fett gefüllt mit allerfeinstem Stoff. Tolcha, Ascii.Disko, Codec & Flexor, Ex-Bastardpopper DJ Shir Khan und die britischen Hot Chip werden für lange durchtanzte Nächte sorgen. Bemerkenswert ist dieses Mal nicht nur die Häufung deutscher Acts (ob das die Art von Musik ist, an die die Deutschquoten-Befürworter wohl gedacht haben …hihi), sondern auch die Wiederbelebung totgeglaubter Styles wie Dub und Two Step. Weiter unten im Text gibt Jan Simon Spielberger (Shir Khan, Tolcha) Auskunft über seine verschiedenen Projekte – und los geht's:
Daß in den Achtzigern jede Menge tanzbares Material produziert wurde, wird allenthalben wiederentdeckt. Hot Chip aus London machen da keine Ausnahme und sorgen mit The Warning für eins der musikalischen Highlights dieses Frühjahrs. Alexis Taylor, Joe Goddard, Al Doyle, Owen Clarke und Felix Martin sind noch ziemlich jung, gehen extrem unbefangen mit älteren Sounds um und geraten erst gar nicht in den Verdacht, ein Nostalgieprojekt zu sein. Spex kürte ihre zweit Platte The Warning überraschend, aber verdient zum Album des Monats und auch andere Magazine sind des Lobes voll. An vielen (et moi) ging das erste Hot-Chip-Album Coming on Strong vorbei, das wird mit The Warning nicht passieren: Boy from School ist ein perfekter Hit, freundlich, eingängig und mit Klassiker-Charakter wie sonst nur Stücke von Daft Punk oder den Pet Shop Boys. Over and Over ist ein fröhliches House-Stück mit einem Refrain, der nicht anders als mitreißend bezeichnet werden kann, dazu erklingt im Hintergrund eine dufte Hammondorgel. Hot Chip lieben Two Step, Funk, Italodisco, cheesy Synthiepop, aber auch Vorreiter des Elektro wie Can und Kraftwerk. Das alles fließt in ihre Musik ein und macht The Warning zu einem absolut zeitlosen Werk. Ihr Discopop besticht einerseits durch Sanftheit (vor allem durch den Gesang), andererseits offenbaren Hot Chip das für Elektronikfrickler seltene Talent für Popsongs, die schlicht und schillernd zugleich sind.
Auch Sven Zalac und Matthias Freund alias Codec & Flexor orientieren sich mit ihrem Album Killermachine an Achtziger-Wave und -Pop, sind hörbar von Acts wie Gary Numan, Human League und Depeche Mode beeinflußt, haben aber durch ihre seit mehreren Jahren bestehende Zusammenarbeit eine eigene Linie entwickelt. Codec & Flexor balancieren zwischen Mainstream-Appeal und Club-Expertentum und fallen nirgends runter. Hämmernde, schrengelnde Sequencer wie bei Nothing to Hide kontrastieren mit den darkwavigen Synthieloops von Welcome und zeigen so, wie mühelos Codec & Flexor verschiedenste Stile verarbeiten.
Killermachine klingt keineswegs so brachial, wie der Albumtitel vermuten läßt: die 12 Tracks sind durchweg clubtauglich und tanzbar, gelegentliche Störelemente machen klar, daß hier Grenzen überschritten werden; Elemente zusammengebracht werden, die erstmal nicht zusammenpassen wollen. Das synthie-clubbige Surface of Sorrow ist dem vor drei Jahren verstorbenen Christian Morgenstern (Forte Rec.) gewidmet und nimmt durch seine liebevolle Wärme sogar dem Tod den Schrecken.
Ascii.Disko startet ebenfalls mit einer Achtzigerjahre-Synthie-Reminiszenz, der erste Track des neuen Albums Alias, Closer hätte auch 1987 in einer Wavedisco erklingen können. Danach geht es aber definitiv härter zur Sache. Daniel Holc (= Ascii.Disko) mixt Elektro und Rock, erinnert manchmal an Martin Peters Enough of This?!, der die Liebe zur deftigeren Gangart mit ihm teilt. Auf Alias erklingen ausschließlich synthesizererzeugte Sounds, zur geraden Bassdrum wird ordentlich geloopt, gefiept, geknarzt und geblubbert. Dazu kann man vortrefflich kopfnicken und biertrinken, aber auch steil abgehen. „hey hey hey“ singt Holc auf Hey - seine Aufforderung zum Tanz, der man sich nicht entziehen sollte! Baphomet ist treibend, EBM-artig bratzend. Schön auch der Songtitel Your Art Is Dead And So Are You, was beides auf Ascii.Disko in keinster Weise zutrifft.
Zwischen Tolcha und DJ Shir Khan bestehen trotz unterschiedlicher musikalischer Schwerpunkte enge Verbindungen. DJ Shir Khan ist Mitglied bei Tolcha, deren neue Platte Gestalt bei Meta Polyp erscheint; gleichzeitig ist aber auch ein neues Khan-Werk namens I Can See Your Tiger Stripes herausgekommen. Jan Simon Spielberger a.k.a. DJ Shir Khan gibt satt.org Auskunft – in seiner eigenen Schreibe.
Kurzes Entwirrungsspiel:
Shir Khan ist Mitglied bei Tolcha, als DJ aber eigenständig. Der Sound von Tolcha und Shir Khan ist grundverschieden.
Tolcha vermitteln ein apokalyptisches Endzeitbild, welches sich musikalisch zwischen Electronica, Dub, Minimal und Post-Hiphop bewegt.
Shir Khan gilt als deutsches Gegenstück zu den Too Many DJs, die sich um Genregrenzen nicht kümmern und den DJ-Mix als solchen auf ein höheres Niveau gelegt haben und vielleicht so auch als Kunstform verewigen. Letztlich zählt aber der Entertainmentfaktor. Shir Khan sieht sich nicht als Bastardpop-DJ, sondern als einen eklektischen DJ, denn Bastardpop in seiner Urform ist tot. Die Form der Editierung, des Überblendens und Zitierens wird bei Shir Khan auf ein weiteres Level gehievt und lebt nur noch von kleinen Versatzstücken, nicht von kompletten Superhits. Diese Zeiten sind vorbei.
Tolcha hat definitiv einen internationalen Sound - das mag wohl daran liegen, daß bei den Vocals nur mit englischen Muttersprachlern zusammengearbeitet wurde. Damit macht man sich international konsumierbar und Amerika schielt gerade auf all diese kleinen innovativen neuen Acts aus Berlin, die irgendwie so gar nicht nach Berlin klingen. Es gibt in Berlin durchaus ein kleines vitales Netzwerk, das vielleicht auf Wien erweiterbar ist. In Berlin gibt es: The Tape (kitty-yo), Jahcoozi (kitty-yo), Data mc, Modeselektor (bpitch), DJ phon.o (bpitch), DJ Maxximus, Jake the Rapper (combination) - in wien gibt es al-haca (klein/meta polyp), Stereotyp (g-stone), Megablast (g-stone). Teilweise gibt es unter diesen leuten einen recht regen Austausch - man beeinflusst sich gegenseitig, auch wenn man nicht Tag für Tag miteinander abhängt, oder nicht jeder mit jedem down ist. Tolcha ist ein ursprüngliches Bandprojekt, welches in ein Studioprojekt übergegangen ist. Danach findet wieder eine Liveumsetzung statt, die auf Bühnen getestet wird und auf Grund der Publikumsreaktion stets verbessert werden kann. Außerdem arbeiten Tolcha mit selbstgebauten Videos, die synchron zur Musik gesteuert werden. Der visuelle Aspekt ist also sehr wichtig bei den Liveshows. Internationale Vorbilder für Tolcha sind: unsere family - al-haca, Stereotyp, Jahcoozi, The Tape …aber auch Sonic Youth, Primal Scream, Lee Scratch Perry und Public Enemy. Privat derzeit bei Tolcha auf den Plattentellern: Headman-Album auf Gomma (ja ….Tolcha hat offene Ohren für alles).
Shir Khan ist DJ, der seine langjährige Erfahrung als Club-DJ in seinen Mixen umsetzt. Hier ist der Weg also andersrum. Shir Khan gibt den Leuten das, was sie brauchen, weil er ein sehr gutes Gespür für das Publikum entwickelt hat.
Was mag Shir Khan: alles vom französischen Label Ed Banger, über Releases von Kitsune, Eskimo und Gomma, bis hin zu Minimal Techno á la Matt John und Jackson and his Computerband auf Warp. Tanzen tut Shir Khan gerne zu Soulwax, Digitalism, Justice, Erol Alkan, Glimmers, Optimo, Diplo und Minimal Techno im allgemeinen- derzeit. Das ändert sich aber immer schnell.
Hot Chip und Ascii Disco sind super. Die hören wir auch.