– VII - Make it B-I-G –
Seit der letzten satt.org-Wohnzimmerclub-Ausgabe sind einige Wochen ins Land gezogen. Dass es dieses Mal so lange dauerte, ist zum grossen Teil der Jahresend- und -anfangswirren geschuldet. Man wusste ja gar nicht, was man zuerst vergessen sollte, um Platz für gute Neujahrsvorsätze zu schaffen! Aber nun gehen die Dinge wieder ihren annähernd normalen Gang, die längst überfällige Präsentation aktueller Dance-Highlights ist fertig und etwas umfangreicher als sonst. Glücklicherweise sind einige der im folgenden vorgestellten Exemplare thematisch und inhaltlich für die Ewigkeit konzipiert, so dass Zeit kaum eine Rolle spielt. Wir beginnen mit dem Album, dessen Veröffentlichungsdatum am längsten zurückliegt (ähem) und zwar mit
ESL Remixed
The 100th Release of ESL Music
(ESL Music/Soulfood)
Vor zehn Jahren gründeten Eric Hilton und Rob Garza in Washington DC das Label ESL, benannt nach der Strasse, in der die beiden zusammen bereits einen Club betrieben: Eighteen Street Lounge. Die zwei Cocktailshaker werden durch noch ein weiteres Projekt verbunden, seit ebenfalls zehn Jahren produzieren Garza und Hilton als Thievery Corporation clubbige Loungetracks. Auf dem ESL-Label sollten ursprünglich ausschliesslich Platten der Thievery Corporation erscheinen, aber bald stellte sich heraus, dass die Interessen der Label- und Clubchefs breit gefächert sind und ihnen das eigene Projekt nicht genügt. Stilistisch verwandte Künstler wurden mit offenen Armen aufgenommen. Producer und DJs, die sich wie Garza und Hilton dem Mixen von Jazz mit Blaxploitiationsounds, Break-, Afro- und Latinbeats verschrieben hatten, fanden bald ihr Plätzchen bei ESL Music. Über allen ESL-Aufnahmen schwebt ein smarter James-Bond-Charme, Lounge bei ESL ist nicht langweilig, sondern aufregend und sexy. Zum ESL-Jubiläum – 10 Jahre, 100 Veröffentlichungen - wurden namhafte Produzenten und DJs gebeten, Tracks der Hausbands Thunderball, Nickodemus, Karminsky Experience, Ursula 1000, der Thievery Corporation und einiger anderer zu remixen. Keine Retrospektive also, sondern ein Blick nach vorn, der bewährtes Material als Ausgangspunkt nimmt.
Einige Wochen jünger als das ESL-Jubiläumsalbum ist
Herbert, 100 lbs
(!K7)
(Matthew) Herbert hat 2006 das aufsehenerregende Album „Scales“ veröffentlicht, doch seinen Ruf als Minimal- und House-Experte manifestierte er bereits 1996. Damals brachte er drei EPs heraus, deren Namensgebung allein schon auf seine minimalistische Herangehensweise an House verwies: „Part One“, „Part Two“ und „Part Three“ hiessen die Platten und ergaben zusammengefasst Herberts Debutalbum „100 lbs“, das nun mit einigen zusätzlichen Tracks aus der gleichen Werkphase wiederveröffentlicht wurde. In den zehn Jahren nach „100 lbs“ arbeitete Herbert nicht nur als Herbert, sondern auch unter mannigfaltigen Aliassen, produzierte und remixte Künstler wie Björk, Serge Gainsbourg und REM. Matthew Herbert gelang es immer vortrefflich, in verschiedenen Darreichungsformen zu arbeiten, sein charakteristisch warmer Sound ist zum Markenzeichen geworden. Als mit Techno, Breakbeats und Jungle aggressivere Styles in die Clubs kamen, wollte Herbert laut eigener Aussage „etwas Gemütlichkeit und Bescheidenheit“ verbreiten. „Gemütlichkeit“ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, Wärme und Lässigkeit treffen schon eher, was Matthew Herbert erreichen wollte. Das Wiederhören mit „100 lbs“ unterstreicht nicht nur die stilprägenden Skills des Mr. Herbert, sondern zeigt, dass sich mit „Bescheidenheit“ erzeugte Sounds nicht abnutzen, sondern auch nach Jahren noch frisch klingen. Tracks wie „Rude“, „Desire“ und „Friday They Dance“ bringen heute noch die Clubber zum Tanzen. Die beigelegte Bonus-CD enthält B-Seiten, Raritäten und unveröffentlichte Tracks, bei denen Herbert ewas mehr auf die Tube drückt als auf dem eigentlichen Album. Herbert experimentiert mit Turbo-Acid, jagt die Stimme seiner Liebsten Dani Siciliano durch den Vocoder und fummelt erst- und einmalig mit dem Analogsynthesizer Roland TB-303 herum.
Bar Lounge Classics Bossa
(Comfort Sounds/SonyBMG)
Seit 2001 gibt es die Bar Lounge Classics bei Sony – die mittlerweile zwölfte Ausgabe dieser Reihe hat sich dem Bossa Nova verschrieben. 36 Tracks verteilt auf zwei CDs bieten den schon obligatorisch gewordenen schwelgerisch-verschwenderischen Genuss, den man von den Bar Lounge Classics gewohnt ist. Die Konzentration auf Bossa sorgt auf Dauer zwangsläufig für eine leichte Langeweile – Betonung auf „leichte“, denn alle Stücke sind fluffig, fedrig groovend und sehr smooth. Ausgewählt wurden zum Beispiel Nouvelle Vagues Version von Heaven 17's „Let me Go“, Louie Austens „Can't Stop“, Rosanna & Zélia mit „Azulamento“, die Brasilianerin Kate the Cat mit „Sigh“ und ausgewiesene Bossa-Spezialisten wie Bebel Gilberto und Bobby Brazil. Das Album ist ideal, wenn man Gäste im Haus hat, die noch ein wenig fremdeln. Das freundliche Schwingen des brasilianischen Tanzstils macht auch verknöcherte Zeitgenossen locker. Wen nach soviel gepflegtem Bossa Nova das Gefühl ereilt, endlich richtig auf die Kacke hauen zu wollen, soll diesen Sampler in den Player schieben:
Musick to Play in the Club
(Shitkatapult)
Hier steht drauf, was drin ist: Musick to Play in the Club! Das von T.Raumschmiere gegründete Label Shitkatapult hätte noch den Hinweis „loud“ hinzufügen sollen, aber andererseits versteht es sich von selbst, dass man bratzende Tracks wie Drugbeats „Kill Yourself on the Dancefloor Tonight“ mit Zeilen wie „I'm a Slime / Let's do some Crimes“
aufdreht, bis die Aussteuerungsanzeige dunkelrot glüht. Peter Grummich, Das Bierbeben und Quasimodo Jones steuern der Compilation rechtschaffen krasse Sachen bei, Herr Raumschmiere selbst liefert sich mit Motor eine Elektronikschlacht namens „Krank im Hirn“, Fenin lässt es mit „Batteria“ etwas softer angehen, vertraut aber ebenfalls dem Zauber des repetitiven Loops. Brainwashed, aber guter Dinge kann man nun umgehend zu diesem Herrn übergehen:
Carl Cox, Global
(Pias/Rough Trade)
Carl Cox ist sowas wie der Bouncing Bussi Bär des Techno: Gross, dick, freundlich. Aber der Mittvierziger aus Manchester ist für viele vor allem eines: der beste DJ der Welt. Möglicherweise heisst deswegen dieses Doppelalbum „Global“. Doch der Titel wurde von Cox gewählt, weil hier 27 Tracks zu hören sind, die er im Lauf der letzten Jahre auf der ganzen Welt gespielt und eingesammelt hat. Cox' Roots sind Funk, Soul und Jazz, als einer der ersten HipHop-DJs Grossbritanniens machte er sich bereits Ende der siebziger Jahre einen Namen. Auf „Global“ demonstriert Cox eindrucksvoll die vielfältigen Spielarten von House und Techno, zum Teil lässig und leichtfüssig wie bei Terry Numans „Stimulated“, hypnotisch wie Cytrics „I Need You“ oder deep und stampfend wie „Mono-Logs“ von Eysser, das bezeichnenderweise im „Jussi Pekka Has A Big Dick Mix“ daherkommt. „Coxys“ sprichwörtliche Freude am Deejayen überträgt sich auf die Gemeinde, auch wenn man dem grossen schwarzen Mann nicht beim Hantieren an den Geräten zusehen kann. Zwischen Kopfnicker-Beats, kreiselnden Loops, brutalen Breaks und wirbelnden Melodieschleifen meint man, Carl Cox laut lachen und jubeln zu hören. Action und Energie aus Neuseeland, Brasilien, Kolumbien, Australien und 1000 weiteren Spielorten schwappt mit dieser Doppel-CD auch in die Wohnzimmer von Lüdenscheid und Passau.
Artist Unknown, Present
(Datapunk/Intergroove)
www.artistunknown.de
Artist Unknown aus Berlin gehörten zu den ersten Protagonisten des Minmalelektro-Hypes. Die Zeiten des strengen Minimal sind vorbei, auch für Artist Unknown. Sechs Jahre nach ihrem Debüt „Future“ bringen Artist Unknowm mit ihrem neuen Album gehörig „Butter bei die Fische“, kreieren satte Tracks, die ihre Vorlieben für Kraftwerk, Chicago House und ja – Popsongs – vereinen. Gleich das erste Stück, „Unknown to Millions“ featuret altmodisch fiepende Synthies und vocoderverzerrte Stimmen wie es in den Achtzigern schick war. Doch Artist Unknown stehen mittendrin in der aktuellen Unterhaltungselektronik und lassen die Sounds gehörig clashen und die Bodys rocken. „Present“ klingt sehr berlinerisch, aber die Mauer ist ja längst offen – nach allen Seiten und für die ganze Welt. Das hört man.
„Sag' zum Abschied leise Servus“ - so wehmütig geht es nicht zu auf dem Abschieds-Remixalbum von Chris de Luca und Michael Fakesch a.k.a. Funkstörung. Die beiden haben sich nach achtjähriger Zuammenarbeit in freundlichem Einvernehmen getrennt, um sich fortan ihren Soloprojekten zu widmen.
„Appendix“ ist Resümee und Werkschau zugleich, für diese Compilation wurden Archive durchstöbert, rare Remixes und herausragende B-Seiten zutage gefördert. Der charakteristische Funkstörung-Sound, „funky but distorted“ veredelt Tracks von Spacek, Phon.o, Barry Adamson, Lamb, Björk, Enik oder Towa Tei. Ungewöhnlich, weil man es nicht gleich zusammenbekommt, dann aber umso bestrickender ist der Remix des Raveonettes-Songs „Love in a Trashcan“. Funkstörung zeigen auf diesem Track ihr einzigartiges Talent für De- und Rekonstruktion verschiedener Stile und Sounds. Funkstörung lassen es knacken und knarzen, geben aber jedem Song genug Luft zum Leben und Atmen. Stimmt der Abschied von Funkstörung auch sentimental, es bleibt doch die Aussicht auf weiterhin kreatives Remixen:
www.myspace.com/michaelfakesch
www.myspace.com/chrisdeluca