– XI –
Disco Deutschland Disco.
Disco, Funk & Philly Anthems
from Germany 1975 – 1980
(Marina Records)
www.marina.com
myspace.com/marinarecords
Erinnert sich noch jemand an Silver Convention, Munich Machine oder Ganymed? Auch wenn es heute kaum vorstellbar scheint, gab es während der späteren siebziger Jahre durchaus eine sehr vitale deutsche Discoszene, die zum Grossteil dem Dunstkreis Giorgio Moroders entstammte – „The Sound of Munich“ gebar Discoqueens wie Amanda Lear und Donna Summer, deren Erfolge keineswegs auf Deutschland beschränkt blieben: „I Feel Love“ von Donna Summer oder „Follow Me“ von Amanda Lear wurden Welthits, die auch heute noch die Clubber zum Tanzen bringen. In der ganzen Republik waren Musiker und Producer auf der Suche nach einem deutschen Äquivalent zum erfolgreichen Philly-Sound, die Ergebnisse waren höchst unterschiedlich, die Gratwanderung zwischen Glamour und Dorfdisco gelang nur wenigen ohne Peinlichkeiten: Der hessische Dieter Bohlen-Vorläufer Frank Farian schubste Boney M. in die Hitparaden und kreierte mit dieser „Band“ ein sehr zweifelhaftes Image für Schwarze, Frauen und tanzende Männer. Aber es gab auch andere, stilsichere Versuche, Deutschland auf die Disco(welt)kugel zu setzen – nachzuprüfen mittels des
herrlichen Samplers „Disco Deutschland Disco“, der beim Hamburger Marina-Label erschienen ist. Kompiliert hat Stefan Kassel, Grafikdesigner und Disco-Aficionado, von ihm stammen auch die erhellenden, detailreichen Linernotes. Kassel stellt Discohits aus deutscher Produktion vor, von denen einige als Evergreens durchgehen wie Supermax' achteinhalb Minuten langer Psychedelic-Sex-Trance-Track „Lovemachine“ und Berry Lipmans „Sex World“, aber auch jede Menge Obskuritäten. Zum Beispiel nahmen Big-Band-Leader wie James Last, Peter Herbolzheimer und Carsten Bohn und Filmmusikkomponisten wie Peter Thomas Discoplatten auf, die erstaunlich groovy, pompös und tanzbar klingen – auch heute noch. Und wer würde SchlagersängerInnen wie Veronika Fischer, Christian Anders und Su Kramer auf einer solchen Compilation vermuten? Diese drei experimentierten genauso mit Funky Music wie Marianne Rosenberg, deren „Er gehört zu mir“ in den letzten Jahren hauptsächlich bei Gay-Parties zu neuen Ehren kam. Auf „Disco Deutschland Disco“ ist sie mit „Wieder zusammen“ vertreten, einem Schmachtfetzen, der das frisch vereinte Pärchen ohne Umschweife auf den Tanzboden zerrt. Ganz nebenbei: es ist völlig unverständlich, weshalb Su Kramers feministische Emanzipationshymne „You've Got the Power“ nicht schon längst das totgenudelte „I Will Survive“ abgelöst hat. Aber vielleicht erlebt „You've Got the Power“ eine Renaissance, vorausgesetzt, jemand nimmt „Disco Deutschland Disco“ mit zur nächsten Betriebsfeier. Grosser Spass mit vielen Entdeckungen!
Sonnig und entspannt geht es auf dem fünften Album des DJ- und Produzentenduos Mo'Horizons zu, das eine kleine Besonderheit ist: Ralf Droesemeyer und Mark Wetzler veröffentlichen erstmalig eine Platte auf ihrem eigenen Label Agogo Records, das sich hauptsächlich um Bossa-Nova-Neuinterpretationen, zum Beispiel vom Juju Orchestra kümmert. Der Albumtitel „Sunshine Today“ ist programmatisch zu verstehen, die 13 Tracks grooven lässig und gut gelaunt, „My Bombombomb“ zum Beispiel hat das Zeug zum absoluten Gartenpartyklassiker: zwischen Bigband- und Latinosound kann der Bratmaxe die Würstchen wenden, während die Gäste schon ihre Schuhe in die Hecke feuern und barfuss auf dem Rasen tanzen. Mo'Horizons haben eine Menge MusikerInnen eingeladen, die aus insgesamt sieben Nationen stammen und „Sunshine Today“ zu einem sehr offenen, aus vielen stilistischen Einflüssen bestehenden Album machen, das unter seiner Vielfältigkeit nicht zusammenbricht, sondern eine sehr positive, leichtfüssige „One-World“-Vision eröffnet. Auch die Vocals werden von verschiedenen Gästen beigetragen, zum Beispiel von der Belgierin Camille de Bruyne, die schon bei Gurus Jazzmatazz sang, und der Afro-Soulsängerin Denise M'Baye, die angejazzte Club- und Latintracks mit ihrer prägnante Stimme veredelt. „Dia Encantador“ ist eine sehr freie Interpretation von Bill Withers' „Lovely Day“, beim knackigen „Southern Friend Funky Lovesong“, auf dem die Stimme eines gewissen James Brown gesamplet wird, kommt regelrechte Blockparty-Stimmung auf – Let the Sunshine in!
Doppelt hält besser, hat sich das holländische Mixertrio Kraak & Smaak wohl gedacht, ein Zwei-CD-Album musste es schon sein, als es darum ging, ihre Remixkünste zu präsentieren. Das ist gewiss ein sehr geschickter Schachzug, denn als Kraak & Smaak vor einigen Jahren mit dem Album „Boogie Angst“ an die Öffentlichkeit traten, wurden sie als wenig ernstzunehmende Fun-Funker und Party Animals geschmäht. Mit „The Remix Sessions“ dürfte sich das Blatt wenden: das Label Jalapeno Records hat insgesamt 19 Tracks zusammengestellt, neben eigenen Stücken von Kraak & Smaak auch jede Menge überraschende Interpretationen von unter anderem Jamiroquai (gleich zweimal vertreten mit „Electric Mistress“ und „Seven Days in Sunny June“) und Mark Raes beliebtem Remixerrohstoff „Medicine“. Mit elastischen Repetitionen und tiefen Bässen entwickeln die Holländer bei vielen Tracks einen volumigen Unterwasser-Effekt, der den Begriff „Flow“ neu definiert. Prima ist auch, dass sich beim Remixen richtig Zeit genommen wird: acht, neun Minuten kann es schon dauern, bis ein Stück zum Ende beziehungsweise Höhepunkt kommt.
Bei aller Virtuosität in Bezug auf House-, Dance- und Elektrodetails steht die Liebe zum (Retro-)Funk deutlich im Vordergrund, so wird Skeewiffs „Man of Constant Sorrow“ (man erinnere sich bitte kurz an George Clooneys Gesangseinlage im Coen-Film „O Brother, Where Art Thou?“) zum Floorshaker, genauso wie Dorfmeisters „Boogie no more“ - spätestens jetzt dürfte die Fülle an bekannten Namen auffallen: Die Grossen der Szene vertrauen Kraak & Smaaks Remix-skills schon lange, also warum nicht auch der Rest der Welt?
Club Tikka! Volume 1
(Muto/Lounge Records)
Manchmal ist es völlig legitim, sich von Äusserlichkeiten verführen zu lassen. Positives Beispiel dafür ist das lustig gepunktete Cover des Samplers „Club Tikka“, das sofort fällt ins Auge fällt und neugierig macht. Das Beste: man wird nicht enttäuscht, der akustische Inhalt dieses Digipak ist sogar noch bunter und lebensfroher, als das Cover suggeriert.
„Club Tikka“ ist die erste eigene Compilation von DJ Mellow, der für seine schweisstreibenden funky Clubnights und die geschmackssicher zusammengestellten „Music for Modern Living“-Sampler bekannt ist. Im „Club Tikka“ wird der Funk geschüttelt UND gerührt, angestachelt durch 60's-Sounds, elektronische Beats, Latingrooves und geschickt eingestreute Reggaerhythmen pingt und pongt man durch die Gegend wie die Punkte auf dem Cover, ausruhen kann man morgen wieder! Mellow schart viele Labelfreunde von Muto und Lounge Records um sich, los geht's mit Mr. Marco's Music, deren Intro wunderbar die „Straßen von San Francisco“ hätte beschallen können. Der Smoove-Remix von Malentes „For the Revolution“ atmet Sixties-Beat-Atmosphäre, ebenso wie „Shake“ von Bikini Machine aus Frankreich. Die britischen Funkstyler The New Mastersounds lieben ebenfalls die Sechziger, die sie mit „Be Yourself“ lässig in die Nullerjahre überführen. By the way haben The New Mastersounds gerade eine eigene, knackige CD mit berühmten Gaststars wie Corinne Bailey Rae bei Légère Records rausgebracht (an introduction to The New Mastersounds).
Brazilian- und Latin-Vibes kommen mit Timax und The Juju Orchestra ins Spiel, spanisch geht es auch bei „Hablas Con Migo Senor?“ von den Torpedo Boyz zu, die sich mit diesem Track selbst covern: „Hablas …“ ist die spanische Version ihres Superhits „Are You Talking to me?“ Auch Smooves hammondorgelgetränktes Northern-Soul-Cover des Stevie Winwood-Songs „I'm A Man“ und „Rastarollarink“ des amerikanischen DJ-Teams Fort Knox Five wirbeln die Tanzflächenbesucher gehörig durcheinander, die genügend isotonische Getränke zu sich nehmen sollten, um nicht zu dehydrieren!
Das Berliner House-Label Get Physical beglückt die Clubber seit fünf Jahren mit besonders geschmackvollen Produkten, zuletzt mit der fantastischen DJ-Dixon-Compilation „Body Language Volume 4“. Hinter dem Namen Get Physical verbergen sich sechs ausgemachte Dance-Experten: der ehemalige Groove-Herausgeber Thomas Koch, Philipp Jung und Patrick Bodmer (a.k.a. DJ-Team M.A.N.D.Y.), Peter Hayo und die beiden Producer Walter Merziger und Arno Kammermeyer, auch bekannt unter der Trademark Booka Shade fanden sich 2002 zusammen, um ein eigenes Label zu gründen, das sich vornehmlich um Electrohouse kümmern sollte – also die satte, warme, organische Variante hiesiger Tanzmusik. Das Label-Portfolio ist inzwischen auf über 80 Veröffentlichungen von gut 20 Acts angewachsen, darunter so schillernde Namen wie Lopazz, Elektrochemie und natürlich Booka Shade. Zum Geburtstag feiert sich Get Physical gehörig selbst, aber nicht, ohne an die User zu denken: auf zwei CDs - unterteilt in Remixes und „Exclusives“ - kann man die Labelgeschichte nachhören und -tanzen. Auf der „Exclusives“-CD fällt die M.A.N.D.Y./Booka Shade-Behandlung von Laurie Andersons „Oh Superman“ am meisten auf, das soll natürlich nicht heissen, dass die anderen Tracks weniger interessant seien: Chicago-House-Einflüsse dominieren „Don't Panic Till I Said So“ von Audiofly X, strictly dancing ist bei Chelonis R. Jones „Dirty Lipstick“ angesagt. Die Remix-Platte ist erst recht nicht ohne, lauter Berühmtheiten geben sich die Regler in die Hand: Earl Zinger remixt Elektrochemies „Pleasure Seeker“, Moby widmet sich Djuma Soundsystem, Senor Coconut verzaubert Booka Shades „Bodylanguage“, Fujiya & Miyagi, die Elektroüberflieger aus Brighton veredeln Lopazz' „Migration“. Darauf einen Dujardin!
Als sich das Soundsystem Al Haca vor über zehn Jahren in Greifswald gründete, war noch nicht klar, wohin die Reise gehen sollte: man spielte alles von Dub über Reggae und Punk, bis sie von Rockers HiFi „entdeckt“ wurden, deren „Killah“ das in der Al Haca-Remix-Version sofort zum Clubklassiker wurde. Mit ihrem neuen Projekt „Family Business“ nehmen Al Haca eine Vorreiterrolle ein: „Family Business“ ist als Dreierserie konzipiert, die nur digital erhältlich sein wird. Für Vinyljunkies wird es eine limitierte Edition auf Traktor Records geben. Die erste Zusammenstellung featuret sieben dublastige, tiefbassige Tracks mit verlangsamten HipHop-Beats und tanzbaren Grooves. Akustische Instrumentierungen verweben sich mit Synthies, die unter der dunklen Oberfläche blubbern – das passt gut in den Kopfhörer, aber auch in den nächtlichen Park, wenn die Würstchengriller verschwunden sind. An der Al Haca-Session nehmen teil: Cryptonite, Banana Split, Dial Zero, Citrus, Earth und Baby Blue.