– IX –
Der neunte Club präsentiert ein buntes Potpourri aller denkbaren Spielarten elektronisch-dominierter Tanzmusik. Von technoidem Bossa über wilde Remixe, tasty Loungemusic und schwedischen Hardcore-Elekkktro führt uns die Reise durch die Nacht …
Die Bezeichnung „Orchestra“ führt in die Irre: dieses „Orchester“ besteht aus exakt drei Personen, als da wären Producer und Composer Oliver Belz, Samy Kilic a.k.a. Fab DJ Sammy und Ralf Zitzmann, ehemaliger A&R-Beauftragter des Labels Audiopharm. Seit 2004 interpretieren die drei Kumpels brasilianischen Bossa Nova neu, zaubern aus ihren Geräten den Sound von -zig Streichern und Bläsern und laden sich gern Gastsänger ein: auf ihrem nun vorliegenden Debütalbum zum Beispiel Terry Callier und Carolyn Leonhart. Die acht Tracks spielen mit traditionellen Latinorhythmen, knistern und knacksen zart-retromäßig, haben aber gehörig Wumms und dürften gepflegte Lounge-Schlipsträger enorm ins Schwitzen bringen. Das Juju Orchestra liebt es, zu improvisieren, die Stücke entwickeln sich und lassen genug Raum für Gitarrenlicks und rhythmische Loops. Fast alle Tracks dauern länger als fünf Minuten, das spielerische Ausufernlassen nimmt dem Bossa-Tanzformat die inherente Strenge. Die drei wagen sich an Steely Dans „Do it again“ und den Siebzigerklassiker „Funky Nassau“ und schaffen es mit Leichtigkeit, die Eleganz und Lässigkeit dieser Songs beizubehalten und sie gleichzeitig für moderne Innenstadtbarbesucher aufzupeppen. Sehr schick und stylish, mit aufregenden jazzy Momenten.
Sid Barcelona, Jon "JonH" Horvath, Rob Myers und Steve "Raskal" Raskin sind Fort Knox Five (auch bei dieser Combo wird offenkundig gemogelt: sie sind ebenso wenig zu fünft wie das Juju Orchestra ein Orchester ist), kommen aus Washington, DC und gelten als eins der weltweit renommiertesten DJ-Teams – sie tourten als Show-DJs unter anderem bereits mit Gwen Stefani, den Beastie Boys und Afrika Bambaataa. Und hey, ihre Remixe von Tito Puentes „Ran Kan Kan“, Kraak & Smaaks „One of these Days“ oder – schon im „unbearbeiteten“ Original ein Knaller – Nickodemus' „Give the Drummer Some“ sind wirklich umwerfend. Fort Knox Five haben einen unverwechselbaren Stil, dominiert von opulenten Bläsern und funky Gitarrenriffs werden rasante Zeitreisen durch die Siebziger und Achtziger unternommen. Die durch den Remixer gedrehten Songs sind sofort als Fort Knox-Arbeit erkennbar, der charakteristischer Sound läßt die ausgewählten Tracks funkeln und stompen. Klar ist: Fort Knox Five sind individualistische, eigenständige Künstler, die sich vom unüberschaubaren Heer der Remixer und DJ durch slickes, selbstbewusstes Auftreten abheben. Ob sie sich die Torpedo Boyz vornehmen oder Ursula 1000 – hier bleibt kein Auge trocken und keine Hüfte ungeschüttelt. Unverzichtbarer Energieschub für frühjahrsmüde Großstädter.
Bar Lounge Classics:
Mediterranean Edition
(SonyBMG)
www.comfort-sounds.de
Die mittlerweile auf 13 Volumes angewachsene Bar-Lounge-Classics-Serie von Comfort Sounds lässt mich jedes Mal wieder zwischen Begeisterung und Abscheu schwanken: einerseits ist die optische Gestaltung dieser Doppel-CDs unfassbar anbiedernd-schmierig, die Cover mit lasziv auf Gartenmöbel hingegossene Models in pseudosexy-verrutschten Cocktailkleidern wirken wie der Otto-Katalog anno 1973; andererseits ist die Auswahl der Tracks immer wieder hochgeschmackvoll und stilsicher. Also was tun? Cover in neutrale Packpapierhülle einbinden oder gleich wegwerfen und die beiden CDs in selbstgestaltete Hüllen verpacken? Das muss jeder selbst entscheiden, aber die 32 Stücke der Mediterranean Edition sorgen für eine smoothe, relaxte Grundstimmung, ideal für die ersten Outdoor-Cocktails dieses Frühjahrs. CD 1 mit Planet Lounge, Trinah oder Rivera Rotation ist etwas chilliger und ruhiger gehalten, auf CD 2 regiert der Latingroove, mit Bobby Brazil, Lemongrass, Lyambiko, Nylon und Zimpala heisst es „strictly dancing“. Absolut lohnende Angelegenheit also, aber das Cover …
Mit dem Ausgehen und Tanzen verhält es sich ja wie mit allen anderen Dingen im Leben: too much of one thing langweilt irgendwann. Und nach 32 wohlerzogenen Loungetracks der Mediterranean-CDs wird es dem DJ diebische Freude bereiten, „Dunka Dunka“ reinzuhauen: Hakan Lidbo, 42jähriger Elektrofanatiker aus Schweden, hat beim Berliner Label Musick angedockt und eine Palette durchgedrehter Strom-Etüden ausgepackt. Lidbo bastelt am Rechner treibende, sägende, fiese dunkle Tracks zusammen, die er manchmal (aber nicht zu ausgiebig) mit Discorhythmen unterlegt, wie bei „Half Man Half Lobster“ oder der Maxi „Call for Islam“. Lidbo haut immer voll drauf, die HiHat ist im Dauereinsatz. Der Sound ist schnarrend und roh, zerrt an den Nervenenden wie ein Zahnarztbohrer – ohne Betäubung, versteht sich. Bei Tracks wie „Geekdorf“ wird der Haupt-Loop durch sparsame, aber wilde Breaks gestoppt, um dann wieder gemein von hinten angekitzelt zu kommen. „Sonic Bricks“ beginnt dark-shufflend, ping-pongend schraubt sich der Track ins Gewinde und schwer rollend beginnt die Fahrt in die unheimliche Nacht. Knarzender Tekkno-Electro bricht sich quälend langsam Bahn bei „This Looks Infected, Doesn't It?“, es pluckert und pumpt, man wartet auf die Hookline, die Lidbo bei anderen Tracks wesentlich unverfrorener und unmittelbarer loslässt. „Dunka Dunka“ ist ein Begriff, den schwedische Omas und Opas für „moderne Musik“ verwenden – vielleicht ist „Dunka Dunka“ aber auch ein Warnhinweis: bitte nur in kleinen Portionen („Dunka Dunkas“) goutieren!
Ideales Gegenmittel für die sadistischen Soundangriffe von Hakan Lidbo ist das Album eines weiteren Elektro-Schweden namens Anders Ilar. Er widmet die hier vorliegenden neun Tracks seiner Heimatstadt Ludvika und nennt sie effizient und zwingend „Ludwijka I – IX“. Simplify your Tracklist at its Best: Ilar ist Minimalist, lässt Knarzen und Blubbern viel Raum und Zeit, bis sich ein flächiges Soundgemälde von eigenartiger Schönheit herausbildet. Möglicherweise ist die schwedische Landschaft mit ihren tausend Seen und dunklen Wäldern figuratives Vorbild für Ilars abstrakte, aber intime Klangfragmente. Für dieses Album hat Ilar alte Cassettenaufnahmen verwendet, schon als Kind liebte er es, seltsame Geräusche aufzunehmen, die jetzt, 20 Jahre später mit Unterstützung moderner Elektronik auf „Ludwijka“ zu hören sind. Man kann Pianofetzen ausmachen, die alte Trompete seines Vaters, eine Krähe und eine Katze, die durch den dezenten Einsatz der Beats in reduzierten Flow versetzt werden. Anders Ilars Welt mag dunkel erscheinen, aber sie ist warm und liebevoll eingerichtet.
The Sweet Vandals
(Unique/Groove Attack)
www.unique-rec.com
Unique aus Düsseldorf waren schon immer dem Funk verbunden. So ist es kein Wunder, daß Henry Storch, seines Zeichens Kopf des umtriebigen Labels, aus Spanien die nächste große Funkband in Deutschland veröffentlicht. "The Sweet Vandals" treten massiv auf in ihrem klassischen Lineup mit der unglaublich dreckigen Stimme von Mayka Edjo, die sich hinter Soulgrößen der 60er/70er nicht zu verstecken braucht. Schon mit dem Opener "I got you man" wird das Revier markiert, das ist Deep Funk mit viel Seele. Musik, wie sie in den letzten
Jahren massiv in den Vordergrund getreten ist, sei es durch die Engländer " The New Mastersounds" (neu im Mai bei Légére) oder aktuell mit Amy Winehouse, dort mit weniger Funk und mehr Soul. Selbst Christina Aguilera griff den Trend mit ihrem Hit "Ain't no other man" auf. Nach dem Niedergang klassischer Rockthemen war ein Revival von Funk und Soul nur zwingend.
Die "süßen Vandalen" haben die Kraft und eine satte Produktion im Gepäck, um sich langfristig im kurzen Gedächtnis der Konsumenten fest zu beissen. Zwar spielen sie Funk beziehungsweise Soul im klassischen Stil, besitzen jedoch die nötige Distanz zu den Originalen, etwa, wenn im Cover von "Papa's got a brand new Bag" Papa von Mama ersetzt wird und dem Song neuer Sinngehalt eingehaucht wird. Die ersten Singles, noch erschienen auf dem kleinen Funk-O-Rama-Label aus Spanien, schlugen bei den Insidern der Szene wie Keb Darge oder DJ Spinna dann auch ein wie eine Bombe. Auf ihren Partys schlugen die Songs schon hohe Wellen auf den internationalen Tanzflächen. Doch die "Sweet Vandals" können nicht nur auf der Tanzfläche überzeugen. Wenn sie etwas das Tempo rausnehmen wie im wunderschönen "Beautiful", kommt erst so richtig die Klasse der fünf Spanier zur Geltung. Im April sind die groovenden Iberer auf kleiner Deutschlandtour in kleinen Clubs. Wer die nächste große Funkband noch einmal im intimen Rahmen erleben möchte, sollte sich das nicht entgehen lassen. Und vorher schon mal ordentlich warm tanzen zu Hause mit diesem erstklassigen Debüt. [Kritik von Tobi Kirsch]