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Die – Trommelwirbel, Tusch – zehnte Ausgabe des Wohnzimmerclubs reist auf einem fliegenden Teppich um die Welt: wir picknicken elektronisch mit den Wighnomy Bros., ziehen mit Chin Chin durch Brooklyn, koksen mit Shitdisco auf dem Klo und lernen mit Ben Mono, was sich hinter „Bit Hop“ verbirgt. Und wer dann noch nicht genug getanzt hat, darf die Mixalben von Hot Chip und DJ Dixon mit nach Hause nehmen.
Chin Chin aus Brooklyn, New York bestehen im Kern aus Torbitt Schwartz (Drums), Wilder Zoby (Piano/Synthesizer) und Jeremy Wilms (Gitarre). Die drei hochschulstudierten Musiker fanden sich zusammen, um als Back-Up-Band für MCs und Sänger zu agieren, nachdem man bereits mit Leuten wie Lee Ranaldo, Tony Allen und vielen mehr gearbeitet hatte. Sehr bald entstand die Idee, eine eigenständige Band zu gründen: Chin Chin war geboren, ein Funk-Jazz-Hybrid allererster Kajüte. Auf der Bühne stehen manchmal bis zu zehn Musiker, um den hütewegfliegenlassenden Sound zu produzieren, der auf der CD so unglaublich zwingend, sharp und strictly dancefloor rüberkommt. Chin Chin blasen einen veritablen Bigbandsound aus den Boxen, die 13 Tracks ihres Debütalbums hätten ins Studio 54 genauso gut gepasst wie heutzutage an die Copa Cabana und in angesagte Clubs. Die Single „Toot d'Amore“ ist ein wilder Funkmix mit breitangelegten Bläserpassagen, „Appetite“ ist feinster Eighties-Discopop mit perlendem Piano und Falsettgesang. „You Can't Hold Her“ verbreitet eine intime Atmosphäre, bleibt mit vorwärtsrollendem Bass, wirbelnder Rhythmsection und knackigen Bläserparts aber stets tanzbar. „Curtis“ ist der 1999 verstorbenen Soullegende Curtis Mayfield gewidmet, „Ohio“ ist jazzig arrangiert und der Opener „Miami“ schubst mit pumpendem Bass und anspruchsvollem Pianoteil auch den letzten Funk-Hasser auf die Tanzfläche. Chin Chin bringen US3, Pigbag, Funkadelic und Shalimar unter einen Hut und entfesseln eine solch ausgelassene, euphorische Stimmung, dass sich Acts wie ESG, Theo Parrish und TV on the Radio von ihnen supporten liessen. Falls mich jemand fragen sollte: „Chin Chin“ ist eines der Dance-Alben des Jahres!
Gabor Schablitzki alias Robag Wruhme steckt hinter dem Projekt Wighnomy Bros. Das nun vorliegende "Remikks Potpourri" ist bereits das zweite Produkt unter diesem Projektnamen. Die Innencovergestaltung mit Blümchenwiese und Wölkchenhimmel führt auf die richtige Spur, denn Wighnomy Bros/Wruhme/Schablitzki. zieht ins Gebirg': die 11 Songs (nicht Tracks, wie das Presseinfo betont!) sind klimafreundlich und organisch-pulsierend produziert, taugen fürs elektronische Picknick und zur geschmackvollen Clubbeschallung. Wruhme nimmt sich Stücke von Depeche Mode ("Lillian" vom letzten DeMo-Album) vor, auch Nitzer Ebb, Underworld, Ellen Allien und Matthias Tanzmann erfahren kundige klicker-klacker-Behandlung. Da Wighnomy Bros. nicht nur ein genialische DJ- und Remixerprojekt ist, sondern auch der Spass nicht zu kurz kommen soll, tragen die Remixe lustige Namen wie "Fukkeldibobb Remake", "slomoschen kikker" oder "vati mafonkk." Der zweite Track, oh sorry, Song, Röyksopps "Beautiful Day Without You" (im "Spekkfakkel Remix") tänzelt so federnd-fröhlich aus den Boxen, dass man ihn glatt für ein romantisches Liebeslied halten könnte, wäre da nicht der böse Text …. Federnd ist sowieso das Stichwort für dieses Potpourri: die Stimmung ist sonnig warm und lebendig, man hört sprichwörtlich das Gras wachsen und die Vögel zwitschern, dazu tickern die Beats und die Loops rollen gen Horizont. Wighnomy Bros. gelingt das Kunstwerk, ein rein elektronisches Album zu kreiieren, das natürlich klingt, falls sich das irgendwie plausibel anhört.
Shitdisco: Kingdom of Fear
(Fierce Panda/Cargo)
myspace.com/shitdisco
Ok Leute, diese Platte ist nur was für erfahrene, speedwerfende Extremclubber! Auf „Kingdom of Fear“ sollte ein Warnhinweis stehen, analog zu Zigarettenschachtel-Aufklebern: „Kann Schlaganfälle und Epilepsie auslösen!“, „Nicht nach Kaffeegenuss auflegen!“, „Sollte Ihr Kind an ADS leiden, sollten Sie diese CD nicht in seiner Nähe herumliegen lassen“ o.ä. Als das Quartett aus Glasgow im vergangenen Herbst durch seinen prägnantem Bandnamen und zwei grossartige Singles („Reactor Party“ und „Disco Blood“, beide auf dem Album vertreten) von sich reden machte und – gelinde ausgedrückt – eine mittlere Hysterie auslöste, war die Spannung gross: würde es Shitdisco gelingen, die rasante Nu-Rave-Höllenfahrt auch auf Albumlänge weiterzuführen? Das nun vorliegende Ergebnis „Kingdom of Fear“, 37 Minuten Highspeed, enttäuscht ein wenig: die Energie schlägt in Hektik um, der zappelige Elektropunkmix nervt nach einer Weile, es sei denn, man hat die passenden Drogen parat. Der Opener „I Know Kung Fu“ peitscht mit vollem Galopp voran, pumpender Brummbass, Irrsinn, asiatischer Kampfsport mit 250 km/h. Die Kuhglocke, die hier traktiert wird, ist hinterher garantiert völlig verbeult, reif für den Müll und kann keinesfalls dieselbe sein, die bei den restlichen neun Tracks zum Einsatz kommt. Variation ist bei Shitdisco kein Thema, furios und atemlos werden Postpunk, White Funk, Nu Rave und Aciddisco durch den Häcksler gejagt, bitte schon mal an der Sauerstoffbar anstellen! Einzig „72 Virgins“ drosselt das Tempo ein klein wenig, orientalische Melodiesprengsel sorgen für etwas Abwechslung, auch „Dream of Infinity“erlaubt ein paar Dehnübungen, bevor mit „3D Sex Show“ wieder voll auf die 12 gekloppt wird. „Lover of Others“ ist in seiner Getriebenheit wirklich klasse, man stellt sich einen überdrehten, gedopten Langstreckenläufer vor, wie er joggt und joggt und joggt und niemals aufhören kann … HILFEEE!
Ben Mono: Hit the Bit
(Compost/Groove Attack)
ben-mono.de
„Should you continue pressin' play expect a sound desaster“ warnt die weibliche Stimme im Intro von Ben Monos Album „Hit the Bit“; von „chaos and disturbance“ und „sonic molestation“ ist die Rede, aber keine Panik, von Chaos keine Spur: die ersten drei Tracks klingen nach gut abgehangener black block party, dumpfer Bass und HipHopbeats erleichtern das Eingrooven. Ab Track vier („Binary Poetry“ mit Gastvocalist Kerry L. Dooley) bekommt man eine Ahnung davon, was DJ Paul Beller aus München, a.k.a. Ben Mono mit der Genrebezeichnung „Bit Hop“ meint, unter der dieses Album firmiert: Bit Hop bedeutet weniger Beats per Minute, keinen Geschwindigkeitswettbewerb, aber einen unglaublich dichten, basslastigen Sound, der Raum benötigt und Raum schafft. „Pull Em Down“ (featuring Shane Fontane) mit seinen elastischen, bouncenden Elektrobeats ist tanzbarer Höhepunkt des Albums und bringt die Idee des Bit Hop am deutlichsten zum Ausdruck. Federleichte Achtziger-Discoreminiszenzen bringen den Track zum Schweben, der Bass bringt die Füsse auf den Tanzboden. Ein weiteres Highlight auf „Hit the Bit“ ist „Jesus Was A B-Boy“, Gastsängerin Jemini (die auch Intro und Outro spricht) erklärt auf Ursula-Rucker-Art, weshalb Jesus nicht nur B-Boy, sondern auch Graffitti-Artist und überhaupt der erste Popstar überhaupt gewesen ist. Das kann man sich am besten vorstellen, wenn man wie Jemini den einen oder anderen Joint raucht („I saw the burning bush and I smoked it“), sehr lustig und weed-gesteuert. Paul Beller ist als Ben Mono viel herumgekommen, er djayt in Manila, Buenos Aires, San Francisco, Bangkok, Dubai, kurz, überall auf der Welt. Das hört man dem Album an, das auf sehr selbstverständliche Art international klingt. Mono ist ausserdem Autodidakt: bevor er das DJing entdeckte, brachte er sich Bass-, Schlagzeug- und Keyboardspielen selbst bei und sieht laut eigener Aussage keinen Unterschied zwischen der Arbeit eines DJs und eines Musikers, der konventionelle Instrumente spielt. Diese Sichtweise mag dafür verantwortlich sein, dass Monos Beats so flüssig, die Breaks so organisch um die Ecke flowen. Die Bits hoppen, überlassen dem jeweiligen Gastvocalisten immer dezent das Spotlight. Auf der langen Strecke – „Hit the Bit“ beinhaltet immerhin 17 Tracks – geht dem Bit Hop ein wenig die Luft aus, die vielen Höhepunkte machen das Album insgesamt aber zu einer echten Entdeckung.
Die Lieblingsnerds des letzten Jahres, Hot Chip aus London, haben jetzt auch ein DJ-Kicks-Album zusammengestellt. Das verspricht Grossartiges, schliesslich hat kaum eine Band in den letzten Jahren Eighties-Pop, Disco und Elektronik so schön zusammengebracht wie eben Hot Chip. Als DJs sind sie aber nicht ganz so begabt wie als Komponisten und Produzenten: ihr Kicks-Album strotzt zwar vor originellen, bekannten, unbekannten, lang vermissten, tanzbaren und schrägen Tracks, wirkt aber in der Gesamtheit verworren und unstrukturiert. Natürlich ist „Bizarre Love Triangle“ von New Order ein Selbstläufer auf jeder Party, „Nitemoves“ von Grovesnor ist wirklich ein idealer Einstiegssong für eine lange Nacht, es macht auch grossen Spass, „Radio Prague“ von This Heat und „Steppin' Out“ von Joe Jackson wiederzuhören. Kuriositäten wie Dominik Eulbergs „Der Buchdrucker“ und Gabriel Anandas „Doppelwhipper“ gehören in jedes gute DJ-Set, ebenso Soul- und R'n'B-Klassiker wie Etta James' „In the Basement“. Doch was den DJ vom Plattenaufleger unterscheidet, ist die Fähigkeit, Spannung aufzubauen, Tracks und Beats sinnvoll oder überraschend zu sortieren, und vor allem, das Set anders klingen zu lassen als eine Schüler-Mixkassette, wie es hier der Fall ist. Aber vielleicht steckt hinter Hot Chips DJ-Kicks-Album eine ganz andere Idee und die Songs sind nur Material, das Hot Chip vor uns ausbreiten. Die Aufgabe für die Hörer besteht darin, die Tracks zu einem DJ-Set zu ordnen: was passt am besten hinter Young Leeks „Jiggle it“? Sollte man Ray Charles' „Mess Around“ wirklich am Ende spielen oder besser mittendrin? Und wann bringt man seinen eigenen Track (Hot Chips neue Single „My Piano“) am geschicktesten unter? Sollte das die Intention der britischen Frickler gewesen sein, bin ich begeistert. Wenn nicht, etwas überreizt.
Body Language Vol. 4,
Compiled and Mixed by DJ Dixon
(Get Physical)
Wer beim Kompilieren und Mixen wirklich alles richtig gemacht hat, ohne klassenstrebermässig dabei rüberzukommen, ist DJ Dixon, der für das Berliner Get-Physical-Label die vierte Ausgabe der „Body Language“-Reihe zusammengestellt hat. Dixon, der einige Jahre die Residency im Berliner WMF innehatte und zum Sonar Kollektiv um Jazzanova gehört, lässt all' jene sehr alt und grau aussehen, die denken, es könne ja nicht so schwer sein, ein Dancealbum zusammenzuschustern. Ist es aber doch, das merkt man immer wieder (siehe oben). DJ Dixon hingegen mixt mit leichter Hand warme Housesounds mit Minimalelektro, als verbindendes Element dient zarte Eighties-Atmosphäre, schon der Einstieg mit Timo Maas' „Slip in Electro Kid“ und Chromatics' „In the City“ ist einlullend und begeisternd. Stefan Berkhahn, wie DJ Dixon für seine Eltern und die Behörden heisst, hält Überraschungen bereit (zum Beispiel den Henrik-Schwarz-Remix von Marie Boines „Filer til Voui“), verändert Hörgewohnheiten (hätte jemand gedacht, dass Thom Yorks „Eraser“ auf eine Clubplatte passt?) und schafft genialische Übergänge (Tracy Thornes neue Single „It's all True“ fadet formidabel in Herberts „Moving Like a Train“). Noch dazu klingt der Mix so smooth und homogen, als höre man das Album einer Band mit verschiedenen Gastsängern. Der Grundton ist warm und sonnig, atmet House und Ibiza, aber auch Berlin und Underground. Niemals überladen, zwischen Minimal und grossem Popentwurf gelingt DJ Dixon ein Mixalbum, das als eins der wenigen seines Genres für lange Zeit einen festen Platz im Player behalten wird.