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2. August 2008 | Kirsten Reimers für satt.org |
401 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Kinderwunsch, Kindersegen, Kinderfluch Mitten in der Nacht stürmen maskierte Männer die Wohnung des Kinderarztes Pedrolli und entführen seinen kleine Sohn. Doch es handelt sich nicht um Verbrecher, sondern um einen Sturmtrupp der Carabinieri, die in einer Italien-weiten Aktion gegen Babyhandel vorgehen. Pedrolli wurde aufgrund eines anonymen Anrufs in die Liste der Verdächtigen aufgenommen. Sein kleiner Alfredo, vom dottore heißgeliebt und bestens umsorgt, ist gekauft, an den Behörden vorbei illegal „adoptiert“. Seit anderthalb Jahren lebt das Baby bereits in der Familie Pedrolli, nun kommt es in ein Waisenhaus. Da Pedrolli während der Aktion der Carabinieri schwer verletzt wurde, zieht man Commissario Brunetti von der Polizei Venedig hinzu, um den Vorfall zu klären. Aber das gestaltet sich weit zäher als gedacht. Der Kinderarzt hat seine Sprache verloren, die Carabinieri mauern. Also muss Brunetti andere Wege einschlagen. Was er erfährt, bleibt vage. Eines scheint klar: Predrolli ist kein Verbrecher, sondern ein sanftmütiger, verantwortungsbewusster Mann, der mit seiner Frau keine eigenen Kinder bekommen kann. Der Fall verläuft sich im Sande, niemand hat ein wirkliches Interesse daran, die Hintergründe zu enthüllen. Brunetti stochert ein wenig herum, doch weit kommt er nicht. Erst der Überfall auf eine Apotheke bringt etwas Licht ins Dunkel. Doch was zum Vorschein kommt, ist weit anders als erwartet. Ein Fall, der eigentlich kein Fall ist, ein Krimi ohne Mord, ja, ohne jeden Toten. Und doch: ein fesselndes Buch. Keine Literatur, eindeutig ein Kriminalroman, aber einer, der allein von der Atmosphäre und den Figuren lebt. Donna Leon versteht es, komplexe Fälle und komplizierte Themen in wirklich gute Unterhaltungsliteratur zu gießen. Venedig wird ihr zum Brennglas: globale Veränderungen, internationale Verflechtungen, gesellschaftliche Tendenzen – in Leons Romanen wird dies heruntergebrochen auf das tägliche Sein. Was bedeutet es, in einer Welt zu leben, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufklafft? Was heißt es für den Einzelnen, wenn in ärmeren Ländern Kinder geboren werden, die nicht ernährt werden können, während kinderlose Paare in den reichen Industrienationen alles geben würden für ein Baby? Der Handel mit Kleinkindern bleibt verwerflich – aber wie herzlos (und auch hilflos) ist ein Staat, der Kinder, die sehr lange Zeit illegal bei einem Elternpaar lebten, aus der gewohnten Umgebung reißt, um sie in ein Waisenhaus zu zwingen? Andererseits: Gekaufte Kinder bei den Wunscheltern zu lassen, die sich durch die Transaktion strafbar gemacht haben, würde das Prinzip des Rechtstaats unterhöhlen. Es gibt keine Lösung, Leon maßt sich nicht an, zu wissen, wie die Welt funktionieren sollte. Mithilfe ihres Commissario Brunetti betrachtet sie die Verhältnisse und hinterfragt sie. Und das tut sie klug und scharfsichtig. Der Roman bleibt nicht etwa mit klagender Resignation vor den großen gesellschaftlichen Problemen stehen – denn mit ihnen verwoben sind die Gemeinheiten, für die Menschen verantwortlich sind: Doppelmoral, Selbstgerechtigkeit, Kaltherzigkeit, Rassismus, Verleumdung, Korruption; dies alles spielt eine wichtige Rolle. Ganz nebenbei gibt es auch einen Seitenhieb auf einen ungenannten Politiker, der mit seinem Medienkonzern die Öffentlichkeit manipuliert. Das ist kein Betroffenheitskaffeekränzchen-Krimi – natürlich kann man ihn so lesen und dann gereizt sein, weil keine eindeutigen Antworten gegeben werden, weil das Ende zwar stimmig ist, aber offen bleibt. Man kann ihn auch als Polizeikrimi lesen – und enttäuscht sein, weil es keine Action gibt, keinen Fall, der mit Hochdruck zur Lösung gedrängt wird, keine Verfolgungsjagden, keine hochgerüstete Spurensicherung, nichts dergleichen. Stattdessen begleitet man einen nachdenklichen, ältlichen Kommissar, der seine Familie liebt, gern gut isst und Bücher von Historikern und Philosophen liest. Commissario Brunetti hadert mit der Computertechnologie, braucht die Unterstützung durch andere Menschen und diskutiert leidenschaftlich gern mit seiner Frau. Er ist leise, unaufdringlich und auch starrköpfig. Und so sind auch die Romane von Donna Leon. Seit 1981 lebt die Amerikanerin in Venedig. „Lasset die Kinder zu mir kommen“ ist der sechszehnte Fall des Commissario Brunetti. Wie seine Vorgänger ist auch dieser Roman unaufgeregt, zurückhaltend und auf die Dialoge der Figuren konzentriert. Bislang kamen die Brunetti-Krimis ohne Action aus – diesmal sogar ohne Tote. Das ist eine neue Qualität.
Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir kommen. |
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