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30. August 2008 | Kirsten Reimers für satt.org |
501 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Die dünne Schicht der Zivilisation Der renommierte Schönheitschirurg Richard Lafargue hält die junge Ève in seinem Haus gefangen – ein goldener Käfig mit viel angenehmem Luxus, doch ein Käfig. In seiner Begleitung darf sie von Zeit zu Zeit das Anwesen verlassen, an Abendgesellschaften teilnehmen und muss mit ihm mehrfach pro Monat ein junges Mädchen in einer Nervenheilanstalt besuchen. Danach zwingt Richard sie dazu, sich zu prostituieren, während er sie dabei beobachtet und ihre Erniedrigung, ihren Schmerz genießt. Ein Bankräuber versteckt sich in verschiedenen Wohnungen in und um Paris, nachdem er bei einem Überfall einen Polizisten erschossen hat. Ein junger Mann wird seit mehreren Jahren in einem dunklen Keller festgehalten. Sein Entführer – der ihn anfangs folterte – wird immer freundlicher und entgegenkommender. Dies sind die drei Handlungsstränge, aus denen „Die Haut, in der ich wohne“ geflochten ist. Sie werden zusammengeführt, als Alex, der Bankräuber, beschließt, sich mit Hilfe des Schönheitschirurgen eine neue Identität zuzulegen. Um Richard zur Einwilligung und zum Stillschweigen zu zwingen, entführt Alex Ève. Dies gibt den Dingen eine katastrophale Wendung. Der Plot ist wirklich atemberaubend – und es steckt eine Menge darin, das beim Lesen bewegt: Wie stabil ist Identität? Wie verändert Folter einen Menschen? Wie eng hängen Geschlecht und Selbst zusammen? Was macht Rache mit der Persönlichkeit? Wie nah sind sich Hass und Liebe? Die Idee hinter dem Thriller ist beängstigend. Die Figuren sind getrieben von einer Grausamkeit, einer Unmenschlichkeit, die bestialisch ist, ohne dass sich dies in billiger Effekthascherei und blutigen Szenen niederschlägt. Und als Leser fühlt man sich beim eigenen Voyeurismus gepackt und ertappt, bei der Lust an Gewalt und am Abgrund, den die Zivilisation nur knapp verdeckt. Jonquet verwebt seine Stränge kunstvoll zu einem Netz, in dem sich Figuren wie Leser nachhaltig verfangen. Im französischen Original lautet der Titel darum sehr passend „Mygale“ – Vogelspinne. Pedro Almodóvar will den Stoff verfilmen – das wird bestimmt gut. Der Plot lädt ein, etwas damit zu machen. Und ein Film wäre ein prima Sache. Denn – bei aller Begeisterung für die Konstruktion und für die Idee – der Text an sich ist enttäuschend. Jonquet verzichtet weitgehend auf Dialoge. Wo Menschen aufeinandertreffen, werden die Gespräche zumeist paraphrasiert. Als Stilmittel passt das gut. So wird die Isolation der Figuren betont. Auch die Fokussierung auf das Geschehen zwischen den Hauptfiguren wird auf diese Weise vorangetrieben. Auf Nebenstränge verzichtet Jonquet, weitere Personen werden nur eingeführt, wenn es wirklich gar nicht anders geht. Alles dreht sich um das fatale zentrale Beziehungsgeflecht und erinnert ein wenig an eine Versuchsanordnung. Auf diese Weise kommt der Autor mit rund 140 Seiten aus. Sehr konzentriert. Das könnte alles wirklich packend, verstörend, aufwühlend sein. Ist es aber nicht. Vielleicht funktioniert es im französischen Original. Vielleicht ist dort die Sprache dem Geschehen angemessen. Doch in der deutschen Übersetzung läuft es auseinander, und kein Lektorat hat es aufgefangen. Was vielleicht im Französischen schnörkellos und auf den Punkt ist, wird in der deutschen Version durch eine banalisierende Sprache mit mäßigem Stil flach gewalzt. Lieblos ist das Monströse, das Unfassbare durch ein stilistisches Klein-Klein belanglos gemacht worden. Schade. So wirkt das Buch wie eine Skizze, wie eine Einladung, aus dieser Vorlage, die so viel bietet, etwas Neues zu schaffen, etwas, das in Form und Stil dem Inhalt entspricht. Vielleicht einen Film. Und vielleicht ist Almodóvar der richtige Regisseur dafür.
Thierry Jonquet: Die Haut, in der ich wohne. Roman |
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