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3. September 2008 | Kirsten Reimers für satt.org |
601 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Keine Hoffnung für Dreizehnjährige Nach dem Tod der Mutter zieht die Familie der dreizehnjährigen Anita von Leeds in ein ärmliches Viertel im Südosten Londons. Was ein neuer Anfang werden sollte, führt zum endgültigen Zerbrechen der Familie: Der Vater ist vollkommen aus der Bahn geworfen und hockt nur noch hilflos trinkend vor dem Fernseher. Die beiden Zwillingsschwestern, wenig älter als Anita, stürzen sich leicht bekleidet ins Londoner Nachtleben. Der große Bruder verfügt plötzlich über Dinge, für die er eigentlich gar kein Geld hat. Und dazwischen, nein, eher daneben: Anita, isoliert, zurückgezogen, schweigsam, nach dem Tod der Mutter desorientiert und verwirrt. Und sie ist schreckliche dreizehn Jahre alt – das Alter, das wirklich das entsetzlichste, das aufwühlendste und verstörendste ist. Anita gehört zu den Kindern, die stets außerhalb stehen, in der Familie wie in der Schule. Ihre pakistanisch-britische Abstammung macht es ihr dabei nicht einfacher. Dennoch gelingt es ihr, mit zwei weiteren Außenseitern eine Art Freundschaft zu schließen: mit dem dicken, schwarzen Denis und mit Kyle. „Denis war das Kind mit dem Förderunterricht, wie es in jeder Klasse eins gibt. Die Brille, die er aufhatte, war ein Kassengestell mit Gläsern, dick wie Autoscheinwerfer“. Kyle ist das Kind, das als verhaltensauffällig gilt: „Er war dünn wie ein Strich in der Landschaft und eins dieser Kinder, die aussehen, als würden sie nach Pisse riechen. Die Art von Kind, die keiner wahrnimmt.“ Dennoch ist Anita wie in einen Bann gezogen von Kyle, denn er schert sich nicht um das, was andere von ihm denken, ist unberechenbar, manchmal wie ein anderer Mensch, wild, aggressiv: „Seine Augen waren unglaublich. Ein blasses, fahles Grau, die Farbe von Laternenpfählen und Rinnsteinen, die Farbe des Regens – riesengroß dominierten sie sein spitzes, knochiges Gesicht.“ Das Faszinierendste an Kyle jedoch ist, dass ihn ein Geheimnis umgibt. Vor einem Jahr verschwand seine kleine Schwester Katie – mitten in der Nacht aus dem Kinderzimmer, ohne jede Spur, ohne jeden Hinweis. Dies bewegt Anita immer wieder: Was ist mit Katie geschehen? Ist sie entführt worden? Ist sie tot? Ist der Täter noch in der Nähe? Wird er wiederkommen? Gemeinsam machen sich Kyle, Denis und Anita während des Sommers auf die Suche nach stillgelegten Minen und vergessenen Gruben unterhalb von London. Und je weiter der Sommer voranschreitet, je tiefer diese merkwürdige Freundschaft wird, desto bedrohlicher und gefährlicher wird es, denn es ist klar, dass es da noch ein Geheimnis gibt. „Als der Sommer in jenem Jahr zu Ende ging, waren drei von uns tot.“ Mit diesen Worten, diesem ersten Satz schickt Camilla Way ihre Leser auf die staubigen glühenden Straßen Londons im heißen Sommer 1986. Geschildert wird das Geschehen aus der Perspektive Anitas, die sieben Jahre später die Ereignisse berichtet. Nicht das stylische, coole London ist es, das das junge Mädchen damals kennengelernt hat, sondern die bröckelnden Strukturen dahinter, die Schrottplätze und dreckigen Tunnel, die stinkende Themse, die glühendheißen Straßen zwischen heruntergekommenen Häusern. Way beschwört alte Kindheitserinnerungen herauf – endlos öde Sommerferien, erfüllt von stickiger Hitze und Langeweile. Die fürchterliche Welt der Dreizehnjährigen, in der die Bedrohung durch brutale Mitschüler beklemmende Realität ist, in der es keinen Ausweg gibt, eine Welt, die von Scham und Sprachlosigkeit geprägt ist, in der Erwachsene keinen Halt mehr bieten – und es im Fall von Anita, Kyle und Dennis auch nicht können, denn die Kinder erwartet in ihren Familien nur Desinteresse und Überforderung. Was zu einem zähen sozialpädagogischen Roman über das Aufwachsen in zerrütteten Familien hätte werden können, ist zum Glück ganz anders gelungen: Denn ohne jeden Betroffenheitsschmalz schildert Camilla Way durch die Augen ihrer Protagonistin, wie die Suche nach Kontakt, wie der Versuch, aus der Isolation auszubrechen, in eine Katastrophe führen kann. Und dies in letztlich unerwarteter Weise, sehr mitnehmend und sehr verstörend.
Camilla Way: Schwarzer Sommer. Psychothriller |
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