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8. Dezember 2010 | Kirsten Reimers für satt.org |
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5701 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Geisterdisko in Laos
Der laotische Pathologe – genauer sagt: der einzige Pathologe in ganz Laos – Dr. Siri Paiboun und seine wirklich bezaubernde Assistentin Dtui werden im Jahr 1977 in die Provinz Houaphan nach Vieng Xai gerufen: Aus einem Betonweg, der ausgerechnet zum hiesigen Anwesen des Präsidenten führt, ragt ein mumifizierter Arm. Schuld daran ist ein Steinschlag: Die Villa des laotischen Staatsoberhaupts liegt vor einer der Höhlen, in denen sich die Anhänger der kommunistischen Partei während des Vietnamkrieges verbargen. Von hier aus organisierten sie den Widerstand und den Befreiungskampf. Tausende lebten hier, und es existierte eine regelrechte Stadt in den Höhlen unter den Karsten. Diese hatten jedem Bombenangriff der USA standgehalten, selbst dem Streuteppich der Fünfhundert-Kilo-Bomben gegen Ende des Krieges. Doch mitunter zeigen sich Folgen erst Jahre später: Aus einem der Karste hat sich jüngst ein Felsbrocken gelöst und beim Herunterkrachen den Betonweg zerschmettert. Einer der Risse gab die Leiche frei. Das ist besonders unschön, weil in wenigen Tagen die Creme de la creme der laotischen und der vietnamesischen Politiker hier in Vieng Xai eintreffen wird, Delegationen weiterer sozialistischer Bruderländer werden erwartet. Kein Wunder, dass Dr. Siri möglichst schnell zu einem Ergebnis kommen soll, möchte man doch vor den hochverehrten Gästen möglichst makellos dastehen. Laos im Jahr 1977: Die Monarchie ist gestürzt, die Besatzungsmächte wurden vertrieben, der Krieg ist vorbei, und die sozialistische Partei hat die Regierung übernommen. De facto heißt das aber: Die kapitalistischen Unterdrücker wurden durch kommunistische Unterdrücker ersetzt, und Laos ist ganz dem Wohlwollen Vietnams ausgeliefert. Autor Colin Cotterill – in London geboren und seit Jahrzehnten im asiatischen Raum reisend und lebend – zeigt Laos in all seiner Zerrissenheit: Während in der Stadt und in den Verwaltungsbehörden sozialistische Rationalität, Bürokratismus, Vetternwirtschaft und blinder Parteigehorsam regieren, blüht in den kleinen Dörfern weiterhin der Animismus: Die Umwelt ist belebt, Menschen sprechen in Zungen, und Schamanen erlösen – glücklich berauscht von allerlei Substanzen – gefangene Seelen. Ist in Eliot Pattisons Tibet-Krimis das Übernatürliche eine Möglichkeit, präsentiert es sich in Cotterills Romanen als Tatsache. Dafür sorgt allein schon Dr. Siri. Der ist im Grunde vom Marxismus vollkommen überzeugt, doch mit der tatsächlichen Umsetzung alles andere als einverstanden. Deshalb hat er sich – obzwar seit Jahren Mitglied der sozialistischen Partei – schon lange aus der aktiven Politik zurückgezogen. Stattdessen unterläuft er mit Gewitztheit und aus Mitgefühl die bürokratischen Strukturen. In der Figur des einzigen laotischen Pathologen steht dem strikt agnostischen System das Übernatürliche in schön abstruser Form entgegen. Denn der Wissenschaftler beziehungsweise sein Körper beherbergt den Geist eines alten Hmong-Schamanen. Das weiß Siri erst seit kurzem, es erklärt ihm aber endlich seine Begegnungen mit Verstorbenen, deren Geister ihn schon seit langem im Traum erschienen. In der letzten Zeit jedoch ist der alte Schamane aktiver geworden und hat den Unmut der bösen Waldgeister geweckt. Naturgemäß steht Siri dabei in der Schusslinie. Die Geisterwelt ist aber nicht nur hübsche Dekoration, sondern hilft Dr. Siri handfest bei der Aufklärung von Verbrechen. So auch diesmal, als der 73-jährige Pathologe, der eigentlich völlig unmusikalisch ist, vom Geist eines toten, aber sehr leidenschaftlichen Kubaners besetzt wird, der ihn nicht nur dazu bringt, rhythmisch mit den Fingern zu schnippen, sondern auch zu einem mitternächtlichen Tanz zu Diskomusik verführt. Alles passt bei Cotterill gekonnt zusammen, die Handlungsstränge sind wohlüberlegt geformt und mit so sicherer Hand miteinander verwoben, dass sich selbst das Absurdeste noch leichtfüßig-elegant und vollkommen natürlich einfügt. Die Verbrechen werden zwar mit deutlicher Unterstützung der Geister gelöst, doch ihre Gründe wurzeln fraglos im Diesseits. Sehr britisch versieht Cotterill seinen Roman mit untergründigem Witz und großer Sympathie für Underdogs (der real praktizierte Sozialismus mag nicht das Gelbe vom Ei sein, aber das vorherige Regime war alles andere als human). So ist der Krimi wundervoll versponnen und sehr charmant-verschroben, ohne auch nur einen Hauch esoterisch zu sein. Und ganz nebenbei entsteht das Porträt eines Landes, das abseits der Weltöffentlichkeit aus strategischen Gründen Spielball der politischen Systeme geworden ist. |
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