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15. August 2009 | Kirsten Reimers für satt.org |
3401 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Der ganz normale Wahnsinn Aberdeen: Hafenanlagen und Ölindustrie; eine Stadt aus Granit, der golden aufglänzt, wenn die Sonne darauf trifft. Aber meistens regnet es. Zumindest in den Büchern von Stuart MacBride. Grau in Grau verschwimmen die Konturen, wo der Himmel anfängt, das Meer endet – wer hat schon die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Bestimmt nicht Detective Sergeant Logan McRae, den MacBride als seine zentrale Figur durch die kalte, düstere, windige Stadt in Schottland scheucht. Im dritten Band um den DS – »Der erste Tropfen Blut«, im Original »Broken Skin« – wird McRae angesetzt auf den Tod eines jungen Mannes, der schwer verwundet vor der Notaufnahme des Krankenhauses aus einem Auto gestoßen wurde. Falls das eine Rettungsaktion war, kam sie zu spät: Kurz darauf erliegt der Mann seinen Verletzungen, die vermutlich von einem überdimensionierten Dildo herrühren. Aus dem Ruder gelaufener Sex mit Todesfolge? Die Spuren führen in die SM-Szene (Erkennungszeichen der Mitglieder in Aberdeen: ein Krimi von Ian Rankin) und in die Pornofilmindustrie (aber: nur Filme mit Anspruch) – doch immer wieder versanden sie auch einfach nur im Leeren. Police Constable Jackie Watson, mit der McRae inzwischen zusammenlebt, jagt derweil einen brutalen Vergewaltiger, der seine Opfer schwer misshandelt und mit einem Messer verstümmelt. Verdächtigt wird der neue Star des Fußballclubs FC Aberdeen, doch dessen Anwalt gelingt es wiederholt, den Kicker herauszuboxen. Eindeutige Beweise fehlen. Außerdem ist da noch ein achtjähriger Junge, der nicht mehr zu bändigen ist: Mit einer Gruppe von Gleichaltrigen zieht er durch die Stadt, begeht Straftaten und überfällt in einem Einkaufszentrum eine schwangere Frau. Einen Rentner, der sich dazwischen wirft, tötet der Junge. Auf seiner Flucht verletzt er außerdem eine Polizistin lebensgefährlich. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in diesem nassen und kalten Frühjahr in Aberdeen geschieht. Die Perspektive von Stuart MacBrides Krimiserie liegt nicht wie so oft auf den oberen Rängen der Polizei, auf den Superintendents oder den Detective Chief Inspectors, sondern auf denen, die ihnen zuarbeiten: Im Mittelpunkt stehen die Sergeants und Constables, die zwischen den Vorgesetzten aufgerieben werden, ausgenutzt und ohne Entscheidungsspielraum zu den ungeliebten Schmutz- und Laufarbeiten verdammt. Überarbeitet, unterbesetzt und mit völlig veraltetem Equipment können die Polizisten dem Verbrechen nur hilflos und ohnmächtig hinterher hecheln. Zu systematischer Ermittlungsarbeit bleibt kaum Zeit: zu groß ist der Druck von oben und von außen, zu zahlreich die Fälle, zu dünn die Personaldecke, zu erbittert die Konkurrenz untereinander. Und zu ausgeprägt die Inkompetenz. Da bleibt es nicht aus, dass Fehler passieren, manchmal auch tödliche. Helden sucht man hier in allen Diensträngen vergeblich. Stattdessen trifft man auf schräge und bizarre Typen, die versuchen, irgendwie mit dem täglichen Wahnsinn und der allgegenwärtigen Frustration zurechtzukommen. McRaes direkte Vorgesetzte DI Roberta Steel und DI David Insch steuern auf je individuelle Weise dem gesundheitlichen Kollaps entgegen: Steel, dauerfluchend und mit einer Frisur, als sei ein Pelztier auf ihrem Kopf explodiert, indem sie Kette raucht; Insch, fett und cholerisch, indem er ununterbrochen Süßigkeiten in sich hineinstopft. Die Kollegen schließen Wetten darauf ab, ob er bis zum Ende der Woche jemanden zusammenschlagen oder einen Herzinfarkt erleiden wird. McRaes Freundin Watson kompensiert ihre Hilflosigkeit mit Alkohol und Schlägereien und schreckt schließlich auch nicht vor Selbstjustiz zurück. Innerhalb dieser am Rande des Wahnsinns dahinstolpernden Gestalten gehört DS McRae zu den überlegteren und besonneneren. Einer muss es ja sein. Es gelingt ihm sogar, die Lösung der Fälle voranzutreiben, obwohl er von seinen Vorgesetzten ausgebeutet und herumgestoßen wird. Freie Tage kennt er kaum noch. Und hat McRae dann doch endlich einmal Feierabend, muss er DI Inschs grottenschlechte Laienschauspieltruppe bewundern oder mit DI Steel einen trinken gehen. Überhaupt wird derart viel getrunken und im Hamsterrad auf der Stelle gehetzt, dass man nach Zuschlagen des Buches das Gefühl hat, in den nächsten Tagen mehr schlafen und mit dem Alkohol etwas kürzer treten zu müssen. Denn die Bücher von MacBride entwickeln einen eigenartigen Sog: Sie nehmen völlig gefangen und halten den Leser dennoch auf Distanz. Sie sind lebendig und fesselnd, und gleichzeitig werden Figuren und Situationen derart überzeichnet und ins Groteske verlängert, dass jede unkritische Nähe implodiert. Erschrecken, Grauen und großes Amüsement fallen punktgenau zusammen. Vor Ekel weiß man nicht, wohin mit dem Lachen, und vor Lachen nicht, wie mit dem Entsetzen umgehen. Wahnwitz beschreibt nur annähernd, was da passiert. Das Tempo ist hoch, obwohl nur wenig passiert, da die Ermittlungen auf der Stelle treten, aber Ereignis jagt Ereignis, und hinterdrein die Polizisten, die zwischen Übermüdung und Verkaterung dem Geschehen nachtaumeln. Die Bücher von Stuart MacBride sind durchdrungen von einem tiefschwarzen und (keineswegs bitteren, sondern) lustvollen Humor mit Begeisterung fürs schreiend komische absurde Detail. In dieser Überzogenheit steckt mehr Wahrheitsgehalt und Intelligenz, mehr treffende Beschreibung des Lebens in neoliberalen Zeiten, als jede (vermeintlich) objektive Berichterstattung je liefern könnte. MacBrides Krimis sind genaue Darstellung und scharfzüngiger Kommentar unserer Gegenwart, denen nichts heilig ist, die alles und doch nichts ernst nehmen, am wenigsten sich selbst. Das zeigt auch der aktuell auf Deutsch erschienene vierte Kriminalroman der Serie: »Blut und Knochen«, im Original »Flesh House«. Ein Serienkiller erschüttert Aberdeen in seinen Grundfesten: »Der Fleischer«, wie er genannt wird, war schon vor mehreren Jahren aktiv und schlägt nun wieder zu. Er schlachtet seine Opfer fachmännisch, verarbeitet die Überreste kunstgerecht zu handelsüblichen Produkten und Portionen und schleust sie in die Nahrungsmittelkette ein: über den Schlachthof und den Großmarkt in die Metzgertheke. Entdeckt wird dies durch Zufall – ein Brustwarzenpiercing gehört nicht zur Grundausstattung von Schweinen, und auch mit Tattoos verwöhnen die Bauern selten ihre Tiere. (Jetzt nicht über das letzte Wurstbrot nachdenken.) Ein Serienmörder wie aus dem Lehrbuch, »Das Schweigen der Lämmer« winkt im Hintergrund, ebenso Walter Satterthwaits »Perfection« (deutsch: »Scherenschnitte«). Mit deren Killern teilt der Fleischer die Vorliebe für mollige Opfer, wenn auch aus anderen Gründen. MacBrides Schlachter ist kein Feingeist oder Ästhet. Er ist Handwerker. Allerdings mit Sinn für Ironie: Zur blutigen Metzgerschürze trägt er eine Maggie-Thatcher-Maske. MacBride forscht nicht umständlich in den Psychen seiner Figuren nach ihren Motivationen. Und doch ist verstehbar, warum wer auf welche Weise handelt, kaum anders kann. Ohne den Wahnwitz und die groteske Verzerrung wäre dies oft nicht auszuhalten. Das merkt man an den wenigen Szenen, in denen die Überzeichnung minimal zurückgenommen wird: In ihnen bricht eine ohnmächtige Verzweiflung hervor, die einem beim Lesen den Atem nimmt. Doch zum Glück ist in der nächsten Wendung der Irrsinn als Puffer und intellektueller Filter wieder da. Daran zeigt sich, wie bewusst mehrbödig MacBride vorgeht. Bis zur Perfektion sind seine Romane ebenso Polizei- wie Serienmörderkrimis. Sie erfüllen jede Voraussetzung, spielen zusätzlich mit Horror- und Splatter-Elementen. Zur gleichen Zeit aber unterläuft der Autor dies ebenso perfekt mit absurdem Witz, sodass die Romane eine Parodie auf die unterschiedlichen Spielarten des Krimis und auf sich selbst sind. Hervorragend überdreht, den Aberwitz des Alltäglichen wie Unglaublichen einfangend und in Worte bannend, die wiederum Kaskaden von Bildern auslösen.
Stuart MacBride: Der erste Tropfen Blut |
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